Lese­tipp Nr. 2: Liegen bleiben bis es knallt

Das Lamm macht Ferien. Bis zum 30. August gönnen wir uns eine Auszeit. Aber wir sind nicht ganz weg! Hier teilen Redakteur:innen ihre Sommer­lek­türe mit euch. Zweiter Tipp auf der Lese­liste: „lieder an das große nichts“ von Juliane Liebert. 

Gedichte können eine leichte Lektüre sein. Sie nehmen ein biss­chen Drucker­schwärze zurück und lassen das lichte Weiss durch­scheinen. Gedichte sind auch mal schnell gelesen: im Urlaub, im Park, an der Sonne. Gedichte sind sommer­lich – und darum sollte jeder Sommer seinen eigenen Gedicht­band haben.

Auch dieser, der sich auf so viele Arten und Weisen wehrt, ein echter Sommer zu sein. Ein mögli­cher Kandidat für den passenden Gedicht­band: Juliane Lieberts lieder an das große nichts. Erschienen im Suhr­kamp Verlag im Früh­ling 2021, als das Sauwetter noch nicht abzu­sehen war.

Die titel­ge­benden Lieder sind durch­ge­hend in freien Rhythmen gehal­tene und damit auf den ersten Blick sehr zeit­ty­pi­sche Gedichte, die von ein paar längeren, dann fast prosa­haften Texten unter­bro­chen werden.

Ihre Grund­stim­mung ist so düster wie einer der vielen wolken­ver­han­genen Regen­tage der vergan­genen Wochen:

wer gab der sonne ihren namen tod
wer nannte dich so

fragt ein Vers – und bringt den ganzen Band auf den Punkt. Die Autorin schreibt nicht, um Licht auf eine Sache, einen Gegen­stand zu werfen, nicht für eine erhel­lende Erkenntnis. Im Gegen­teil: Liebert tastet schrei­bend nach den dunklen Seiten im Leben, dem Tod und der Krank­heit. Andere Gedichte kreisen um den frühen Verlust der Eltern und den Suizid des Bruders.

Düstere Themen sind das. In kurze, lako­ni­sche Sätze gepackt, die aber nie versu­chen, den Inhalt selbst zu verdun­keln. Die Sprache bleibt klar und ausdrucks­stark, sodass man den Gedichten gerne bis in die finster­sten Ecken des Daseins folgt. An keiner Stelle verlieren sie sich im Lamen­tieren oder in ausge­stellter Trauer. Viel­mehr feiern sie das Dunkle und die darin steckende Verzweif­lung als Grund­lage einer Politik der Freiheit:

das große nichts ist hier und bruder stalin ein lügner
was weiß ich, woran man noch glauben kann?
die große verzweif­lung hat mich, und ich hätte lieber kippen
ich hätte lieber kippen als alles andere auf der welt

Das grosse Nichts, an das sich alle Lieder richten, ist wahr­haftig nichts: kein Thema, kein Inhalt, kein Licht – wenn man so will, die Dunkel­heit, frei von Wahr­heit und Erkenntnis. Aber gleich­zeitig ist es auch nicht nichts, im Sinne von impo­tent und schwach, sondern beinahe allmächtig. Denn es entlarvt alle, die sonst gerne mit der Wahr­heit um sich werfen, als Lügner. Stalin – der Poli­tiker schlechthin, der sich selbst für die Wahr­heit hielt – ist nichts, wenn er lügt.

In dieser glau­bens­fernen Dunkel­heit, die jedes utopi­sche Denken erstickt, funkeln die Kippen wie eine letzte Verheis­sung: Wer an gar nichts mehr glaubt, kann sich zumin­dest zurück­lehnen, in Ruhe eine rauchen und aus der Ruhe heraus die Lügenden durchschauen.

Das mag keine beson­dere Erkenntnis sein. Es ist mehr ein Gefühl, das sich beim Lesen einstellt; aber es ist ein Gefühl, das auf diesen Sommer, der mit Wolken, Gewitter, Über­schwem­mung von allen Seiten erdrückt und erstickt, kaum besser passen könnte. Es nimmt dem Ganzen seine Schwere und setzt dagegen die Gelas­sen­heit einer Autorin, die es nicht nötig hat, an ein Licht am Ende des Tunnels zu glauben.

Wer ihr auf diesem Weg folgt, wird mit der inneren Ruhe belohnt, die es braucht, um in dieser durch­ge­knallten Zeit gerade nichts zu tun, statt­dessen einfach einmal liegen zu bleiben. Viel­leicht nicht so wie in einem gewöhn­li­chen Sommer: am Strand in der Sonne, aber doch irgendwie endgültig entspannt. Zum Beispiel wie Nikolai Gogol in seinem Grab, der lebendig beer­digt wurde und schliess­lich doch noch starb:

lebendig begraben tot
gruben sie dich wieder aus

oder ein namen­loser Fremder am Stras­sen­rand, der von alleine nicht mehr stehen will:

gestern fanden wir einen der
lag mit dem gesicht nach unten
auf der straße machten ihn wach
lehnten ihn an die wand

oder wie ein Mann namens manko­vich, wahr­schein­lich ange­lehnt an Herman J. Mankie­wicz, den Dreh­buch­autor von Citizen Kane, der sein Meister­werk über Wochen im Bett verfasste, ohne einmal aufzustehen:

[…] manko­vich
saß im Winter­mantel im Bett

Und dann, unbe­dingt erwäh­nens­wert, ein Gedicht an Mari­anne Faithfull, Schau­spie­lerin, Musi­kerin und inspi­rie­rende Figur für die Aufstände um 1968. Bei Juliane Liebert schafft auch sie es kaum mehr aus dem Bett:

auf ihrem bett in paris mari­anne
mit gebro­chener hand: zwei ringe
am finger […]
in ihrem doppel­bett, in ihrer bett­hälfte, auf dem rücken

Selbst aus der Pop- und Rock­re­vo­lu­tio­närin Faithfull ist alle Unruhe gewi­chen. Was bleibt, ist auch hier die Frage nach der letzten Kippe – ein biss­chen Nikotin, ein biss­chen giftiger Genuss:

[…] sie bittet darum
das niko­tin­pfla­ster auf ihrem Arm abzu­ma­chen
„unter der bluse darling“
damit sie eine rauchen kann

Die lieder an das große nichts verbeugen sich vor Menschen, die den Mut hatten, im entschei­denden Moment nichts zu tun und einfach liegen zu bleiben. Aber in der Verbeu­gung steckt keine Resi­gna­tion, keine Kapi­tu­la­tion vor den Verhält­nissen. Sie ist Aner­ken­nung der stolzen Gelas­sen­heit, mit der sich die Protagonist:innen auch in finsteren Zeiten das Recht nicht nehmen liessen, einfach zu sein. Am Ende stand – wir wissen es, und darum müssen es die Gedichte nicht nochmal sagen – in jedem Fall ein grosses Werk: Gogol schuf Welt­li­te­ratur, Mankie­wicz einen der berühm­te­sten Filme aller Zeiten – und Faithfull? Sie sorgte für die nötige Unruhe am Anfang einer Revolution.

Die lieder an das große nichts laden ein, es ihnen gleich­zutun: liegen bleiben bis es knallt, künst­le­risch, poli­tisch, wer weiss? Und das macht sie zum perfekten Gedicht­band für einen Sommer ohne Sonne mit immer noch anhal­tender Pandemie: lieber nicht raus­gehen, nicht wegfahren, nichts Grosses vornehmen, einfach liegen bleiben. Mit dem Buch in der Hand. Und dann: Wer weiss… steht am Ende viel­leicht die Revolution.

Juliane Liebert: lieder an das große nichts. Suhr­kamp Verlag, Berlin 2021

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