Lese­tipp Nr. 1: Die Kapi­ta­lis­mus­kritik, die keine ist

Das Lamm macht Ferien. Bis zum 30. August gönnen wir uns eine Auszeit. Aber wir sind nicht ganz weg! Hier teilen Redakteur:innen ihre Sommer­lek­türe mit euch. Erster Tipp auf der Lese­liste: „Die Legende von den Strip­pen­zie­hern“ von Peter Bierl. 

Als zu Beginn der Pandemie Menschen gegen die Coro­na­mass­nahmen auf die Strasse gingen, hinter­liess ihre Zusam­men­set­zung einen kuriosen Eindruck: Ökoaktivist:innen Schulter an Schulter mit rechten Influen­cern, Antikapitalist:innen neben Wutbürger:innen, Esoteriker:innen zusammen mit Verschwörungsgläubigen.

Doch die Zusam­men­set­zung der Proteste ist nahe­lie­gender, als sie auf den ersten Blick scheint. In seinem Buch Die Legende von den Strip­pen­zie­hern: Verschwö­rungs­denken im Zeit­alter des Wasser­manns analy­siert der Jour­na­list Peter Bierl den ideo­lo­gi­schen Boden, auf dem diese Menschen zusammenfanden.

Dabei geht es dem Autor nicht um ein Sozio­gramm der Demo­teil­neh­menden und auch nicht darum, ihre Behaup­tungen zu wider­legen. Statt­dessen geht der Text der Frage nach: Wie funk­tio­niert das Denk­ge­rüst derer, die gegen „Plan­demie“ und „Gesund­heits­dik­tatur“ wettern?

Das Heft ist eine Hand­rei­chung an all jene, die sich während der vergan­genen 16 Monate beim Nach­rich­ten­schauen oder in Diskus­sionen mit Freund:innen und Familie des Öfteren an den Kopf fassen mussten vor Verwunderung.

Das von Katha­rina Kulen­kampff illu­strierte Heft verspricht nicht nur intel­lek­tu­ellen, sondern auch visu­ellen Genuss. Es erschien in der Reihe Maro­Hefte des MaroVerlags.

Bierl steigt ein mit leiser Kritik an Iden­ti­täts­po­litik und ihrer „post­mo­dernen Belie­big­keit“, in der ein Stand­punkt immer subjektiv und daher alle Meinungen und Wahr­neh­mungen gleich viel wert sind. Das passt gut zur Forde­rung vieler Querdenker:innen, auch Wissenschaftler:innen zu Wort kommen zu lassen, die dem wissen­schaft­li­chen Konsens zur Pandemie widersprechen.

Der Kern der Ausfüh­rung aber ist die Analyse eines „Extre­mismus der Mitte“. Die Menschen, die in Zürich, Berlin, Liestal und Stutt­gart zu Tausenden auf die Strasse gingen, sind keine Wider­stän­digen, obwohl sie sich selbst als „Rebellen“ bezeichnen. Trotzdem hat sich in weiten Teilen dieser selbst­er­nannten „gesell­schaft­li­chen Mitte“ eine Ableh­nung gegen zentrale Merk­male des Kapi­ta­lismus fest­ge­setzt: Auf den Demon­stra­tionen wird gegen profit­gie­rige Phar­ma­kon­zerne, mäch­tige Milli­ar­däre und Lobby­ismus gewet­tert. Anselm Lenz, Heraus­geber der Quer­den­ken­zei­tung Demo­kra­ti­scher Wider­stand spricht auch gerne vom „Zusam­men­bruch des Finanz­markt­ka­pi­ta­lismus“, der kurz bevorstehe.

Es kommt deshalb nicht von unge­fähr, dass die Teil­neh­menden der Quer­den­ken­pro­teste in Deutsch­land zum Teil dieselben sind, die schon an den Frie­dens­mahn­wa­chen, bei den Occupy-Demos  oder an den Prote­sten gegen das Frei­han­dels­ab­kommen mit den USA (TTIP) teil­ge­nommen hatten. Diese Menschen sind unzu­frieden mit gewissen Konse­quenzen des aktu­ellen Wirtschaftssystems.

Nur geht es in der Kritik der entspre­chenden Proteste nicht darum, zu verstehen, wie Kapi­tal­ver­wer­tung funk­tio­niert und warum sie mit Ausbeu­tung von Menschen und Natur einher­geht. Es geht nicht darum, zu verstehen, warum Bill Gates reich ist oder weshalb Phar­ma­firmen finan­ziell von einer Pandemie profi­tieren können. Eine solche Analyse im Sinne von Marx käme zum Schluss: Ein Konzern­chef muss um jeden Preis Profit machen, wenn er nicht unter­gehen will, nicht, weil er ein ethisch frag­wür­diger Mensch ist. So funk­tio­niert Kapitalismus.

Quer­den­kende hingegen sehen nur: „Die da oben“ handeln unmo­ra­lisch, sie gehören ausgetauscht.

Bierl bringt diese Haltung auf den Punkt, wenn er schreibt, es „werden Entwick­lungen, die mit kapi­ta­li­sti­schen Mecha­nismen zu erklären sind, als unlau­tere Machen­schaften von Strip­pen­zie­hern hinter der Bühne miss­ver­standen“. Es handelt sich um eine Kapi­ta­lis­mus­kritik, die eigent­lich keine ist.

Dass die durch und durch bürger­li­chen Teil­neh­menden der Quer­den­ken­pro­teste gerade nicht an den Grund­fe­sten des Kapi­ta­lismus rütteln wollen, ist nach Bierls Lektüre einleuch­tend: Zu sehr sind sie selbst Teil davon. Oder wie Bierl es poin­tiert formu­liert: „Das Unheil ist fest verwur­zelt in dem, was der Mitte heilig ist: den Eigen­tums­ver­hält­nissen und dem Markt.“ Lieber schieben sie die Schuld auf die „Strip­pen­zieher“.

Und schon sind wir mitten im Verschwörungsglauben.

Vorzugs­weise werden als Abzieh­bilder des Bösen Banker, Speku­lanten und „Börsianer“ insze­niert, „die sich para­sitär an einer idea­li­sierten Real­wirt­schaft mästen würden, in der fleis­sige Unternehmer:innen und ihre Mitarbeiter:innen für das Gemein­wohl werkeln“, so Bierl. Die anti­se­mi­ti­sche Schlag­seite solcher Über­zeu­gungen muss nicht ausfor­mu­liert werden.

Damit ist auch ange­deutet, wozu die Quer­denken-Ideo­logie führen kann: Verschwö­rungs­glaube und Aufstand der soge­nannten „Mitte“ laufen immer Gefahr, ins Auto­ri­täre, ins Faschi­sti­sche zu kippen. Die von rechten Agitator:innen erfun­denen „Proto­kolle der Weisen von Zion“ etwa leisteten dem Nazi­re­gime Vorschub. Bürger­liche Parteien, gewalt­tä­tige Schlä­ger­trupps und die aufge­brachte Masse verhalfen der NSDAP zu ihrem Aufstieg. Die Konjunktur der Verschwö­rungs­theo­rien sei daher eine „auto­ri­täre Regres­sion“, so Bierl.

Bierl geht nicht nur mit Schwurb­lern und Rechten hart ins Gericht, sondern auch mit denen, die Rechte bekämpfen, die eine „offene Gesell­schaft“ feiern. Denn sie meinen damit immer noch eine Klas­sen­ge­sell­schaft, wie Bierl fest­stellt, ohne diesen Umstand grund­le­gend zu bekämpfen. Er schreibt: „Längst hat die Verschwö­rungs­ideo­logie jene ergriffen, die kruden Impe­ria­lis­mus­theo­rien anhängen, bloss Finanz­ma­gnaten ins Visier nehmen oder vermeint­lich multi­na­tio­nale Konzerne, die zwar ihren Geschäften in vielen Ländern nach­gehen, aber im Regel­fall von einem natio­nalen Kapital domi­niert werden.“

Der Text seziert mit scharfer Klinge ein unüber­sicht­li­ches und wider­sprüch­li­ches Phänomen. Anstatt schnelle Schlüsse zu ziehen und zu asso­zi­ieren, ordnet er ein, stellt heraus, unter­füt­tert, argu­men­tiert. Und macht damit genau das, was die Quer­denken-Prote­stie­renden nicht tun.

Die analy­ti­sche Präzi­sion ist vorbild­lich. Wenn an Haus­mauern „eat the rich“ steht oder die Juso eine Rhetorik der „99 Prozent“ bemüht, um eine Steu­er­initia­tive zu bewerben, ist Diffe­ren­zie­rung nämlich drin­gend nötig.

Peter Bierl und Katha­rina Kulen­kampff: Die Legende von den Strip­pen­zie­hern. Verschwö­rungs­denken im Zeit­alter des Wasser­manns. Ein ideo­lo­gie­kri­ti­sches Heft. Maro­Verlag, 2021.

Ähnliche Artikel