„Man darf auch mal fluchen!“

Der Lock­down soll sowohl uns wie auch unser gesell­schaft­li­ches System schützen. Doch was macht diese Situa­tion psychisch mit uns? Ein Inter­view mit der Psycho­the­ra­peutin Denise Ineichen. 

Das Lamm: Jetzt während der Corona-Krise sind wir intensiv mit unserer physi­schen Gesund­heit beschäf­tigt. Aber wie beein­flusst die momen­tane Situa­tion eigent­lich unsere Psyche?

Denise Inei­chen: Ich merke schon, dass viele mit Verun­si­che­rung und Ängsten zu kämpfen haben. Die Leute schlafen nicht mehr; sie kommen nicht mehr runter. Allge­mein sind wir über­for­dert im Umgang mit den aktu­ellen Ereig­nissen, die unser Sicher­heits­emp­finden in seinen Grund­fe­sten erschüt­tern. Aus psycho­lo­gi­scher Perspek­tive sind die beiden Haupt­stress­fak­toren Unkon­trol­lier­bar­keit und Unvorhersehbarkeit.

Erhalten Sie zurzeit vermehrt Therapieanfragen?

Tatsäch­lich ist eine Zunahme fest­stellbar. In meiner Praxis haben sich zum Teil auch Klient*innen gemeldet, die ihre Therapie eigent­lich schon abge­schlossen hatten. Das ist als Bela­stungs­re­ak­tion zu verstehen; die aktu­elle Situa­tion hat also irgend­etwas zum Kippen gebracht.

Ich bin ausserdem in einem Ambu­la­to­rium in einer Klinik tätig. Dort hatten wir einige Neuan­fragen. Dabei geht es vor allem um die akute Krisen­be­wäl­ti­gung. Es gibt eine psychi­sche Reak­tion, die sich Anpas­sungs­stö­rung nennt und stark an ein äusseres Ereignis geknüpft ist. Unser Chef­arzt hat gerade am Anfang der Krise sehr schön gesagt, dass wir im Moment wahr­schein­lich alle eine Anpas­sungs­stö­rung hätten.

Sind wir denn im Allge­meinen gut genug über psychi­sche Gesund­heit aufgeklärt?

Einer­seits beob­achte ich, dass das Thema psychi­sche Gesund­heit breiter disku­tiert wird als früher, vor allem in der jüngeren Gene­ra­tion. Diese Entstig­ma­ti­sie­rung ist eine sehr posi­tive Entwick­lung. Aber es gibt immer noch grosse Unter­schiede. Je nach Typ und Umfeld werden psychi­sche Probleme eben doch noch als eigenes Versagen oder als Schwäche gesehen – und dann wird es heikel.

Was machen denn Leute, die sich nicht gewöhnt sind, über ihre psychi­sche Gesund­heit und mögliche psychi­sche Probleme nachzudenken?

Es kann gut sein, dass in der aktu­ellen Situa­tion ange­staute Aggres­sionen irgendwo ausbre­chen. Ich selbst habe ein kleines, plaka­tives Beispiel erlebt: Auf einem Waldweg ist mir mal ein Mann entge­gen­ge­kommen, der wahn­sinnig geladen war. Er war wie ein Bull­dozer – da musste ich auswei­chen. Ich war aber nicht schnell genug, und da hat er mich angeflucht.

Da können also schon Probleme entstehen. Vor allem, wenn wenig Selbst­re­fle­xion da ist und die aggres­siven Gefühle und die Angst nicht adres­siert werden. Und Angst ist wirk­lich immer ein schlechter Ratgeber.

Wie können wir uns denn psychisch Sorge geben in so einer Situation?

Die soziale Umge­bung, also Familie, Freund*innen und Bekannte, spielen tatsäch­lich eine wich­tige Rolle. Dass man einander Sorge trägt und mal nach­fragt, wie es wirk­lich geht. Das ist nicht gross anders im Vergleich zu vor der Corona-Krise. Dazu braucht es aber natür­lich gewisse kommu­ni­ka­tive Kompe­tenzen. Von der Person, die fragt, und von der Person, die sich äussert. Und dann gibt es natür­lich auch die profes­sio­nellen Hilfs­an­ge­bote. Verschie­dene grös­sere Kliniken haben Tele­fon­hot­lines einge­richtet, um aktuell möglichst nieder­schwellig Hilfe anbieten zu können.

Was soll man tun, wenn man merkt, dass es jemandem psychisch schlecht geht?

Es ist schwierig, allge­meine Ratschläge zu formu­lieren, aber es hilft immer, Bezo­gen­heit und Inter­esse für die Person zu äussern. Es kann sein, dass man von aussen mehr oder etwas anderes sieht als die Person selbst. Da stellt sich die Frage, ob man die Person direkt darauf anspre­chen soll oder ob das viel­leicht irgend­etwas verschlim­mern könnte. Denn wir dürfen nicht vergessen, dass „etwas nicht sehen“ bzw. Verdrängen eine wich­tige und sinn­volle Funk­tion der Psyche ist. Damit man kompen­siert, also gesund, bleiben kann. Stellen Sie sich vor, uns wäre in jeder Sekunde unseres Daseins bewusst, dass wir sterben werden: Wir würden wahn­sinnig werden!

Kann es sein, dass wir die aktu­elle Situa­tion verdrängen?

Ja, ich glaube zu einem gewissen Grad müssen wir das auch. Das raten wir gerade Leuten, die ängst­lich dekom­pen­sieren. Wenn man in so eine Angst­spi­rale rein­gerät, richten sich die Gedanken und Gefühle nur noch auf die Angst­in­halte, und man verliert die Selbst­steue­rung. Dann sollte man eine Stimu­lus­kon­trolle machen und sich klare Zeit­fen­ster setzen, in denen man beispiels­weise Nach­richten konsu­miert. Und dazwi­schen bewusst seine Aufmerk­sam­keit auf andere Inhalte lenken.

Und umge­kehrt? Kann es sein, dass jetzt Sachen, die wir verdrängt haben, wieder auftauchen?

Das kann sein. Das hat sehr viel mit der indi­vi­du­ellen Biografie zu tun – was da quasi wieder ange­trig­gert wird. Es ist auch ein wenig eine Typen­frage; also, ob man eine Neigung zum Grübeln hat. Grübeln ist ähnlich wie Reflek­tieren, hat aber den Charakter, dass es unpro­duktiv und schwer kontrol­lierbar ist. Beson­ders bei älteren Leuten oder Personen in der Risi­ko­gruppe stehen jetzt ganz fest die Themen Tod, Verlust und Abschied im Raum. Da kommen natür­lich auch bilan­zie­rende Gedanken auf im Sinne von „War’s das jetzt?“.

Was kann man machen, wenn man dem Grübeln verfällt?

Eine gute Stra­tegie ist, zu versu­chen, die Gedanken raus­zu­bringen, zum Beispiel durch Schreiben. Grübeln ist ja etwas, das sich mehr oder weniger unkon­trol­liert im Kopf abspielt, und durch das Exter­na­li­sieren geben wir dem eine Gestalt. Auch Gespräche sind gut, damit wir nicht allein sind mit unseren Gedanken.

Es hilft, heraus­zu­finden, was das Kern­thema des Grübelns ist. Meistens ist es etwas, das in verschie­denen Varia­tionen auftaucht und dann aber sehr viel Raum einnimmt. Es ist eine ähnliche Stra­tegie wie bei der Angst, wo man sagt: „Es ist wichtig, darauf zuzu­gehen.“ Wenn man zum Beispiel schlimme Gedanken zu Ende denkt, verlieren sie ein biss­chen von der Unvorhersehbarkeit.

Während die einen grübeln, scheinen andere diese Zeit sehr gut nutzen zu können, zum Beispiel mit Sport, Backen oder Lesen. Wieso ist das so?

Es kommt sehr darauf an, wie die Person vorher gelebt hat. Ist sie froh um diese Entschleu­ni­gung und geniesst, dass sie mehr Zeit und Raum für solche Akti­vi­täten hat? Und natür­lich gibt es grosse Unter­schiede darin, was eine Person als befrie­di­gend wahr­nimmt – und was nicht. Wir sind nicht alle Sports­ka­nonen oder Hobbybäcker*innen.

Eine andere entschei­dende Frage ist die danach, wie bewäl­ti­gungs­ori­en­tiert eine Person ist. Ist sie flexibel genug, um ihr gewöhn­li­ches Verhal­tens­re­per­toire zu ändern? Oder kommt ein amoti­va­tio­naler Zustand auf, sobald die normalen Stra­te­gien wegfallen? Das hat viel mit den grund­sätz­li­chen Persön­lich­keits­zügen einer­seits, aber auch mit der aktu­ellen Befind­lich­keit zu tun.

Ich merke, dass ich mir Druck mache, die Frei­zeit möglichst entspan­nend und erfül­lend zu gestalten. Oft ende ich dann quasi aus Trotz auf dem Sofa und fühle mich unzu­frieden. Ist das normal?

Die normalen Alltags­rhythmen sind verloren gegangen. Je nachdem komplett. Und jetzt merken wir, wie wichtig Struktur ist für uns und wie sehr sie von aussen gegeben ist: Wir gehen an einen Arbeits­platz, arbeiten unsere acht Stunden, gehen wieder nach Hause, und dann sind wir mehr oder weniger fertig. Das fällt jetzt halt weg, und das ist schwierig für uns.

Beson­ders der Gedanke „Ich muss diese Zeit jetzt nutzen“ ist Teil des über­ge­ord­neten Trends zur Selbst­op­ti­mie­rung, der uns alle ja auf irgend­eine Art erfasst und den ich grund­sätz­lich sehr kritisch sehe.

Die sozialen Medien helfen dieser Amoti­va­tion nicht gerade: Ständig sieht man, was alle anderen den Tag durch so machen.

Diese Tendenz zur Selbst­dar­stel­lung hat ja schon vor Corona ange­fangen. Jetzt ändern sich natür­lich einfach die Inhalte: Statt Strand­fotos sieht man ganz viele Back- und Koch­fotos. Der Inhalt ist eigent­lich sekundär. Es geht nach wie vor darum, der Welt zu zeigen, was man gerade macht und dass man es doch eigent­lich ganz gut hat. Das meine ich über­haupt nicht wertend. Diese Selbst­dar­stel­lung ist einfach eine weitere Stra­tegie, mit der aktu­ellen Situa­tion umzugehen.

Was kann man machen, wenn man in einer solchen Amoti­va­tion gefangen ist?

Versu­chen, zwei-drei Schritte zurück­zu­treten und zu sagen: „Moment. Es ist eine spezi­elle Situa­tion, aber im Prinzip ist das Raum, den ich jetzt habe.“ Es ist zeit­li­cher Raum, den man selbst gestalten kann. Wenn man merkt, dass man in diese Effi­zi­enz­falle tappt, sollte man die To-do-Liste mal auf die Seite legen und statt­dessen etwas Entspan­nendes machen.

Etwas Entspan­nendes?

Ich meine damit Selbst­für­sorge. Es geht dabei darum, nicht etwas zu tun, „um zu“, sondern etwas zu tun, das einem intrin­sisch gesehen richtig, richtig guttut. Oft ist das auf einer sehr physi­schen Ebene: ein Bad mit einem schönen Bade­zu­satz nehmen, einer Klang­schale zuhören. Es sind oft sinn­liche Erfah­rungen und Eindrücke, die uns beruhigen.

Es ist wichtig, dass man aber nicht allzu streng ist mit sich selbst. Es kann gut sein, dass auch in der Bade­wanne etwas im Kopf weiter­rat­tert. Und ich finde, man darf auch einfach mal fluchen über die aktu­elle Situation!


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