Die Überwindung der Natur bestimmt unser alltägliches Leben. Fahrradfahren, das ist die Überwindung der körperlichen und natürlichen Unfähigkeit, weite Distanzen in kurzer Zeit zurückzulegen. Schwimmen, das ist der Kampf gegen die Gravitation, die uns im Wasser nach unten zieht. In einem Baumhaus zu leben – selbst wenn es im Sinne der Einswerdung mit dem Wald geschieht – bedeutet, sich unter einem schützenden Dach der Unvorhersehbarkeit natürlicher Willkür zu widersetzen.
Auch der Kampf gegen den Klimawandel ist eine Form der Naturüberwindung. Wir realisieren den immensen Einfluss, den die Natur auf unsere Lebensgestaltung hat, und begreifen, dass wir uns vor dem Einfluss der natürlichen Prozesse – angefacht durch menschliches Eingreifen – schützen müssen. Wir müssen das Verhältnis zur Natur neu organisieren, uns weder unter sie noch über sie, sondern neben sie stellen und so die Abhängigkeit zu ihr brechen.
In jeder moralischen Handlung und jedem rechtlich verbrieften Gesetz für ein ethisch korrektes Zusammenleben verbirgt sich die Forderung, Beziehungen unter Menschen nicht der Gewalt und der Hierarchieordnung der Natur zu überlassen. Die Vorstellung von Moral selbst ist an sich schon eine Antwort auf die Abwesenheit von Moral in der Natur.
Ja oder Nein zur Widerspruchslösung
Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft haben den Anspruch, es anders und besser als die Natur zu machen, nicht in Einklang damit zu leben, was natürliche Prozesse für die Menschen vorsehen – wie beispielsweise ein früher Tod.
Noch vor der „Entzauberung der Welt“ und der damit gemeinten Rationalisierung im Sinne der Aufklärung im 18. Jahrhundert lag die Lebenserwartung global bei 29 Jahren. Heute liegt sie zwischen 70 und 75 Jahren. Was im Kampf gegen den frühen Tod half und heute noch immer hilft, sind beispielsweise Tabletten, Impfungen, eine gute Wasserversorgung, eine gerechte Lebensmittelverteilung, sicherer und schützender Wohnraum, Darmspiegelungen. Oder Organtransplantationen.
Wenn die Schweizer Stimmbevölkerung am 15. Mai über das Referendum gegen die Änderung des Transplantationsgesetzes befindet, wird vor allem darüber entschieden, ob die Widerspruchslösung eingeführt wird oder nicht. Diese würde bestimmen, dass Menschen, die nach ihrem Tod keine Organe spenden möchten, neuerdings festhalten müssen, dass sie dies nicht wollen. Passiert das nicht, wird davon ausgegangen, dass sie dazu bereit wären.
Damit würde die bis anhin geltende Handhabung abgelöst werden, die vorschreibt, dass Organe nur dann gespendet werden, wenn dafür eine Zustimmung vorliegt. Die Vorlage ist ein indirekter Gegenvorschlag zur Volksinitiative „Organspende fördern – Leben retten“. Im Unterschied zur Initiative regelt das geänderte Transplantationsgesetz, dass die Angehörigen einer betroffenen Person nach deren Tod sich immer noch gegen die Entnahme der Organe aussprechen können, wenn sie davon ausgehen, dass dies nicht dem Willen der verstorbenen Person entsprochen hätte.
Mit der Vorlage soll den momentanen Engpässen entgegengewirkt werden. Denn obwohl in der Schweiz Umfragen zufolge die Bereitschaft zur Spende mit 80 Prozent hoch ist, bleiben die realen Zahlen an Spender*innen mit 16 Prozent ziemlich tief. Folge davon: Ende 2021 warteten ca. 1’400 Menschen in der Schweiz auf ein entsprechendes Organ.
Organe vs. Religion
Bei der Debatte um die Änderung des Gesetzes geht es nicht nur um unterschiedliche Auffassungen über staatliche Eingriffsbefugnisse, sondern auch um religiöse Fragen über den Stellenwert des Körpers nach dem Tod. Kritiker*innen der Vorlage insistieren auf das Recht der Einzelnen, mit dem ganzen Körper in den Tod übertreten zu dürfen.
Ethik-Professor und Mitglied des Referendumskomitees Peter Kirchschläger warnte in der SRF-Arena zur Vorlage vor einem „fundamentalen Paradigmenwechsel“, der mit der Widerspruchslösung eintreten würde. Sie verletze das Grundrecht auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit. Der Staat greife „wie bei einem Ersatzteillager einfach zu“.
Darüber hinaus geht es bei der Vorlage aber auch um das eingangs geschilderte Verständnis vom Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Davon ausgehend, dass das menschliche Projekt, so wie es seit der Aufklärung verstanden wird, immer ein Kampf gegen die menschenfeindlichen Regeln ist, die in der Natur gelten, sollte alles unternommen werden, um menschliches Leben so lange und so gut wie möglich zu gestalten. Dafür helfen einerseits lebensverlängernde Zusatzstoffe wie Tabletten und Impfungen. Andererseits Transplantationen von Bestandteilen eines Körpers, die als „Ersatzteile“ das Leben eines anderen Körpers verlängern.
Die Idealisierung des menschlichen Körpers als abgeschlossenes System – die einige (natur-)religiöse Akteur*innen betreiben – zielt an der Realität von Gesellschaft vorbei. Den Körper als einen der Natur ausgesetzten Organismus zu betrachten, der sich abschliessend selbst bestimmt, heisst in der Konsequenz, ihn der Willkür auszuliefern.
Die Vorstellung einer humanistischen Gesellschaft, in der der Mensch im Zentrum steht, zielt auf die Überwindung vom Überlebenskampf der Einzelnen und die Instandsetzung von Kooperationen – das Verbündet-Sein zwischen Individuen. Der Eingriff in einen soeben totgewordenen Körper zur Nutzbarmachung seiner Organe oder eben seiner „Ersatzteile“ hilft Menschen, die dringend auf ein lebenserhaltendes Organ angewiesen sind. Das ist eine Form des Verbündet-Seins der Menschen in ihrem Kampf zur Überwindung der Natur – und für das gute Leben.
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