Ich soll mir einen Film ansehen: „Madame“. 28. Januar 2020, 17.45 Uhr, Rythalle Solothurn. Fassungsvermögen: 900 Zuschauer*innen. „Die grösste Leinwand der Schweiz, abgesehen von derjenigen vom Filmfestival in Locarno“, wurde mir gesagt.
Rythalle: Die Ansprache hält eine Frau, deren Name ich leider vergessen habe. Sie stellt vor: den Regisseur, Monsieur Stéphane Riethauser himself, und seine Co-Produzentin, Marie-Catherine Theiler. Die beiden stellen Riethausers Film vor: eine Dokumentation über die Beziehung zwischen Stéphane Riethauser und seiner Grossmutter. Hauptmotiv: das Patriarchat, unter dem beide angeblich litten und dem sie sich auf ihre eigene Art und Weise widersetzten. Grand-mère widersetzte sich einer Zwangsehe, machte sich selbstständig und arbeitete sich American-Dream-like von der Coiffeuse zur reichen Textil- und Antiquitätenhändlerin hoch. Le petit-fils Stéphane wuchs in einer privilegierten Familie auf, die ihm jegliche künstlerische Entfaltung ermöglichte und so einiges über Geschlechter – und wie sie sich zueinander zu verhalten haben – beibrachte. Das empfand Riethauser als erdrückend, denn er merkte bald, dass er schwul ist.
Die Veranstaltung leitet Riethauser mit klassischem Kindheitsnarrativ ein: Das Einzige, was er je gewollt habe, seit er ein kleiner „Bub“ gewesen war, sei es, Filme zu machen. Wir verehrten Gäste würden ihm diesen Traum ermöglichen. Der Film sei hier und dort im Ausland gezeigt worden. Alle seien davon geflasht. Offensichtlich, denn man lade ihn jetzt überall hin ein – und es sei so schön, den Film nun auch hier noch zu zeigen. In Solothurn. Es gehe darum, den Film zu teilen, das sei das grosse Gefühl. Aber was sag ich nüchtern „Film“: Es ist sein Werk, dieses ŒUVRE, ein OPUS MAGNUM.
Neben ihm steht die Co-Produzentin des Films, Marie-Catherine. Nach seiner Rede bedankt sie sich für die Zusammenarbeit, da fällt ihr Stéphane ins Wort. Damn it! Er ist ja jetzt 1 woke guy, und das hat er ganz vergessen: sich zu bedanken! Also spricht er nochmal aus, was sie gesagt hat, in platt: „Ohne dich, chère Marie-Catherine, wäre das natürlich nie möglich gewesen, merci bien!“ Stéphane übersetzt das meiste, was er in perfektem Deutsch sagt, auch noch ins Französische, in seine Muttersprache. Ein Charmeur, so gutbürgerlich, polyglott, ein Liebling, ein Künstler, ein schwuler Künstler. Die Crème de la Crème des inhärent androphilen Patriarchats.
„Madame“ zeigt eine schier unendliche Anzahl an filmischen, fotografischen und auditiven Dokumenten des Aufwachsens eines Kindes in der Genfer Bourgeoisie zwischen 1972 bis fast heute. Ursprünglich sollte es ein Film über die Grossmutter sein, verrät uns Stéphane beim Q&A, aber dann stand die Frage im Raum (er habe sie angeblich nicht selber gestellt), wieso es nicht (auch) um ihn gehen solle.
Bien. Was folgt, ist eine Art Effi-Briest-Geschichte. Einfach in cis-weiss-schwul, im Genf der 80er und 90er Jahre und mit patriarchal heroischem Ausgang. Ein grausames Zeugnis rassistischen, sexistischen, misogynen und homophoben Denkens. Ein Produkt von Stéphanes männlicher Sozialisierung, das im letzten Drittel in einer Inszenierung der Figur „Stéphane Riethauser“ als gequältem Helden kulminiert.
Im Film zeigt er sich zunächst als maskulinistischen Hasser, etwa gegenüber Ruth Dreifuss und der Tennisspielerin Marina Navratilova. Er schimpft über Dreifuss in der Zeitung und erklärt, wieso es Frauen als Bundesrätinnen nun wirklich nicht brauche, und er zitiert misogyne und lesbophobe Beschimpfungen im Off, wenn er Navratilova zeigt. Um zu zeigen, wie er über sie dachte und um diese Grausamkeit später dreist damit aufzulösen, dass er, im Guten Ich angekommen, beide wieder zeigt: Ruth Dreifuss schreibt das Vorwort für sein „queeres“ Porträtbuch, mit Navratilova lässt er sich ablichten. Im Film kommentiert er das aus dem Off augenzwinkernd: „Zum Glück wissen sie nicht, wie ich davor über sie schrieb/sprach.“
Monsieur Stéphane Riethauser bestätigt selbst (ich weiss nicht mehr, ob im Film oder im Q&A), dass er, weil er schwul sei, überhaupt erst realisiert habe, dass es Diskriminierung gibt. Ich schliesse daraus: „Wenn du nicht schwul wärst, wärst du einfach noch ignoranter geblieben.“ Bravo! Kaum war dann diese Erkenntnis, diskriminiert zu werden, gewonnen, war seine neue Public Identity geschaffen: Er wurde Aktivist. Man sieht ihn im Film engagierte soziopolitische Artikel schreiben (die seine Oma zuerst nicht lässig findet). Man sieht ihn Fernsehinterviews geben. Man sieht ihn in einer Studi-Organisation einer renommierten Genfer Universität. Vorsitzender sein und Reden halten, Diskussionen zu Homosexualität führen. Okay, nice. Aber eben was, wenn du nie schwul gewesen wärst? Und was ist mit der bediensteten Italienerin deiner Grossmutter, die man zwei Mal für ca. drei Sekunden in deinem Film sieht, der sonst nur von reichen Leuten und ihrer Heteronormativität handelt?
Dass Stéphane empfänglich für die Gefühle und Realitäten seiner Mitmenschen wäre, stellt er mit einer unfassbaren Klimax kurz vor seinem Outing im Film selbst in Abrede, als er die Geschichte einer Jugendromanze erzählt. Damals war Stéphane in Danièl verliebt. Er war der erste junge Mann, dem er begegnete, der sensibel war und dem Gesellschaftsdruck einer performativen Männlichkeit trotzte. Danièl schildert Stéphane nach mehreren gemeinsam verbrachten Tagen in einem Jugendlager unter Tränen, dass er es nicht mehr ertrage, dass ihm gegenüber alle ihre Last und Gefühle abluden.
Da brach der unter fragiler Maskulinität leidende Protagonist, Stéphane himself, ebenfalls in Tränen aus und entschied den Moment für sich selbst. Er illustriert die Situation erst mit Bildern vom Jugendlager und kommentiert im Off. Im Moment seiner eigenen, überhandnehmenden Affektivität sind im Bild zu sehen: Lava speiende Vulkane, dramatisch aufgeladene eruptive Naturelemente. Unfassbar, denke ich mir. UNFASSBAR! Dieser besch*** rich-kid-white-cis-woke-guy schafft es wirklich, wirklich!, ohne mit einer reflektierten Wimper zu zucken, diese Situation zu seiner eigenen zu machen. Zu seinem eigenen Tränenerguss. Worum und wie’s Danièl ging: egal.
UN-FASSBAR!
Ein ganz persönlicher Trigger: Ich wurde bei Geburt dem weiblichen Geschlecht zugewiesen und kann mich aber nicht damit identifizieren, das war auch in meiner Kindheit präsent und von schmerzhaften Ausschlüssen begleitet. Dem privilégié petit Riethauser beim Heran- und Hineinwachsen in eine hegemoniale Männlichkeit zuzusehen – auch wenn er sie zu einem späteren Zeitpunkt gewissermassen aufbricht und sein eigenes Leiden unter dem Patriarchat artikuliert – tut mir ernsthaft weh. Genau solche Jungs waren und sind eine Qual für Menschen, die dem weiblichen Geschlecht zugewiesen wurden. Ich will nicht sagen, dass es für heterosexuelle cis-Frauen weniger schlimm ist, aber ich kann sagen: dass mir Zugänge, Narrative und sehr viel Gewalt durch eben diese heranwachsenden Männlichkeiten verwehrt bzw. angetan wurden, insbesondere weil ich sie nicht in ihrer Männlichkeit spiegeln wollte. Schade, dass Riethauser konsequent dem Motto „Show, don’t tell“ folgt, denn damit tabuisiert Stéphane Diskriminierung nicht, er zelebriert sie provokativ, er benennt sie aus Lust an der Gewalt selbst. Das macht ihn für mich zu einer Stütze des Systems, einem Heuchler und einem ignoranten Narzissten sondergleichen.
Es ist aber gemeinhin das, was ihn sympathisch macht: Er bleibt ein Asi, er solidarisiert sich mit deren Sprache, er reflektiert nur oberflächlich, er ordnet ein, was man heutzutage aus der Distanz mit einem bildungsbürgerlichen Hintergrund und einer Neigung zu aktualisierter Identität eben machen muss: Ich bin ein Mann, ich habe Privilegien, ich denke wie ein Arsch, aber ich versuche jetzt mal einfach weniger so zu handeln. Aber wenn ich das zum Thema mache und mich in meiner zeitgenössischen Reflektiertheit zu diesen neuen feministischen Zeiten immer noch verkaufen kann, dann tue ich das eben auch. „Moderne Männlichkeit“: eine nivellierte Selbstlüge des Patriarchats. Insbesondere als schwuler weisser cis-Typ. Weil du stehst ja in der Regel immer noch für alle queeren Menschen stellvertretend, so dominant ist dein bedrohter Typus.
Im Q&A nach dem Film gibt sich Riethauser reflektiert. Er sagt: Ich war Opfer, aber ich war auch Täter. Ja. Und das bist du immer noch: Genau dieses angewandte Präteritum in deiner Aussage disqualifiziert deine angebliche Einsicht.
Diese Filmkritik ist paradox. Sie ist sehr gewaltvoll. Ich weiss, sie ist genau das, was sie Stéphane vorwirft: Sie reagiert mit Gewalt auf Gewalt. Vielleicht entschuldigt das Stéphanes Film, denn ich muss sagen: Ich konnte nicht anders.
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