Mit Poetry-Slam zu mehr Demokratie

Poli­ti­scher Akti­vismus in der Demo­kra­ti­schen Repu­blik Kongo stösst häufig auf staat­liche Repres­sion. Mittels Poetry Slam fördert die Goma Slam Session alter­na­tive Formen der Meinungs­frei­heit und Kritik — und setzt hierfür bei grund­le­genden Prin­zi­pien des kongo­le­si­schen Bildungs­sy­stems an. 

Wie jeden Sams­tag­morgen ertönen Stimmen aus dem oran­ge­far­benen Haus mitten in Katindo, einem belebten Viertel in der ostkon­go­le­si­schen Stadt Goma. Die einzige Sitz­ge­le­gen­heit für die jungen Leute, die sich dort versam­melt haben, ist ein alter Auto­sitz. „C’était magni­fique!“, es war wunder­voll, ist der wieder­keh­rende Refrain des Textes, den Elisha Abumba vorträgt und der die anderen Spoken-Word-Künstler:innen an ihre Kind­heit voller Spiele und Streiche erin­nern soll.

In der Runde werden selbst­ge­schrie­bene Texte vorge­tragen, die sich mit Themen wie Frau­en­rechten, Covid-19, Liebe oder der Unab­hän­gig­keit des Kongo beschäf­tigen. Ziel dieser wöchent­li­chen Treffen ist es, durch das Feed­back und den Austausch mit den anderen besser zu werden.

Die Goma Slam Session ist ein Kollektiv von Spoken-Word-Künstler:innen, das sich zum Ziel gesetzt hat, kriti­sches Denken und freie Meinungs­äus­se­rung durch die Kunst des Slams, eine Form der gespro­chenen Poesie, zu fördern. Das oran­ge­far­bene Haus, ihr Espace Slam, ist kein Büro, sondern ein selbst­ver­wal­teter Raum mit flacher Orga­ni­sa­ti­ons­struktur, wie die Anwe­senden betonen. Durch einen gemein­samen Beschluss wurde entschieden, die Einnahmen von ihrem Auftritt am Amani Festival 2020 in die ersten sechs Monate der Haus­miete zu inve­stieren und damit einen für alle zugäng­li­chen Ort des Austauschs zu schaffen.

Während einer der wöchent­li­chen Slam-Sessions im Espace Slam. (Foto: Guer­chom Ndebo)

Zusätz­lich zu ihrer eigenen krea­tiven Arbeit bietet das Kollektiv kosten­lose Schreib- und Perfor­mance-Work­shops an, teils unter­stützt von der inter­na­tio­nalen Hilfs­or­ga­ni­sa­tion VIS (Volon­ta­riato Inter­na­zio­nale per lo Sviluppo). Die ersten Kurse fanden in Jugend­zen­tren und Jugend­ge­fäng­nissen statt; nun richtet das Kollektiv ihren Fokus auf Schulen. Die Kunst des Slams soll das Bildungs­sy­stem von unten revo­lu­tio­nieren – keine leichte Aufgabe in einer Insti­tu­tion, die lange Zeit künf­tige Bürger:innen erzogen hat, welche die Meinung der Obrig­keiten und die Macht von Auto­ri­täten nicht infrage stellen sollten.

Bildungs­sy­stem als kolo­niales Erbe

Trotz unter­schied­li­cher Reformen ist das Bildungs­sy­stem der DR Kongo seit der Kolo­ni­al­zeit im Kern weit­ge­hend unver­än­dert geblieben. Während der Kolo­ni­al­zeit diente die Entwick­lung einer sehr einfa­chen Bildungs­in­fra­struktur dem weiter­ge­henden Ziel der kolo­ni­sie­renden Mission: Belgi­sche Missio­nare über­nahmen die Aufgabe, die Kolo­ni­sierten in Schulen zu „zivi­li­sieren“, aller­dings in begrenztem Umfang. Ein höheres Bildungs­ni­veau wurde weder für möglich noch für wünschens­wert gehalten, weil dadurch ein revo­lu­tio­näres Poten­zial bei den Unter­drückten hätte frei­ge­setzt werden können.

Mit der Unab­hän­gig­keit des Landes 1960 und dann beson­ders unter Präsi­dent Mobutu Sese Sekos „Authen­ti­zi­täts­po­litik“ sollte die Bildung durch Reformen der Lehr­pläne deko­lo­ni­siert werden. Künf­tige Bürger:innen wurden mittels eines natio­na­li­sti­schen Diskurses und der Vereh­rung von Natio­nal­helden erzogen. Mit der voll­stän­digen Verstaat­li­chung des Bildungs­we­sens 1971 verfolgte Mobutu das Ziel, sein auto­kra­ti­sches Regime zu stützen: durch die Schaf­fung von Jugend­sek­tionen der Staats­partei Mouve­ment Popu­laire de la Révo­lu­tion (MPR) in Schulen und Univer­si­täten sowie durch die Erset­zung des Kurses der poli­ti­schen Allge­mein­bil­dung durch den „Mobu­tismus“ – einer Staats­ideo­logie, welche keinerlei Kritik am „Vater der Nation“ duldete.

Das Erbe der kolo­nialen Bevor­mun­dung und das Verhalten der späteren Macht­ha­benden, ihr eigenes Wohl­ergehen über das der Bevöl­ke­rung zu stellen, wirkt sich bis heute auf den Unter­richt in den Schulen aus. Depaul Bakulu, Mitglied der Goma Slam Session, erzählt: „Uns wird nicht beigebracht, dass die Behörden uns etwas schulden. Ich persön­lich habe meinen Schul­ab­schluss gemacht, ohne dass eine einzige Lehr­person über die Mecha­nismen gespro­chen hätte, Forde­rungen zu stellen, wenn unsere Rechte verletzt werden.“

Obwohl Bildungs­ein­rich­tungen in der Geschichte des Landes oft Orte des Wider­stands waren – vor allem in den 1980er-Jahren, als die Struk­tur­an­pas­sungs­pro­gramme des IWF und der Welt­bank das Bildungs­budget zusam­men­stri­chen – seien die Schul- und Univer­si­täts­be­hörden selbst für viele der Miss­stände verant­wort­lich, meint Depaul Bakulu. Er erzählt von einem Fall an der Univer­sité du Goma, bei dem Student:innen in Schwie­rig­keiten gerieten, als sie Klar­heit über die Verwal­tung der Reno­va­ti­ons­ko­sten forderten, für die sie jähr­lich Beiträge zahlten, ohne dass ein Ergebnis sichtbar war.

Kriti­sches Denken und Meinungs­frei­heit fördern

Die Goma Slam Session versucht auf eine subti­lere Art und Weise, ihre Prin­zi­pien von Auto­ri­täts­kritik und nicht-hier­ar­chi­schen Struk­turen ins Bildungs­sy­stem einzu­bringen. Mit regel­mäs­sigen Schul­be­su­chen wollen die Mitglieder den Schüler:innen mehr Möglich­keiten geben, einen Sinn für kriti­sches Denken zu kultivieren.

„Fühlt euch wohl“, sagt Depaul Bakulu im Klas­sen­zimmer zu den Schüler:innen einer staat­li­chen Schule, bevor sie die Texte vortragen, die sie als Haus­auf­gabe geschrieben haben. Auch hier sollen es zunächst die Mitschüler:innen sein, die sich gegen­seitig Anre­gungen zur Verbes­se­rung der Texte oder der Art ihrer Präsen­ta­tion geben. Im Mittel­punkt stehen Krea­ti­vität sowie der basis­de­mo­kra­ti­sche Austausch. „Das, was unser Schul­sy­stem ihnen nicht bietet“, erklärt Bakulu.

Die Lernenden werden eben­falls aufge­for­dert, die Work­shops als Ganzes zu kriti­sieren und so zum Prozess beizu­tragen. „Ich bin kein Lehrer, ich bin nur Vermittler. Auch durch eure Erfah­rungen kann ich lernen“, erklärt Bakulu den Schüler:innen. Eine solche Ansage ist unge­wöhn­lich in einem Bildungs­kon­text, in dem die Lehr­person als Auto­rität wahr­ge­nommen wird, die kaum infrage gestellt werden kann.

Das Programm Slam à l’Ecole findet ausser­halb der regu­lären Kurse statt; die Teil­nahme ist frei­willig. (Foto: Guer­chom Ndebo)

Auch in der Académie Slam, einem vier­wö­chigen Programm, das für jegliche Inter­es­sierte kostenlos im Espace Slam ange­boten wird, werden neue Texte kreiert. Auch wenn dabei unbe­schwerte Geschichten aus dem Alltag der jungen Leute kursieren, plädieren viele der Texte für soziale Gerech­tig­keit und Würde für inhaf­tierte Personen, Geflüch­tete oder die Opfer der Massaker in Beni.

Aufgrund der komplexen jüngeren Geschichte von Krieg und poli­ti­scher Unter­drückung in Gomas Provinz Nord-Kivu über­rascht dieser Fokus nicht. Das United Nations Joint Human Rights Office (UNJHRO) berich­tete im Jahr 2020 über eine stei­gende Zahl von Verlet­zungen der Menschen­rechte und demo­kra­ti­schen Frei­heiten, sowohl durch staat­liche Akteure als auch durch bewaff­nete Gruppen.

Obwohl sich zivil­ge­sell­schaft­liche Bewe­gungen wie Lucha oder Filimbi schon lange gegen die Regie­rung ausspre­chen, eignet sich diese Art der Kritik nicht für alle, wie die Slam­merin Bene­dicte Luendo sagt: „Um ehrlich zu sein, habe ich Angst davor, in einer Bürger­rechts­be­we­gung aktiv zu sein. Aber mit Slam kann ich mich frei ausdrücken, ohne auf die Strasse zu gehen.“ Sie fürchtet die Repres­sionen der Sicher­heits­kräfte, die bei Demon­stra­tionen hart durch­greifen können – so wie etwa im Juli 2020, als Kongoles:innen in zahl­rei­chen Städten für eine Reform der natio­nalen Wahl­kom­mis­sion demon­strierten und mehrere Menschen verhaftet, verletzt und sogar getötet wurden.

Für die breite Öffentlichkeit

Als die Kunst des Slams 1984 in Chicago begann, hatte sie das Ziel, Gedicht­vor­träge aus dem akade­mi­schen Bereich einem breiten Publikum näher zu bringen. In einem Kontext wie Goma, in dem vielen die Mittel fehlen, sich mit Print­me­dien ausein­an­der­zu­setzen, hat Slam als Mittel der Kritik viel Poten­zial. „Viele Menschen verstehen Slam bisher als eine neue, fremde Kunst­form, obwohl wir eine münd­liche Tradi­tion haben“, sagt Ghis­lain Kalwira von der Goma Slam Session. Um ihre Kunst den Menschen näher zu bringen, tritt das Kollektiv auf der Strasse und abseits von Orten wie dem Institut Fran­çais auf, der Kultur­ein­rich­tung, die das Kollektiv schon oft zu Gast hatte.

Als einer der Schüler:innen seinen Text mit gedämpfter Stimme vorträgt, greift Depaul Bakulu ein und ermu­tigt ihn, mehr­mals laut „Ich habe die Stimme“ zu rufen und seinen Text mit dieser Idee im Kopf noch einmal zu rezi­tieren. (Foto: Guer­chom Ndebo)

Da die Zahl der Frauen, die ihre eigenen kriti­schen Stimmen in die Öffent­lich­keit tragen, immer noch begrenzt ist, hat die Goma Slam Session im September 2020 Slam au Féminin ins Leben gerufen und das Programm in die Schule gebracht, da viele Mädchen aufgrund von Haus­halts­pflichten nicht die glei­chen Möglich­keiten haben, an ausser­schu­li­schen Akti­vi­täten wie der Académie Slam teil­zu­nehmen.

Solange das kongo­le­si­sche Bildungs­sy­stem die junge Gene­ra­tion nicht mit den Fähig­keiten zum kriti­schen Denken und anderen Werk­zeugen ausstattet, um soziale und poli­ti­sche Probleme anzu­gehen, wird die Goma Slam Session mit ihrer subtilen Subver­sion weiter­ma­chen. Für ihre Schul­be­suche wählt sie dabei bewusst einen wissen­schaft­li­chen Ansatz, der die Verbes­se­rung der Sprache und das Üben der Eloquenz in den Vorder­grund stellt. „Viel­leicht werden wir in Zukunft eine Bedro­hung für die bekla­gens­werte Mittel­mäs­sig­keit unseres poli­ti­schen Systems darstellen“, sagt Bakulu. „Aber bis jetzt haben die Schulen uns will­kommen geheissen.“

Dieser Artikel wurde erst­mals publi­ziert in Africa Is A Country.


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