Dieser Text ist vor der verheerenden Explosion in Beirut vom Dienstag, dem 4. August, entstanden. Alle mit Namen genannten Personen sind unverletzt. Das Lamm steht in Kontakt mit Aktivist*innen in Beirut und wird über die Lage vor Ort berichten.
„Wir wissen momentan nicht, wohin wir gehen“, sagt Ilham Barjas, Feministin und Aktivistin aus Beirut, über Zoom. „Ich kann die Situation nicht in Worten beschreiben. Es ist extrem schwierig.“ Der wirtschaftliche Zerfall seit Mitte 2019 und die Corona-Pandemie haben den Libanon in seine tiefste Krise seit dem Bürgerkrieg (1975–1990) gestürzt. Seit März 2020 haben sich die Lebensmittelpreise im Libanon beinahe verdreifacht, gleichzeitig hat das Libanesische Pfund rund 80 Prozent seines Werts verloren. Für viele Menschen nimmt die Situation dramatische Züge an: Hunger, Armut, Arbeitslosigkeit, Zunahme der Kriminalität, Perspektivlosigkeit, nur noch wenige Stunden Strom am Tag, dazu steigende Corona-Fallzahlen und neuere Lockdowns. Weder die seit zwei Monaten laufenden Verhandlungen um das beim Internationalen Währungsfonds (IWF) gestellte Gesuch um Finanzhilfen noch die Hilferufe der Regierung nach Finanzspritzen durch die ehemalige Kolonialmacht Frankreich stiessen bisher auf Widerhall.
Daran dürfte sich mittelfristig auch nichts ändern, denn: Solange die seit Januar 2020 amtierende „Technokrat*innen-Regierung“ durch die Beteiligung der von Iran unterstützten schiitischen Hisbollah fortbesteht, werden weder multilaterale Institutionen noch europäische Staaten Finanzhilfe leisten. Am 3. August ist Aussenminister Nasif Hitti von seinem Amt zurückgetreten, weil er der amtierenden Regierung eine Interessenbindung zu den „alten“ Machteliten vorwirft. Er fand für den Zustand des Landes scharfe Worte: Wenn sich die Regierung nicht bald bewege, werde der Libanon als „gescheiterter Staat“ enden. „Das Boot droht mit allen an Bord zu sinken“, sagte Hitti in einer an lokale Medien ausgeteilten Erklärung.
Strukturelle Benachteiligung
Die Krise trifft die Frauen besonders hart, sagt Ilham Barjas. „Frauen sind die am härtesten betroffene Gruppe. Seit der Corona-Krise haben Todesfälle, Krankheit und häusliche Gewalt gegen Frauen zugenommen. Frauen werden vermehrt innerhalb der Familie gewaltsam unterdrückt.“ Zudem seien viele Frauen seit Corona durch die Arbeit und den Haushalt mit einer massiven Doppelbelastung konfrontiert.
Die schlimme Situation der Frauen, verstärkt durch die doppelte Krise aus Coronavirus und Wirtschaftszerfall, ist vor allem auf die nicht vorhandene Trennung von Staat und den patriarchal geprägten Religionen zurückzuführen. Nach dem Ende des Bürgerkriegs wurde ein konfessionelles politisches System eingeführt, welches das Zusammenleben der 18 verschiedenen Religionsgemeinschaften regeln sollte. Weil es aber zu einem religiös geprägten Klientelismus geführt hat, steht es im Libanon schlecht um die Gleichstellung der Frauen. Im jährlich erstellten Gender-Gap-Index des Weltwirtschaftsforums (WEF) steht das Land auf Platz 145 von 153.
„Wir haben 15 verschiedene Gesetze für die Heirat, Scheidung und das Sorgerecht für Kinder. Jede religiöse Gruppe regelt den Umgang mit Frauen für sich, anstatt dass es ein Zivilrecht gäbe, dass die Gleichberechtigung durchsetzen würde“, sagt Jana Nakhal, Feministin und Mitglied der Kommunistischen Partei. Die bestehenden Gesetze über den Familienstand würden verursachen, dass Frauen zwangsverheiratet werden und die Religion des Ehemannes annehmen müssen. In erster Linie würden die Frauen im Libanon darunter leiden, dass sie im Alltag nicht gesetzlich geschützt sind, meint Jana Nakhal. „Es gibt schlicht keinen Schutz, für keine Frau im Libanon – nicht für Libanesinnen, nicht für Nicht-Libanesinnen.“
Die Folge davon ist die permanente Abhängigkeit der Frauen von (Ehe-)Männern. In den vergangenen Monaten trat dies besonders offensichtlich zutage. Derzeit werden sich viele Frauen der über Jahre durchlebten Zwänge wieder bewusst: Zunahme der häuslichen Gewalt (Verdoppelung der Fälle im Monat März), Lohnungleichheit, Entlassungen und die massiven Belastungen bei der Arbeit (80 Prozent des Pflegepersonals sind weiblich).
Zudem werden immer mehr der nach offiziellen Angaben 250’000 Gastarbeiter*innen, die schon vor der Wirtschaftskrise mit widrigen Arbeitsbedingungen in Haushalten konfrontiert waren, entlassen und landen mittellos auf der Strasse. Viele von ihnen sind über das „Kafala-System“ beschäftigt – ein im Nahen Osten verbreitetes Regelwerk, das den Aufenthaltsstatus an ein geltendes Arbeitsverhältnis koppelt, bei dessen einseitiger Auflösung durch die Arbeitergeber*innen die Ausweisung aus dem Land erfolgt. Diese Frauen werden besonders übel ausgebeutet, sagt Jana Nakhal: „Diese Sparte der Frauen leidet unter der Ausbeutung des patriarchalen Systems. Sie sind Geflüchtete aus Syrien und Palästina, Arbeitsmigrantinnen aus Afrika.“ Hinzu kämen verschiedene Formen von Rassismus, welchen die Frauen ausgesetzt sind.
Eine Bewegung der Frauen und LGBTIQ
Eines der grundlegenden Probleme der Frauen im Libanon nach dem Bürgerkrieg seien die fehlenden Diskussionsplattformen, sagt Jana Nakhal. Die seit dem 17. Oktober 2019 aufbegehrende Protestbewegung habe sich deshalb von Beginn an auch der feministischen Frage gewidmet und Diskussionsrunden organisiert: „Die heutige feministische Bewegung entstammt linken Zirkeln, Grassroot-Bewegungen. Sie organisiert Lesungen mit feministischer Weltliteratur, vor allem aus der Dritten Welt. Wir versuchen, unser eigenes levantisch-libanesisch-syrisch-palästinensisch-maghrebinisch-ägyptisch-tunesisches Verständnis von Feminismus aufzubauen.“ Zusätzlich sei die Bewegung daran, eine feministische Relektüre religiöser Texte vorzunehmen, um den patriarchalen Ursprung der im Libanon vorherrschenden Religionen zu thematisieren.
„Ich hatte zwei feministische Diskussionsabende in Al-Abdeh im Norden vom Libanon und Aley“, erzählt Jana Nakhal. „Einer nur mit Frauen, der andere mit Frauen und Männern. Es war unglaublich, wie einige dieser Frauen vor allen anderen aufgestanden sind und ihre Ehemänner schonungslos damit konfrontierten, wie sie sind… Dass sie uns zuhause gleich behandeln sollten, wie sie es draussen vorgeben, dass sie sich um die Kinder kümmern sollten und so weiter.“
Auch innerhalb der Bewegung brauchte es Debatten um das Geschlechterverhältnis und ihre Aufgaben innerhalb des Aufstands. Seither haben die Frauen verschiedene Rollen in der Protestbewegung eingenommen. „Zuerst vor allem zum Schutz der Demonstrant*innen bei Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften oder Mitgliedern von Hisbollah oder Harakat Amal“, sagt Ilham Barjas. „Danach haben Frauen die Initiative übernommen, um zu sprechen. Die Forderungen der Proteste decken sich mit unseren feministischen Forderungen.“ Die Proteste mobilisierten über Wochen Hunderttausende Menschen im ganzen Libanon und führten zum Sturz des Premierministers Saad Hariri und im Januar 2020 zur Neubildung der „Technokrat*innen-Regierung“ unter der Beteiligung von sieben Frauen.
Hinzu kommt, dass die Bewegung LGBTIQ-Menschen eine Stimme geben konnte. Bis heute ist rechtlich nicht abschliessend geklärt, ob Homosexualität einer strafbaren Handlung gleichkommt. „LGBTIQ-Menschen sind mit so vielen Problemen konfrontiert“, sagt Ilham Barjas. „Es ist schwierig für sie, Arbeit zu finden und sie werden von der Polizei diskriminiert. Diese kontrolliert ihre Telefone, um Bilder zu finden, die auf LGBTIQ-Identität hinweisen. Oft werden sie verhaftet.“ Die Bewegung habe massgeblich dazu beigetragen, dass die alltäglichen Probleme der LGBTIQ-Community offengelegt wurden und über diese Themen in der Öffentlichkeit gesprochen wird.
Rückgrat des Protests
Doch die feministische Bewegung thematisiert nicht nur Probleme. Seit Beginn der Proteste stellt sie auch konkrete Forderungen an die politische Führungsschicht: Abschaffung der Gesetze über den Familienstand, konsequentes Vorgehen gegen sexuelle Belästigung und Vergewaltigung, mehr Frauen in politischen Ämtern, die Einbindung von Frauen in politische Entscheidungsprozesse und ein Vorgehen zur Überwindung patriarchaler Diskurse.
„Es ist faszinierend, was Frauen tun, welche Kraft sie aufbringen können“, sagt Jana Nakhal. „Vor allem, wenn ich Frauen sehe, die aus einem weniger privilegierten Umfeld stammen als wir hier in Beirut. Frauen, die in den Zelten der Intifada arbeiten, die den Protest in die Regionen tragen. Eigentlich haben Frauen das schon immer getan.“ Neu sei das offensive Auftreten der Frauen, die nun von sich sagen, dass sie das Rückgrat des Protestes seien. „Die Frauen stehen nicht mehr nur im Hintergrund hinter der Polizei und sagen nichts. Wir stehen zuvorderst und zeigen, dass wir die Initiator*innen der Proteste sind. Wir sind das Fundament der Zelte. Hört auf uns! Nehmt uns ernst!“
Entscheidend für die Protestbewegung wird sein, ob die Frauen ihre Kraft wieder auf die Strasse zurückbringen können. Corona und die zerfallende Wirtschaft haben die Proteste vorerst zurückgedrängt. Sie benötigen wieder einen inneren Ruck, um sich neu zu entflammen. Um die Menschen wieder rauszubringen und das krisenbedingte Vakuum auf der Strasse zu füllen. Auf dem Weg aus der düsteren Situation hin zu einem neuen Libanon werden die Frauen taktgebend sein. Für Ilham Barjas, Jana Nakhal und grosse Teile der Protestbewegung ist eines klar: Einen sozial gerechten, solidarischen und von Korruption und Machteliten befreiten Libanon wird es nur mit einem konsequenten Feminismus geben.
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