Das Lamm: Am 1. Juni 2024 ruft das Kollektiv Kritische Lehrpersonen (krilp), zu dem du gehörst, in Zürich zu einer Bildungsdemo auf. Worum geht es euch?
Sonia Grob*: Wir wollen die Belastung für alle Beteiligten des Schulsystems abbauen. Darauf zielen alle unsere Forderungen ab. Wir setzen uns ein für mehr Zeit und Ressourcen, die im Schulalltag an allen Enden fehlen. Es geht uns um die Arbeitsbedingungen der Angestellten – aber auch um die Bildung der Schüler*innen und die Belastung der Eltern.
Wie lauten eure Forderungen genau?
Wir fordern zum Beispiel, dass Schulklassen auf allen Stufen kleiner werden. Die überfüllten Klassenzimmer schaden allen Beteiligten. Auch für die Zusammenarbeit unter den Mitarbeitenden verlangen wir mehr Zeit, denn die Schule wird immer komplexer.
Mit dem Modell Tagesschule sollen zum Beispiel die ebenfalls stark belastete Betreuung und die Lehrpersonen noch viel enger zusammenarbeiten. Es fehlen aber Gefässe innerhalb des Schulalltags für den notwendigen Austausch untereinander. Es wird so getan, als würde Zusammenarbeit alles leichter machen – aber die Koordination unter uns Kolleg*innen müssen wir oft zusätzlich leisten, meistens nach Feierabend.
Im Vergleich mit der Schule vor zwanzig Jahren sind Lehrpersonen heute für einen viel grösseren Arbeitsbereich zuständig. Werden die Pensen von Schulsozialarbeiter*innen weggespart, erhöht dies die Belastung von Lehrpersonen. Das Gleiche gilt für den schulpsychologischen Dienst.
Das ist typisch für Care-Arbeit: Fehlen die Gelder, macht es jemand unbezahlt, denn man kann sie nicht einfach nicht machen. Momentan werden aber, wenn überhaupt, nur schlecht bezahlte Formen der Unterstützung gefördert. Die Schulklassen sind riesig, die Lehrpersonen überlastet, dafür werden immer mehr pädagogisch nicht ausgebildete und deutlich schlechter bezahlte Klassenassistenzen angestellt. Von dieser Pflästerli-Politik haben wir genug. Wir brauchen einen grundlegenden Ausbau von Förderressourcen.
Es finden am gleichen Tag auch in Hamburg und Berlin Demonstrationen für eine „Bildungswende“ statt. Wie hängen diese Bewegungen zusammen?
Es ist kein Zufall, dass diese Arbeitskämpfe auch ausserhalb der Schweiz geführt werden. Es ist ein systemisches Problem, dass der Gesundheits- und Sozialbereich chronisch abgewertet wird, dass er seit Jahrzehnten kaputtgespart wird und Arbeiter*innen sowie Empfänger*innen der Care-Arbeit die Kosten dafür tragen müssen.
Du bist Teil des Zürcher Kollektivs krilp, das die Demo hier in Zürich mitorganisiert. Wer steckt hinter diesem Kürzel?
Wir sind ein Kollektiv aus Personen, die im Schulsystem arbeiten oder in einer pädagogischen Ausbildung sind. Wir sind eine durchmischte Gruppe: von Lehrpersonen aus allen Stufen über Heilpädagog*innen bis Klassenassistenzen. Gemeinsam setzen wir uns für eine Schule ein, die möglichst gewalt- und diskriminierungsfrei ist, die Chancenungerechtigkeit benennt und aktiv dagegenwirkt und die Belastung für alle Akteur*innen im Schulsystem abbaut.
Das Kollektiv Kritische Lehrpersonen (kollektiv krilp) wurde nach dem feministischen Streik 2019 in Zürich gegründet. Darin engagieren sich verschiedene Schulakteur*innen, die sich mit dem Bildungssystem und ihrer Rolle darin beschäftigen und gegen die Belastung von Lehrpersonen, Schüler*innen und Eltern ankämpfen.
Das Kollektiv trifft sich monatlich zu offenen Sitzungen. Daneben gibt es Arbeitsgruppen zu Themen wie Bildungsgerechtigkeit, Feminismus, Sexualpädagogik, Antirassismus und Arbeitsbedingungen.
Wo legt ihr den Fokus in eurer politischen Arbeit?
Unser Aktivismus ist ziemlich vielfältig. Wir machen inhaltliche Öffentlichkeitsarbeit zu Arbeitsbedingungen und diskriminierungssensiblem Unterricht, erstellen und sammeln aber auch gemeinsam Bildungsinhalte, die unseren Überzeugungen entsprechen.
Wir sind immer wieder in direktem Kontakt mit externen Organisationen, die Workshops an Schulen anbieten – zum Beispiel im sexualpädagogischen Bereich – und versuchen, sie für gewisse Themen zu sensibilisieren. Aber auch eine Ludothek, die Spiele mit problematischen Inhalten vermietete, konnten wir dazu bewegen, diese aus dem Sortiment zu nehmen. Und jetzt organisieren wir eine Demonstration.
Ihr setzt euch als Kollektiv nicht nur für bessere Arbeitsbedingungen ein, sondern für eine radikale Veränderung des Bildungssystems. Seid ihr auch deshalb nicht einfach in einer etablierten Gewerkschaft organisiert?
Wir arbeiten als krilp durchaus mit der Gewerkschaft zusammen, auch in der aktuellen Kampagne. Aber ja – ein grosser Unterschied zwischen unserem Kollektiv und der Gewerkschaft ist, dass wir uns anders mit der Politik hinter dem Bildungssystem auseinandersetzen wollen.
Für viele von uns ist krilp für ein Gefäss für emotionale Unterstützung. Das ist wichtig, weil man im Berufsalltag oft das Gefühl hat, mit Kritik allein dazustehen. Diesen Frust wollen wir auffangen und kollektivieren.
Unser Kollektiv hat den Anspruch, Systemkritik zu üben. Deshalb wollen und können wir unsere Forderungen ganz anders stellen als eine etablierte Gewerkschaft, wir sind freier. Wir sehen es nicht als unsere Aufgabe, pfannenfertige Lösungen und die dazu passenden Verträge zu präsentieren.
Gerade wenn es um Lehrpersonenmangel geht, wird man oft gedrängt: „Wie zur Hölle wollt ihr das denn umsetzen? Ihr fordert kleinere Klassen, dabei gibt es sowieso schon zu wenig Leute!“ Wir wollen unbedingt darüber reden, wie und wieso wir überhaupt erst in diese Misere geraten sind. Die Verantwortung für die konkrete Umsetzung in Gesamtarbeitsverträgen und Co. sehen wir bei den Gewerkschaften.
Inwiefern seid ihr freier als die Gewerkschaften?
Wir können etwa breitere Forderungen stellen. Zum Beispiel thematisieren wir, dass auch Kinder im Asylwesen einen Anspruch auf qualitativ hochstehende Bildung haben und setzen uns für angemessene Räumlichkeiten und einen kindgerechten Wandel des Asylwesens ein. Wir sehen hier riesige Missstände, die mit der gleichen Politik ewiger Sparmassnahmen direkt zusammenhängen, aber über den klassischen Forderungskatalog eines gewerkschaftlichen Arbeitskampfes hinausgehen.
Wie erreicht ihr Leute?
Es war uns in Hinblick auf diese Demo ein grosses Anliegen, aus unserer Bubble und in die Schulhäuser hineinzukommen. Über Flyer, Mailverteiler und Personalvertretungen der Schulen haben wir mobilisiert. Wir haben versucht, zu möglichst vielen Schulhäusern direkt Kontakt aufzunehmen. Dabei sind wir aber schnell auf Widerstände aus der Politik gestossen. Man liess uns spüren, dass unsere Mobilisierung überhaupt nicht erwünscht ist.
Du willst dieses Interview nicht unter Klarnamen geben, weil du sonst mit Repression rechnen musst. Hängt das damit zusammen?
Genau. Kurz nachdem wir die ersten Flyer in die Schulhäuser schickten, wurden alle Schulleitungen von Filippo Leutenegger, dem Vorsteher des Bildungsdepartements, kontaktiert. Ihnen wurde mitgeteilt, dass die Flyer nicht aufgelegt oder digital verbreitet werden dürfen. Unter anderem, weil wir keine eingetragene Gewerkschaft seien.
Diese Begründung ist aber ziemlich fadenscheinig, weil die Demo von Anfang an mit der Gewerkschaft geplant wurde und der VPOD auf jedem Flyer als offizieller Mitträger genannt ist. Das Signal an die Schulleitungen war dennoch, dass sie breit informieren sollen, dass diese Mobilisierung „nicht rechtens“ sei. Dieses Signal wurde an die Teams weitergeleitet.
Als Angestellte müssen wir daher vorsichtig sein, wie wir uns öffentlich positionieren. Zusätzlich überlegen wir uns als Lehrpersonen auch immer zweimal, wie wir uns gegenüber den Eltern exponieren.
Neben der direkten Repression ist es im Care-Bereich auch aus anderen Gründen schwierig, öffentlich mit einem Arbeitskampf hinzustehen. Als während Covid beispielsweise die Pfleger*innen in den Spitälern gegen die horrenden Bedingungen aufmuckten, wurde ihr Arbeitskampf als den Patient*innen gegenüber rücksichtslos hingestellt. Ist das eine Dynamik, die ihr auch wahrnehmt?
Ich glaube, viele Lehrpersonen haben enormen Respekt davor, überhaupt erst Forderungen zu stellen. Man traut sich nicht, weil gesellschaftlich ein Berufsbild heraufbeschworen wurde, dass man das alles ja gerne macht – für die Kinder. Das macht es schwierig. Wenn du probierst, dir in diesem Beruf heute gesunde Grenzen zu setzen, dann hat das immer den Effekt, dass kurzfristig das Bedürfnis eines anderen Menschen, in diesem Fall das der Schüler*innen oder Teammitglieder, zu kurz kommt. Man steckt immer wieder in dieser gedanklichen Zwickmühle, dann nicht genug zu „caren“. Es braucht viel Überzeugung und Mut, sich aus dieser Zwickmühle zu befreien.
Das Credo, man mache seinen Beruf ja gerne, weil man ihn für die Kinder macht, erinnert mich an den Satz „Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit.“ Damit kritisierten Feministinnen schon in den 70ern, dass Sorgearbeit im Kapitalismus von Frauen gratis oder unterbezahlt gemacht werden muss. Erkennst du dich darin wieder?
Und wie. Weil wir das alle so internalisiert haben, ist es unglaublich schwierig, für sich selbst Grenzen zu setzen und zu realisieren, dass es nicht normal sein darf, dass man sich für den Job so aufopfern muss. Dass es nicht in Ordnung ist, wenn man konstant zwischen einem Burn-out und den Bedürfnissen der Schüler*innen abwägen muss. Es braucht echt viel, bis man merkt, dass da immer die Gesundheit der Care-Empfänger*innen gegen die eigene ausgespielt wird.
Trotz all dieser Schwierigkeiten sah der Care-Bereich in den letzten Jahren unzählige Arbeitskämpfe…
Ja, endlich! Aber es ist bezeichnend, dass es in den Schulen so lange gedauert hat – obwohl die Missstände nicht neu sind. Alle Kritik, die wir heute formulieren, galt schon vor 15 Jahren.
Dass es so lange dauerte, bis Leute laut werden, hat auf diesem Sektor viel mit der medialen Inszenierung unseres Berufes zu tun. Lehrpersonen müssen gegen das Narrativ ankämpfen, einen überprivilegierten Schoggijob zu haben: „Die Lehrpersonen mit ihrem 13 Wochen Ferien – und dann jammern sie noch.“ Die jammernde Lehrperson ist eine konstruierte Figur, die einen Effekt auf die öffentliche Meinung hat. Ich finde es faszinierend, wie viele Leute sich auch deswegen nicht wehren; aus Angst, nicht ernst genommen zu werden – auch wenn sie schon lange checken, dass etwas nicht richtig läuft.
Auch die Art, wie die meisten Medien über die Schwierigkeiten in unserem Beruf schreiben, macht politische Mobilisierungen schwieriger. Konstant werden Akteur*innen gegeneinander ausgespielt: Einmal sind es die Eltern, die Lehrpersonen verklagen und ihnen das Leben schwer machen. Ein andermal müssen Kinder, die ins Schulsystem integriert werden, hinhalten und werden als Belastung hingestellt, die Lehrpersonen ausbrennen. Das ganze gegeneinander ausspielen der Beteiligten überschattet das System dahinter total. Es wird dann – oft vermischt mit diskriminierenden Narrativen – zum Beispiel die gescheiterte inklusive Schule betrauert, anstatt darüber zu reden, dass man nicht die notwendigen Ressourcen bereitstellt, um Kinder und Lehrpersonen aufzufangen.
Die Lösungen, die medial präsentiert werden, sind dann ernsthaft, dass gewisse Kinder aus der Schule müssen – und nicht, dass mehr Heilpädagog*innen an den Schulen eingestellt werden. Das ist absurd.
Gegen dieses Ausspielen verschiedener Bedürfnisse wehrt sich auch eure Kampagne. Passend dazu richtet sich auch der Aufruf zur Bildungsdemo nicht nur an Lehrpersonen – und auch nicht nur an Personen, die im Schulsystem arbeiten.
Die Kampagne richtet sich an alle Leute, die für gute Bildung einstehen wollen – also auch an die Eltern der Kinder, die jetzt in überfüllten Klassen zu kurz kommen. Wir erhoffen uns gegenseitige Solidarität, indem wir immer wieder aufzeigen, dass wir alle das gleiche Ziel verfolgen: ein Bildungssystem, das dafür sorgt, dass alle Kinder gesund und unbelastet zu ihrer Grundbildung kommen. Das wiederum verlangt, dass sie von gesunden und nicht überlasteten Lehrpersonen unterrichtet werden.
Ich selbst sehe Schulen als wichtiges Gesellschaftsorgan. Lässt man dieses Organ kaputt gehen, reichen die Konsequenzen tief in die Gesellschaft. Deswegen geht uns Bildung alle etwas an. Wir setzen in unseren Forderungen nicht immer nur die Lehrperson ins Zentrum – in der Hoffnung, möglichst viele Leute für uns zu gewinnen.
Damit unterscheidet ihr euch von „klassischen“ Arbeitskämpfen.
In der Formulierung, ja. Die Forderung nach kleineren Klassengrössen ist da ein gutes Beispiel. Kein Elternteil würde bevorzugen, dass sein Kind in eine möglichst grosse Klasse kommt. Es liegt auf der Hand: Je kleiner eine Klasse, desto mehr Zeit hat die Lehrperson für das einzelne Kind. Gleichzeitig nimmt die Belastung auch aus Sicht der Lehrperson selbstverständlich ab, wenn sie für weniger Kinder gleichzeitig die Verantwortung übernehmen muss. Es ist also spannenderweise oft eine reine Formulierungsfrage, ob ich aus Perspektive des Kindes, der Eltern oder der Lehrperson das Schulsystem kritisiere – am Schluss sind die Forderungen exakt die gleichen. Man wird dann aber ganz anders wahrgenommen.
Wir wurden auch schon weniger ernst genommen, weil wir damit vom Bild des typischen Arbeitskampfs abweichen. Dabei gibt es starke Beispiele von Arbeitskämpfen auf dem Care-Bereich, die gerade wegen eines Zusammenschlusses von Pfleger*innen und Patient*innen erfolgreich waren. Wir sehen da den Weg. Schlussendlich sind alle Arbeitskämpfe davon abhängig, von einer breiten Solidarität getragen zu werde.
Ausserdem gehen doch auch klassische Arbeitskämpfe über konkrete Forderungen an den Arbeitsvertrag hinaus – es soll doch immer um ein gutes Leben für alle gehen.
Schönes Schlusswort. Was steht bei euch nach der Demo an?
Unsere Anliegen reichen über die Demo hinaus. Der nächste Samstag wird sicher wichtig für uns – aber die Kampagne geht weiter. Uns geht es darum, Gespräche und Mut in die Schulhäuser zu bringen. Wir sind eine Berufsgruppe mit relativ wenig Erfahrung in Arbeitskämpfen. Das wollen wir ändern, einen Anstoss geben und Lust auf Widerstand machen. Die Demo ist da ein erster von vielen Schritten.
(*Name von der Redaktion geändert)
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