Es war nicht zu übersehen. Plötzlich sind auf den Streamingdiensten Serien aufgetaucht, die nicht so recht zu dem passen wollen, was bis anhin auf Netflix, Prime Video und Disney+ zu finden war: Lupin, eine moderne Ganovengeschichte aus Frankreich, Haus des Geldes aus Spanien oder auch die Mysterieserie Dark aus Deutschland. Europäische Serien und Filme scheinen immer mehr einen wichtigen Platz in dem von US-Blockbuster geprägten Unterhaltungsmarkt einzunehmen – und: Sie sind nicht minder erfolgreich.
Mitverantwortlich dafür, dass Netflix und Co. vermehrt europäische Produktionen aufschalten, dürften unter anderem Investitionspflichten sein. Denn mehrere europäische Länder haben die Streamingdienste in den letzten Jahren dazu verpflichtet, in einheimische Filmproduktionen zu investieren.
Am 15. Mai kommt die Abstimmung zum sogenannten Bundesgesetz über Filmproduktion und Filmkultur an die Urne. Kurz wird die Vorlage auch Filmgesetz oder „Lex Netflix“ genannt. Laut dem neuen Gesetz müssten Streamingdienste wie Netflix, Prime Video und Disney+ neu vier Prozent des Umsatzes, den sie in der Schweiz erwirtschaften, in das Schweizer Filmschaffen investieren. Dasselbe würde auch für ausländischen Fernsehsender gelten, sofern sie gezielt Werbung für das Schweizer Publikum senden und auf dem Schweizer Werbemarkt Geld verdienen. Für private Schweizer Fernsehsender gilt diese Investitionspflicht bereits heute.
Laut dem Bund sollen mittels des neuen Filmgesetzes 18 Millionen Franken mehr in den Schweizer Film fliessen. Wichtig: Bei diesen 18 Millionen handelt es sich nicht um geschenkte Gelder, sondern um Investitionen. Laut eigenen Angaben plant Netflix bis 2023 so oder so 500 Millionen in den deutschsprachigen Raum zu investieren. Mit einer Investitionspflicht könnte die Schweiz sicherstellen, dass ein Teil des Geldes in die Umsetzung von Schweizer Filmprojekten fliesst.
Der Schweizer Film erhält bereits heute Gelder. Laut einem Bericht der Aargauer Zeitung zahlen Bund und Regionen durchschnittlich 39 Millionen pro Jahr. Die SRG und private Sender geben weitere 42 Millionen pro Jahr für den Schweizer Film aus. Über private Finanzierung kommen weitere 24 Millionen Franken hinzu. Das macht 105 Millionen Franken pro Jahr. Die häufig genannten 120 Millionen entsprächen laut Aargauer Zeitung dem Finanzvolumen von 2019 und nicht den jährlichen Subventionen durch die öffentliche Hand.
Neben der Investitionspflicht würde es mit dem neuen Gesetz für Streamingdienste eine Mindestquote von 30 Prozent für europäische Produktionen geben. Bei privaten Fernsehfirmen gibt es das bereits heute. Auch andere europäische Länder kennen ähnliche Investitionspflichten und Mindestquoten.
Eine solche Investitionspflicht möchte der Bundesrat und das Schweizer Parlament nun auch für die hiesige Filmbranche einführen. Die Junge SVP, die Junge GLP und die Jungfreisinnigen haben dazu das Referendum ergriffen. Und mit den steigenden Abokosten haben die bürgerlichen Jungparteien ein starkes Argument auf ihrer Seite. Denn Mehrkosten segnen die Schweizer Stimmbürger*innen an der Urne bekanntlich nicht gerne ab.
Aber: Würden die Streaminganbieter*innen bei einem Ja zum Filmgesetz tatsächlich die Abopreise höher ansetzen? Wir haben bei den drei grössten Anbieter*innen nachgefragt. Disney+ will sich dazu nicht äussern. Prime Video, der Streamingdienst von Amazon, schreibt uns Folgendes:
Prime Video ist die Entscheidung aus der Differenzbereinigung bekannt und wir verfolgen den weiteren politischen Prozess mit grossem Interesse, da die anstehende Entscheidung des Nationalrats das grundsätzliche Investitionsklima für internationale Video-on-Demand-Anbieter beeinflussen wird. Aufgrund der Nachfrage unserer Kunden nach europäischen Inhalten investiert Prime Video in ganz Europa verstärkt in lokale Produktionen. Damit die Schweizer Kreativ- und Produktionslandschaft international wettbewerbsfähig bleibt, sollte weiterhin ein positives Investitionsklima herrschen. Dies gelingt nur, wenn mit Augenmass vorgegangen und kulturelle und medienwirtschaftliche Interessen aller Beteiligten ausbalanciert werden. Es gilt, auf die Stärke der Branche zu vertrauen. Pauschale gesetzliche Pflichtauflagen zur Steuerung von Investitionen braucht es unseres Erachtens nicht. Zu Preisänderungen hat Prime Video derzeit nichts anzukündigen und beteiligt sich auch nicht an Spekulationen.
Zugegeben: Es ist nicht ganz einfach, in all diesem PR-Talk zu erkennen, was Prime Video tatsächlich vom neuen Filmgesetz hält. Dass sich Prime Video „weiterhin ein positives Investitionsklima“ wünscht, ist logisch. Damit sagen sie aber auch, dass sie sich eher ungern vorschreiben lassen möchten, ob und wie sie in den Schweizer Film investieren. Dass für ein solches positives Investitionsklima „kulturelle und medienwirtschaftliche Interessen aller Beteiligten ausbalanciert“ werden müssten, heisst wohl, dass man bei Prime Video Gewinn immer noch höher gewichtet als kulturelle Vielfalt.
Kurzum: Prime Video hätte am 15. Mai zum Filmgesetz lieber ein Nein in der Urne. Ob ein Ja zu höheren Abopreisen führen würde, kommentiert Prime Video nicht.
Ähnlich klingt es bei Netflix:
Wir haben höchsten Respekt vor der demokratischen Entscheidungsfindung des Schweizer Volkes und warten insofern das Ergebnis des Referendums ab. Wir waren an der Vorbereitung und Einreichung des Referendumsantrags nicht beteiligt, verstehen aber, dass sich viele Verbraucher fragen, ob eine solche Regulierung in ihrem Interesse ist und eine maximale Vielfalt des Medienangebots fördert. Uns bei Netflix ist es wichtig, unseren Mitgliedern die besten Geschichten von überall auf der Welt anzubieten. Wir werden auch weiterhin in Inhalte aus der Schweiz investieren, wenn wir glauben, dass diese ein interessantes Angebot für unsere Mitglieder sind.
Auch die Antwort von Netflix kommt in einem geschliffenen PR-Deutsch daher. Abgeneigt scheint der Streamingdienst grundsätzlich nicht zu sein, wenn es um Investitionen in den Schweizer Film geht. Er setzt jedoch gleichzeitig ein klares Aber: Man wolle nur dann in den Schweizer Film investieren, wenn man glaube, dass die geförderten Inhalte bei den Abonnent*innen auf Interesse stossen würden.
Die Beurteilung, ob Inhalte aus der Schweiz für die Netflix-Abonnent*innen interessant sein könnten oder nicht, bleibt bei einem Nein zum Filmgesetz aber alleine denjenigen überlassen, die vor allem an einem interessiert sind: den maximalen Profit aus ihrem Streamingangebot herauszuholen. Diese einseitige Entscheidungsmacht dürfte kaum dazu führen, dass die kulturellen Interessen der Schweiz und die medienwirtschaftlichen Interessen der Streamingdienste tatsächlich eine optimale Balance finden.
Undemokratisches Schweigen
Was auffällt: Auch Netflix weicht der Frage zu den Abopreisen aus. Damit scheint zumindest ein Teil der Antwort vollends als PR-Gefasel entlarvt werden zu können. Denn hätte Netflix tatsächlich „höchsten Respekt vor der demokratischen Entscheidungsfindung des Schweizer Volkes“, würde der Streamingkonzern mithelfen, die bestmögliche Informationsbasis für die bevorstehende Abstimmung zu legen.
Denn: Um eine reflektierte und gut informierte Entscheidung treffen zu können, wäre es für die Abstimmenden wichtig zu wissen, ob bei einem Ja die Abopreise tatsächlich steigen oder nicht. Disney+, Prime Video und Netflix könnten uns diese Information liefern und so ihren Teil zu einem demokratischen Entscheidungsprozess beitragen. Aber: Sie tun es nicht.
Von dieser Geheimnistuerei profitieren auch die Initiant*innen des Referendums. Denn dadurch kann das von den bürgerlichen Jungparteien entwickelte Schreckgespenst der steigenden Abopreise in all seinen Unklarheiten ausgeschmückt werden. Übrigens: Die letzte Erhöhung der Abopreise führte Netflix anfangs 2022 durch. Und dies ohne Schweizer Investitionspflicht. Gestört hat das kaum jemanden – am allerwenigsten die bürgerlichen Jungparteien.
Teil 1: Müssten wir bei einem „Ja“ zum Filmgesetz mehr bezahlen für das Streaming-Abo? Wir haben bei Netflix, Prime Video und Disney+ nachgefragt.
Teil 2: Lex Netflix: Der Profit der Konzerne ist unantastbar. Ein Kommentar.
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