Liebes 13-jähriges Ich

Wenn du einen Brief an dein 13-jähriges Selbst schicken könn­test – was würde darin stehen? Louise Alberti wagt einen Versuch anläss­lich des letzten Tages der Aktion „16 Tage gegen Gewalt an Frauen“. 
Die Kampagne "16 Tage gegen Gewalt an Frauen" fokussierte dieses Jahr auf das Thema sexualisierte Gewalt – hier die Lancierungsaktion am 25. November 2021. (Foto: Nathalie Jufer)

Trig­ger­war­nung: sexua­li­sierte Gewalt, Essstörung

Wenn dir Scho­ko­lade von einer fremden Person ange­boten wird, sollst du nicht mitgehen. Wenn ein unbe­kanntes Auto neben dir hält, sollst du in die entge­gen­ge­setzte Rich­tung rennen. So wird es dir beigebracht.

Dir wird beigebracht, dass du auf dem nächt­li­chen Nach­hau­seweg deine Schlüssel in der Hand halten soll­test – als Waffe, für den Notfall. Und du kannst zwar deine Kopf­hörer aufsetzen, aber Musik soll keine laufen, damit du deine Umge­bung wahrnimmst.

Kurz: Du wächst in einer Welt auf, in der du dich, seit du denken kannst, als poten­zi­elles Opfer verstehen und gleich­zeitig wissen sollst, wie du dich selbst schützen kannst.

Das alles klingt einfa­cher, als es ist. Denn all diese vermeint­li­chen Schutz­mass­nahmen, die man(n) dir beibringt, werden dich nicht vor der Gewalt im Patri­ar­chat schützen.

Irgend­wann an einem Mitt­woch­mittag auf dem Heimweg von der Schule wirst du einem Mann gegen­über­sitzen, der dich anstarrt. Du wirst dich unwohl fühlen und nicht genau wissen, woran es liegt. Du, ein 13-jähriges Mädchen mit kariertem T‑Shirt und Cupcake-Ohrringen, wirst dich plötz­lich als Opfer fühlen, obwohl du alles daran gesetzt hast, dass das nicht passiert.

Plötz­lich wird der Mann vor dir sich selbst zwischen die Beine fassen, während er dich anstarrt. Du wirst sehen, was er macht, aber nicht wissen, wie du reagieren sollst. Du wirst erstarren vor Schock. Du wirst nicht weglaufen oder spre­chen können.

Du wirst dort sitzen, in diesem Zugab­teil mit Blick auf den Zürichsee und die grossen Villen der Gold­küste, das Gesche­hene versu­chen an dir vorbei­ziehen zu lassen. Der Zug wird an deiner Station halten, du wirst deine Sachen packen und das Abteil verlassen. Du wirst nach Hause gehen, versu­chen die Situa­tion im Zug zu vergessen und du wirst während der näch­sten neun Jahre mit niemandem über dieses Ereignis sprechen.

Doch du wirst dich immer fragen: „Warum ich? Warum dieses 13-jährige Mädchen mit kariertem Shirt? Warum an diesem Mitt­woch­mittag, auf meinem Heimweg?“.

Antworten auf deine vielen Fragen wirst du nie finden – auch, weil du niemandem davon erzählst. Weil dich das über­for­dert, weil du dich allein und unsi­cher fühlst, weil du denkst, dass nur dir solche Sachen passieren. Vor allem aber, weil du den Fehler bei dir suchst. Was an deinem Verhalten und Auftreten hatte das Verhalten dieses Mannes hervor­ge­rufen? Was hast du falsch gemacht?

Mit den Jahren wirst du merken, dass sich solche Ereig­nisse häufen: unan­ge­brachte Kommen­tare, uner­wünschte Berüh­rungen, Grenz­über­schrei­tungen auf unter­schied­lichste Art und Weise. Und jedes Mal wirst du wieder in diese Schock­starre fallen.

Du wirst versu­chen, darüber zu spre­chen, die Gescheh­nisse zu thema­ti­sieren. Doch es wird schwie­riger sein, als du erwartet hast. Du wirst dich allein fühlen, über­for­dert, in diese Opfer­rolle gedrängt, die du eigent­lich nicht haben möch­test. Du wirst es nicht mögen, allein nach Hause zu laufen, du wirst Panik­at­tacken auf offener Strasse haben, ein gestörtes Verhältnis zum Essen entwickeln.

Auf dich allein gestellt wirst du jegliche Formen der Entspan­nung und Therapie auspro­bieren, um mit den Folgen dieser Über­griffe klar­zu­kommen. Doch immer wieder wirst du dich fragen, warum du dich in diesem Prozess der Heilung und Verar­bei­tung so miss­ver­standen fühlst. Immer wieder musst du erklären, warum es so schwierig ist, Fort­schritte zu machen und offen darüber zu sprechen.

Irgend­wann wirst du es satt haben, immer wieder von anderen in die Rolle des Opfers, der vulner­ablen Frau, gesteckt zu werden. Du wirst dich femi­ni­sti­schen Gruppen anschliessen, dich an Bücher über Femi­nismus heran­ta­sten, Freund:innen von deinen Erleb­nissen erzählen. Du wirst mit den rich­tigen Menschen zum passenden Zeit­punkt über Grenz­über­schrei­tungen spre­chen können.

Du wirst dich oft einsam fühlen, aber gewisse Umar­mungen und Worte werden dir helfen, deinen Schmerz zu verar­beiten. Denn diese Tränen werden nicht nur bei dir, sondern auch bei anderen fliessen, die deinen Schmerz teilen. Die Tränen werden helfen, euch zu verbinden. Du wirst dich Schritt für Schritt immer mehr öffnen und merken, wie du dir die Macht zurück­holst, die dir entzogen wurde. Denn du merkst, dass die Bezeich­nung „Opfer“ nicht für immer deine sein muss, wenn du nicht willst.

Indem du verschie­denste FINTA (Frauen, inter, non-binäre, trans, agender Personen) mit unter­schied­lich­sten Geschichten und Erfah­rungen kennen­lernst, wirst du dich aufge­hoben und verstanden fühlen. Dieses Gemein­schafts­ge­fühl wird dir endlich Halt und Kraft geben. Du wirst merken, dass du dir solche Grenz­über­schrei­tungen nicht gefallen lassen musst. Du wirst den Mut finden, dagegen anzu­kämpfen und für dich einzu­stehen, Gescheh­nisse nicht mehr zu verleugnen oder zu verheim­li­chen, sondern darüber zu sprechen.

Liebes 13-jähriges Ich. All das zu wissen, was ich heute weiss, hätte dir damals viel­leicht geholfen. Du hättest gewusst, dass es gewisse Menschen gibt, denen du vertrauen kannst – die dir zuhören und dich ernst nehmen. Viel­leicht hätte man(n) dir so die nötige Sicher­heit geben können, den Fehler nicht bei dir zu suchen. Du hättest früher lernen können, dass die Schuld nicht bei dir liegt, weder an deiner Klei­dung, noch an deinem Verhalten. Sondern am patri­ar­chalen System, das (sexua­li­sierte) Gewalt perp­etu­iert und FINTAs keinen sicheren Rahmen bietet.

Liebes 13-jähriges Ich. Akzep­tiere, dass der Heilungs­pro­zess langsam verläuft, und mache dir keine Vorwürfe, wenn du mal wieder das Gefühl hast, keine Fort­schritte zu machen. Versuch, ein Sprach­rohr zu finden, wo du deine Wut und Enttäu­schungen gegen­über diesem System zum Ausdruck bringen kannst. Und auch wenn es düster und hoff­nungslos aussieht – gib nicht auf.

Auch wenn du das jetzt noch nicht glaubst: Du wirst anderen das Gefühl des Vertrauens und der Hoff­nung geben können. Genau du wirst gemeinsam mit vielen anderen gegen sexua­li­sierte Gewalt kämpfen.

Fühle dich umarmt,

Lou

Louise Alberti studiert Poli­tik­wis­sen­schaften und Geschichte und ist femi­ni­sti­sche Akti­vi­stin. Sie hat die „16 Tage gegen Gewalt an Frauen“ zum Anlass genommen, über ihre Erleb­nisse nach­zu­denken. Sie hat diese Brief­form gewählt, um anderen, die Ähnli­ches erlebt haben, zu zeigen, dass sie nicht allein sind.

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