Manchmal braucht es die Hilfe eines Anderen, um die eigene Vergangenheit zu begreifen. In Jacinta Nandis Fall ist dieser Andere nicht etwa Psychotherapeut oder Biografin, sondern Detektiv. Und zwar nicht irgendeiner: Es soll Agatha Christies Detektiv Hercules Poirot sein, der Nandis Verbündeter wird, um sich in ihrer eigenen Biografie auf die Suche nach Antworten zu begeben.
Nandi wurde 1980 in London geboren. Als zwanzigjährige Frau zog sie nach Berlin und mit 23 Jahren wurde sie das erste Mal schwanger. Was es heisst, in einem fremden Land ohne familiäre Unterstützung zu leben – noch dazu in einem, das nicht gerade für gelebte Herzlichkeit steht – wurde ihr spätestens zu diesem Zeitpunkt schmerzlich bewusst, wie sie im Buch anschaulich beschreibt.
Von der Überforderung als frischgebackene Eltern über den Druck rund ums Stillen bis hin zum Zwischenstopp im Frauenhaus – Nandi beschönigt nichts. Im Gegenteil. Sie schafft es mit ihrer humoristischen und selbstkritischen Sichtweise, die Position einer Beobachterin einzunehmen, die das Geschehene analysiert und zu verstehen versucht.
„Ich glaube nicht, dass Männer nur Täter sind und Frauen nur Opfer. Aber ich glaube, dass der Grund, weshalb so viele männliche Partner ihre Partnerinnen so scheisse behandeln, der ist, dass sie nicht glauben können, dass ihre Frauen sie je verlassen werden. Es ist so leicht für Männer, ihre Frauen scheisse zu behandeln, weil es so schwer ist für Frauen, sie zu verlassen.“
Divorce Barbie und Unterhaltszahlungen
Von der Vergangenheit, die mit detektivischer Präzision erforscht werden muss, springt das Buch in die Gegenwart. Die Bühne: der Alltag einer alleinerziehenden Mutter in Berlin-Lichtenrade. Nandi steckt irgendwo zwischen verpassten Terminverschiebungen, Kostüm basteln und dem Gefühl, einfach „Nie genug zu sein“.
Beim Treffen mit ihren Freund*innen kann Nandi dieser alltäglichen Sisyphusarbeit entfliehen. Sie dienen ihr als Ventil und Inspirationsquelle zugleich. Ein „Safe Space“, bei dem an einem Glas Sekt nippend, Pizza essend oder gemeinsam TV-Serien schauend übers Leben hergezogen und hemmungslos über Freund*innen und andere Mütter getratscht werden kann.
In diesem Austausch wird klar: Zieht man an der schön drapierten Schlaufe, die die Gesellschaft rundum alleinerziehende Mütter gebunden hat, plumpsen Päckchen der Stigmatisierung, der Gewalt, der Unterdrückung und der Armut heraus. Und weil Rausgefallenes wieder reinzustopfen echt mühsam ist, wählt Nandi den einfacheren Weg. Sie frühstückt eins nach dem anderen ab, angefangen bei „Divorce Barbie“.
Die Realitäten von Alleinerziehenden sehen sehr unterschiedlich aus, sie lassen sich nicht alle über einen Kamm scheren. Das macht Nandi anhand der Geschichte ihrer Freund*innen klar. Von Vätern, die sich an der Erziehung und der Arbeit beteiligen über Familien, die die Mutter unterstützen, bis hin zu denen, die alles allein stemmen.
Eine „Divorce Barbie“ ist allerdings keine der Freundinnen. Diese fiktive geschiedene Superfrau, die sich alles von ihrem Ex-Mann Ken unter den Nagel gerissen hat und nun ein Leben in Saus und Braus führt. „Divorce Barbie“ ist sowohl die Antwort auf den Witz: „Welche Barbie hat die meisten Sachen?“ als auch Assoziation rund um Geschiedene und Alleinerziehende. Fakt ist, alleinerziehend geht Hand in Hand mit Armut. Dies belegt die Studie der Wissenschaftlerin und Professorin Anne Lenze, die Nandi ihrem Text beigefügt hat.
„Wenn es eine Divorce Barbie gäbe, hätte sie kaputte Schuhe, Alditüten und Mahnungen als Ausstattung.“
Statt Mitgefühl und Solidarität füllen Mitleid und gut gemeinte Ratschläge die Konversationen rund ums Alleinerziehen und Verlassen. Während Väter stets gut genug sind, kann eine Mutter den Erwartungen niemals gerecht werden. Als gäbe es zweierlei Mass. Vergisst beispielsweise der Vater einen Termin, wird dieser kurzerhand als unwichtig relativiert. Im Arbeitsstress können schliesslich Dinge untergehen. Und wenn er sich an einen Termin doch erinnert, so hat er sich gleich einen Ruf als liebevoller und am Leben des Kindes teilnehmenden Elternteils verdient, so Nandi.
Die Mutter, die Care‑, Haus- und Erwerbsarbeit unter einem Hut zu bringen versucht, strengt sich hingegen einfach nicht genug an. Das schlägt sich etwa im Kontakt mit einer Hortbetreuerin nieder. Als einer ihrer Söhne auffälliges Verhalten an den Tag legt, wird dieses beim Einzelgespräch mit Nandis Trennung vom Kindesvater erklärt. Beim nächsten Gesprächstermin mit der Anwesenheit beider Elternteile hingegen legen sich die Vorwürfe und die schmutzigen Kleider sind das einzige Problem. Der Text kommt zum Schluss: Alle Bemühungen und Anstrengungen einer Mutter zählen nicht oder gelten als Selbstverständlichkeit.
„In a patriarchal society, fatherhood is a hobby, motherhood functions more like a prison. – Zawn Villines“
Das Verlassen eines Partners ist nicht nur eine Angelegenheit des Herzens – sondern vor allem eine bürokratische. Auf ihrem Weg zur Trennung vom Vater ihrer Kinder brauchte Nandi viel Hilfe, wie sie im Buch beschreibt. Diese erhielt sie zwar unter anderem vom Sozialamt, von der Frauen- und von der Rechtsberatung. An anderen Stellen hingegen liess sie der Sozialstaat allein: etwa bei der Beschaffung eines Wohnberechtigungsscheins. Nandi setzt dem unzureichenden und überbürokratischen System Alternativen entgegen – manchmal wirken sie utopisch.
Eine dieser Utopien: Väter, die keinen Unterhalt mehr zahlen wollen, sollen von jeglicher Verantwortung befreit werden und keinem Zwang unterliegen. Denn, so Nandis Ansicht, es sei unzumutbar und gefährlich, sie in das Leben der Kinder zu involvieren. Stattdessen sollte der Staat in diesem Falle stellvertretend für die Unterhaltszahlungen aufkommen. Ebenso sollten Kitakosten für Alleinerziehende mit niedrigem Einkommen ganz entfallen. Es sollte zudem, so lautet ein weiterer Policy-Vorschlag der Autorin, eine Art „Bildungsgutscheine“ geben, die für Musikunterricht oder Ähnliches ausgehändigt werden.
Sie steht hinter Amber Heard
Zum Ende hin widmet sich das Buch dem Thema der sexuellen Gewalt. Jede zweite Frau hat bereits Formen sexueller Gewalt erfahren. Doch den Frauen, die diese Taten an die Öffentlichkeit tragen, schlägt Skepsis, Wut, Erniedrigung und Verharmlosung entgegen. Ein Paradebeispiel dafür: der Fall Amber Heard. Die Schauspielerin Heard bezichtigte ihren Ex-Mann und ebenfalls Schauspieler Johnny Depp der häuslichen Gewalt und des sexuellen Missbrauches.
Er wiederum bezichtige sie der Lüge und des Rufmordes und konterte mit einer Verleumdungsklage. Eine Gegenklage seitens Amber folgte. Sechs Wochen zogen sich die Gerichtsverhandlungen, aus denen Johnny Depp als klarer Sieger hervorging. Alle Anklagepunkte bezüglich der psychischen und physischen Gewalt wurden vom Gericht abgeschmettert und Depp nur wegen Verleumdung seitens seines Anwaltes schuldig gesprochen. Er wurde zu Schadensersatz verurteilt, Amber ebenso. Für Nandi steht ausser Frage – sie positioniert sich klar hinter Heard.
„Denn […] was Männer nicht wahrhaben möchten: Für mich, für uns ist Amber Heard deswegen so glaubwürdig, weil ich so viele Frauen wie sie kenne. Für mich, glaube ich, ist das Schlimmste an Ambers Geschichte, das Überzeugendste, das Plausibelste und das Berührendste, nicht der Glamour, sondern die Normalität.“
Umso ernüchternder, als Nandi einen Fall aus ihrem eigenen Freundeskreis schildert, bei dem sie selbst Zeugin wurde und nicht eingriff. Nandi reflektiert ihr Verhalten, doch gleicht ihre Schilderung zeitweise dem Versuch, sich von der Schuld freizusprechen. Ihr Nicht-Eingreifen führt sie auf ihren alkoholisierten Zustand sowie möglicher Gefühle der Eifersucht zurück. Zu einer Anzeige kam es nie.
Laut Nandi hätte eine Anzeige bloss mit Amandas Erniedrigung geendet. Nandi prangert an, dass die Gewalttäter, die als solche entlarvt wurden, Frauen zum Schweigen bringen wollen. Deshalb sei es ein Tabu, sich in der Öffentlichkeit über sexuelle Gewalt auszusprechen. Gleichzeitig steht sie im geschilderten Fall nach Abwägen des möglichen Ausgangs hinter ihrer Entscheidung zu schweigen. Es ist einer der wenigen Widersprüche im Buch.
Das Buch mag provokant, vielleicht sogar verbittert scheinen und man mag nicht in allen Punkten mit der Autorin übereinstimmen, doch nach der Lektüre kann man die Perspektiven und Meinungen der Autorin nachvollziehen. Nandi lädt dazu ein, das Leben Alleinerziehender und deren Wünsche kennenzulernen und sich in sie hineinzuversetzen. Zudem erinnert uns das Buch daran, als Individuen und als Gesellschaft genauer hinzuschauen, sexuelle Gewalt klar als solche zu benennen und sich mit ihren Konsequenzen auseinanderzusetzen.
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