Gedichte können eine leichte Lektüre sein. Sie nehmen ein bisschen Druckerschwärze zurück und lassen das lichte Weiss durchscheinen. Gedichte sind auch mal schnell gelesen: im Urlaub, im Park, an der Sonne. Gedichte sind sommerlich – und darum sollte jeder Sommer seinen eigenen Gedichtband haben.
Auch dieser, der sich auf so viele Arten und Weisen wehrt, ein echter Sommer zu sein. Ein möglicher Kandidat für den passenden Gedichtband: Juliane Lieberts lieder an das große nichts. Erschienen im Suhrkamp Verlag im Frühling 2021, als das Sauwetter noch nicht abzusehen war.
Die titelgebenden Lieder sind durchgehend in freien Rhythmen gehaltene und damit auf den ersten Blick sehr zeittypische Gedichte, die von ein paar längeren, dann fast prosahaften Texten unterbrochen werden.
Ihre Grundstimmung ist so düster wie einer der vielen wolkenverhangenen Regentage der vergangenen Wochen:
wer gab der sonne ihren namen tod
wer nannte dich so
fragt ein Vers – und bringt den ganzen Band auf den Punkt. Die Autorin schreibt nicht, um Licht auf eine Sache, einen Gegenstand zu werfen, nicht für eine erhellende Erkenntnis. Im Gegenteil: Liebert tastet schreibend nach den dunklen Seiten im Leben, dem Tod und der Krankheit. Andere Gedichte kreisen um den frühen Verlust der Eltern und den Suizid des Bruders.
Düstere Themen sind das. In kurze, lakonische Sätze gepackt, die aber nie versuchen, den Inhalt selbst zu verdunkeln. Die Sprache bleibt klar und ausdrucksstark, sodass man den Gedichten gerne bis in die finstersten Ecken des Daseins folgt. An keiner Stelle verlieren sie sich im Lamentieren oder in ausgestellter Trauer. Vielmehr feiern sie das Dunkle und die darin steckende Verzweiflung als Grundlage einer Politik der Freiheit:
das große nichts ist hier und bruder stalin ein lügner
was weiß ich, woran man noch glauben kann?
die große verzweiflung hat mich, und ich hätte lieber kippen
ich hätte lieber kippen als alles andere auf der welt
Das grosse Nichts, an das sich alle Lieder richten, ist wahrhaftig nichts: kein Thema, kein Inhalt, kein Licht – wenn man so will, die Dunkelheit, frei von Wahrheit und Erkenntnis. Aber gleichzeitig ist es auch nicht nichts, im Sinne von impotent und schwach, sondern beinahe allmächtig. Denn es entlarvt alle, die sonst gerne mit der Wahrheit um sich werfen, als Lügner. Stalin – der Politiker schlechthin, der sich selbst für die Wahrheit hielt – ist nichts, wenn er lügt.
In dieser glaubensfernen Dunkelheit, die jedes utopische Denken erstickt, funkeln die Kippen wie eine letzte Verheissung: Wer an gar nichts mehr glaubt, kann sich zumindest zurücklehnen, in Ruhe eine rauchen und aus der Ruhe heraus die Lügenden durchschauen.
Das mag keine besondere Erkenntnis sein. Es ist mehr ein Gefühl, das sich beim Lesen einstellt; aber es ist ein Gefühl, das auf diesen Sommer, der mit Wolken, Gewitter, Überschwemmung von allen Seiten erdrückt und erstickt, kaum besser passen könnte. Es nimmt dem Ganzen seine Schwere und setzt dagegen die Gelassenheit einer Autorin, die es nicht nötig hat, an ein Licht am Ende des Tunnels zu glauben.
Wer ihr auf diesem Weg folgt, wird mit der inneren Ruhe belohnt, die es braucht, um in dieser durchgeknallten Zeit gerade nichts zu tun, stattdessen einfach einmal liegen zu bleiben. Vielleicht nicht so wie in einem gewöhnlichen Sommer: am Strand in der Sonne, aber doch irgendwie endgültig entspannt. Zum Beispiel wie Nikolai Gogol in seinem Grab, der lebendig beerdigt wurde und schliesslich doch noch starb:
lebendig begraben tot
gruben sie dich wieder aus
oder ein namenloser Fremder am Strassenrand, der von alleine nicht mehr stehen will:
gestern fanden wir einen der
lag mit dem gesicht nach unten
auf der straße machten ihn wach
lehnten ihn an die wand
oder wie ein Mann namens mankovich, wahrscheinlich angelehnt an Herman J. Mankiewicz, den Drehbuchautor von Citizen Kane, der sein Meisterwerk über Wochen im Bett verfasste, ohne einmal aufzustehen:
[…] mankovich
saß im Wintermantel im Bett
Und dann, unbedingt erwähnenswert, ein Gedicht an Marianne Faithfull, Schauspielerin, Musikerin und inspirierende Figur für die Aufstände um 1968. Bei Juliane Liebert schafft auch sie es kaum mehr aus dem Bett:
auf ihrem bett in paris marianne
mit gebrochener hand: zwei ringe
am finger […]
in ihrem doppelbett, in ihrer betthälfte, auf dem rücken
Selbst aus der Pop- und Rockrevolutionärin Faithfull ist alle Unruhe gewichen. Was bleibt, ist auch hier die Frage nach der letzten Kippe – ein bisschen Nikotin, ein bisschen giftiger Genuss:
[…] sie bittet darum
das nikotinpflaster auf ihrem Arm abzumachen
„unter der bluse darling“
damit sie eine rauchen kann
Die lieder an das große nichts verbeugen sich vor Menschen, die den Mut hatten, im entscheidenden Moment nichts zu tun und einfach liegen zu bleiben. Aber in der Verbeugung steckt keine Resignation, keine Kapitulation vor den Verhältnissen. Sie ist Anerkennung der stolzen Gelassenheit, mit der sich die Protagonist:innen auch in finsteren Zeiten das Recht nicht nehmen liessen, einfach zu sein. Am Ende stand – wir wissen es, und darum müssen es die Gedichte nicht nochmal sagen – in jedem Fall ein grosses Werk: Gogol schuf Weltliteratur, Mankiewicz einen der berühmtesten Filme aller Zeiten – und Faithfull? Sie sorgte für die nötige Unruhe am Anfang einer Revolution.
Die lieder an das große nichts laden ein, es ihnen gleichzutun: liegen bleiben bis es knallt, künstlerisch, politisch, wer weiss? Und das macht sie zum perfekten Gedichtband für einen Sommer ohne Sonne mit immer noch anhaltender Pandemie: lieber nicht rausgehen, nicht wegfahren, nichts Grosses vornehmen, einfach liegen bleiben. Mit dem Buch in der Hand. Und dann: Wer weiss… steht am Ende vielleicht die Revolution.