Triggerwarnung: sexualisierte Gewalt, Essstörung
Wenn dir Schokolade von einer fremden Person angeboten wird, sollst du nicht mitgehen. Wenn ein unbekanntes Auto neben dir hält, sollst du in die entgegengesetzte Richtung rennen. So wird es dir beigebracht.
Dir wird beigebracht, dass du auf dem nächtlichen Nachhauseweg deine Schlüssel in der Hand halten solltest – als Waffe, für den Notfall. Und du kannst zwar deine Kopfhörer aufsetzen, aber Musik soll keine laufen, damit du deine Umgebung wahrnimmst.
Kurz: Du wächst in einer Welt auf, in der du dich, seit du denken kannst, als potenzielles Opfer verstehen und gleichzeitig wissen sollst, wie du dich selbst schützen kannst.
Das alles klingt einfacher, als es ist. Denn all diese vermeintlichen Schutzmassnahmen, die man(n) dir beibringt, werden dich nicht vor der Gewalt im Patriarchat schützen.
Irgendwann an einem Mittwochmittag auf dem Heimweg von der Schule wirst du einem Mann gegenübersitzen, der dich anstarrt. Du wirst dich unwohl fühlen und nicht genau wissen, woran es liegt. Du, ein 13-jähriges Mädchen mit kariertem T‑Shirt und Cupcake-Ohrringen, wirst dich plötzlich als Opfer fühlen, obwohl du alles daran gesetzt hast, dass das nicht passiert.
Plötzlich wird der Mann vor dir sich selbst zwischen die Beine fassen, während er dich anstarrt. Du wirst sehen, was er macht, aber nicht wissen, wie du reagieren sollst. Du wirst erstarren vor Schock. Du wirst nicht weglaufen oder sprechen können.
Du wirst dort sitzen, in diesem Zugabteil mit Blick auf den Zürichsee und die grossen Villen der Goldküste, das Geschehene versuchen an dir vorbeiziehen zu lassen. Der Zug wird an deiner Station halten, du wirst deine Sachen packen und das Abteil verlassen. Du wirst nach Hause gehen, versuchen die Situation im Zug zu vergessen und du wirst während der nächsten neun Jahre mit niemandem über dieses Ereignis sprechen.
Doch du wirst dich immer fragen: „Warum ich? Warum dieses 13-jährige Mädchen mit kariertem Shirt? Warum an diesem Mittwochmittag, auf meinem Heimweg?“.
Antworten auf deine vielen Fragen wirst du nie finden – auch, weil du niemandem davon erzählst. Weil dich das überfordert, weil du dich allein und unsicher fühlst, weil du denkst, dass nur dir solche Sachen passieren. Vor allem aber, weil du den Fehler bei dir suchst. Was an deinem Verhalten und Auftreten hatte das Verhalten dieses Mannes hervorgerufen? Was hast du falsch gemacht?
Mit den Jahren wirst du merken, dass sich solche Ereignisse häufen: unangebrachte Kommentare, unerwünschte Berührungen, Grenzüberschreitungen auf unterschiedlichste Art und Weise. Und jedes Mal wirst du wieder in diese Schockstarre fallen.
Du wirst versuchen, darüber zu sprechen, die Geschehnisse zu thematisieren. Doch es wird schwieriger sein, als du erwartet hast. Du wirst dich allein fühlen, überfordert, in diese Opferrolle gedrängt, die du eigentlich nicht haben möchtest. Du wirst es nicht mögen, allein nach Hause zu laufen, du wirst Panikattacken auf offener Strasse haben, ein gestörtes Verhältnis zum Essen entwickeln.
Auf dich allein gestellt wirst du jegliche Formen der Entspannung und Therapie ausprobieren, um mit den Folgen dieser Übergriffe klarzukommen. Doch immer wieder wirst du dich fragen, warum du dich in diesem Prozess der Heilung und Verarbeitung so missverstanden fühlst. Immer wieder musst du erklären, warum es so schwierig ist, Fortschritte zu machen und offen darüber zu sprechen.
Irgendwann wirst du es satt haben, immer wieder von anderen in die Rolle des Opfers, der vulnerablen Frau, gesteckt zu werden. Du wirst dich feministischen Gruppen anschliessen, dich an Bücher über Feminismus herantasten, Freund:innen von deinen Erlebnissen erzählen. Du wirst mit den richtigen Menschen zum passenden Zeitpunkt über Grenzüberschreitungen sprechen können.
Du wirst dich oft einsam fühlen, aber gewisse Umarmungen und Worte werden dir helfen, deinen Schmerz zu verarbeiten. Denn diese Tränen werden nicht nur bei dir, sondern auch bei anderen fliessen, die deinen Schmerz teilen. Die Tränen werden helfen, euch zu verbinden. Du wirst dich Schritt für Schritt immer mehr öffnen und merken, wie du dir die Macht zurückholst, die dir entzogen wurde. Denn du merkst, dass die Bezeichnung „Opfer“ nicht für immer deine sein muss, wenn du nicht willst.
Indem du verschiedenste FINTA (Frauen, inter, non-binäre, trans, agender Personen) mit unterschiedlichsten Geschichten und Erfahrungen kennenlernst, wirst du dich aufgehoben und verstanden fühlen. Dieses Gemeinschaftsgefühl wird dir endlich Halt und Kraft geben. Du wirst merken, dass du dir solche Grenzüberschreitungen nicht gefallen lassen musst. Du wirst den Mut finden, dagegen anzukämpfen und für dich einzustehen, Geschehnisse nicht mehr zu verleugnen oder zu verheimlichen, sondern darüber zu sprechen.
Liebes 13-jähriges Ich. All das zu wissen, was ich heute weiss, hätte dir damals vielleicht geholfen. Du hättest gewusst, dass es gewisse Menschen gibt, denen du vertrauen kannst – die dir zuhören und dich ernst nehmen. Vielleicht hätte man(n) dir so die nötige Sicherheit geben können, den Fehler nicht bei dir zu suchen. Du hättest früher lernen können, dass die Schuld nicht bei dir liegt, weder an deiner Kleidung, noch an deinem Verhalten. Sondern am patriarchalen System, das (sexualisierte) Gewalt perpetuiert und FINTAs keinen sicheren Rahmen bietet.
Liebes 13-jähriges Ich. Akzeptiere, dass der Heilungsprozess langsam verläuft, und mache dir keine Vorwürfe, wenn du mal wieder das Gefühl hast, keine Fortschritte zu machen. Versuch, ein Sprachrohr zu finden, wo du deine Wut und Enttäuschungen gegenüber diesem System zum Ausdruck bringen kannst. Und auch wenn es düster und hoffnungslos aussieht – gib nicht auf.
Auch wenn du das jetzt noch nicht glaubst: Du wirst anderen das Gefühl des Vertrauens und der Hoffnung geben können. Genau du wirst gemeinsam mit vielen anderen gegen sexualisierte Gewalt kämpfen.
Fühle dich umarmt,
Lou
Louise Alberti studiert Politikwissenschaften und Geschichte und ist feministische Aktivistin. Sie hat die „16 Tage gegen Gewalt an Frauen“ zum Anlass genommen, über ihre Erlebnisse nachzudenken. Sie hat diese Briefform gewählt, um anderen, die Ähnliches erlebt haben, zu zeigen, dass sie nicht allein sind.