Mein Archiv der sozialen Wut

Die mit den schmer­zenden Körpern, die Nacht­ar­bei­tenden, die Verges­senen – und er selbst. Das sind die Protagonist*innen aus dem neuen Essay­band „Von der namen­losen Menge“ von unserem Kolum­ni­sten Olivier David. Ein Vorab­druck aus dem Buch, das in Kürze erscheint. 
"Mit dem Klassenbewusstsein ist es wie mit dem Glück; es schaut mal kurz vorbei, es streift den Geist, wärmt ihn, aber dieses Gefühl zu konservieren, wollte mir nie gelingen." (Foto: Martin Lamberty)

Wie fühlt es sich an, mit dem eigenen Körper und der eigenen Gesund­heit den Wohl­stand höherer Klassen zu bezahlen? Was bedeutet es, unten zu bleiben, damit die oberen ihren Status, ihre Macht, ihre Privi­le­gien behalten können? Wie soll Geschichte weiter­ge­geben werden, wenn es kein kollek­tives Gedächtnis armer Menschen gibt? 

Während sich die meiste Lite­ratur über soziale Herkunft und die untere Klasse dem Aufstiegs­nar­rativ bedient, schreibt Olivier David in seiner Neuerschei­nung über dieje­nigen die unten geblieben sind. Der Essay­band ist ein Archiv seiner sozialen Wut.

Ein Vorab­druck aus dem Buch, das am 16. Mai 2024 im Haymon Verlag erscheint.

Von der namen­losen Menge

Ein später Nach­mittag am letzten Tag des alten Jahr­tau­sends. Um dem Gefühl des Allein­seins zu entfliehen, schnüre ich meine Schuhe, ich rufe meiner Mutter ein paar Worte zu und verlasse die Wohnung. Meine Stim­mung passt zu diesem nass­kalten Dezem­bertag, sie passt zum tauben­grauen Himmel, sie passt nicht zum Tag der Tage, für den ich zu wenig enge Freunde habe, zu pleite und zu hobbylos bin. 

Ich bin elf Jahre alt, ich bin draussen auf der Strasse unter­wegs, streife durch die Stadt, mit einer Hand­voll Böller.

Die Dämme­rung bricht langsam herein, als ich beschliesse, mich auf den Rückweg zu machen. Vorbei an den Stufen, die an die Außen­mauer des Karstadt­ge­bäudes angrenzen, vorbei an der Post nahe der grossen Berg­strasse. Am Schau­fen­ster des Klamot­ten­la­dens Hundert­mark bleibt mein Blick an der dunkel­braunen Leder­jacke für 699 Mark kleben. 

Mehr Frei­zeit, weniger Lohn­ar­beit: Das war die ganze Zukunftsvision.

Kurz hellt sich meine Stim­mung auf, als ich mir vorstelle, diese schwere, edle Leder­jacke eines Tages zu besitzen. Nach ein paar Sekunden reisse ich mich los. Es gibt die Welt hinter der Auslage, und es gibt meine Welt, und dazwi­schen gibt es die Sicher­heits­scheibe, die unüber­windbar zwischen meinen Tagträumen und der Realität steht. Das hinter der Scheibe, das bin nicht ich, das werde ich nie sein.

Die Kälte zieht mich wie an einer Schnur zurück nach Hause. Allein Böller auf die Strasse zu werfen, so wie ich es bis vor wenigen Minuten gemacht habe, erzeugt keine Freude in mir. Es ist eher etwas, das ich pflicht­be­wusst erle­dige, weil alle Jungs in meinem Umfeld vernarrt darin sind, etwas in die Luft zu jagen. Die letzten zwei D‑Böller stecke ich zurück in die Tasche.

„Von der namen­losen Menge“ erscheint am 16. Mai 2024.

Am Ende der grossen Berg­strasse explo­diert plötz­lich etwas unmit­telbar vor meinen Füßen. Die Deto­na­tion ist heftig, sie reisst mich aus meiner Lethargie. Ich sehe ein paar über­mü­tige Jugend­liche, die sich mit Böllern beschmeißen, und hoffe, dass sie nicht auf mich zielen. Der Schock, den die Explo­sion in mir auslöst, wird verstärkt durch die empfun­dene Isola­tion von der Welt, die mich schon umgeben hat, lange bevor ich das Haus verlassen habe.

Eine Isola­tion, die genau genommen ein Teil von mir ist. Eine Isola­tion, die gleich­zeitig auch ein Trug­schluss ist, denn ich bin nicht allein, meine Mutter wartet zu Hause, auch ihr geht es nicht gut, auch sie ist allein. Genau genommen ist es kein isoliertes Allein­sein, wir sind jeder für sich neben­ein­ander allein. Es ist das Allein­sein des versprengten Rests einer Familie aus der unteren Klasse.

Vor einiger Zeit habe ich online einer Podi­ums­dis­kus­sion über soziale Herkunft und Klas­sen­wechsel zuge­sehen, und in den Wochen und Monaten danach ploppte der Titel der Veran­stal­tung immer wieder in meinem Inneren auf: „Die Klasse, die es nicht gibt.“ Die Formu­lie­rung zeigte mir eine Realität auf, die sich meinem Bewusst­sein bisher entzogen hatte, obgleich ich ihre Wahr­heit körper­lich spürte. 

Mir kommt kein Gefühl in den Sinn, das gleich­zeitig ehrli­cher und ernüch­ternder zugleich ist als jenes, das beim Vorgang spürbar wird, sich der Realität zu stellen, in der es für die meisten so wenig zu gewinnen gibt. Dieselbe Wahr­heit besagt, dass ich alleine von dieser Erde gehen werde. Eine Wahr­heit, in der geschrieben steht, dass ich in Einsam­keit und Armut sterben muss, zu früh sterben muss, weil diese Phäno­mene einer Gesetz­mäs­sig­keit folgen.

~

Der Junge mit den Böllern in der Hand verwan­delte sich in einen spät­pu­ber­tie­renden Jugend­li­chen, aus der Jahr­tau­send­wende wurde 2007. 

Hätte mich damals jemand gefragt, wer die Hinter­männer von 9/11 seien, ich hätte, mit einem Lächeln auf den Lippen, das Über­le­gen­heit ausstellen sollte, aber von Verbit­te­rung geprägt war, gesagt, es sei ein Insi­dejob gewesen – was denn sonst? Das war keine rein private Meinung, es war so etwas wie die kollek­tive Wahr­heit meines Milieus. Wir alle wussten, nachdem wir die Doku­men­ta­tion „Loose Change“ gesehen hatten, einen Amateur­film, der Verschwö­rungs­er­zäh­lungen über die einstür­zenden Twin-Towers verbrei­tete, was wahr und was gelogen war.

Die Amis haben die Flug­zeuge in die Türme gelenkt, um den Irak­krieg zu starten wegen Öl.

Es war ein gutes, ein über­le­genes Gefühl, einer der Wissenden zu sein. Mitte 2008 begann ich zwei­und­dreissig Stunden die Woche in einem Super­markt zu arbeiten. Irgend­wann in dieser Zeit fing ich schon vor der Schicht zu kiffen an, ab dem Nach­mittag oder Abend trank ich Bier, ein paar Mal die Woche dazu Schnaps.

Durch mein Schreiben erweckte ich die sozialen Bedin­gungen, durch die ich meine wesent­liche Prägung erfuhr, zum Leben.

Die Arbeits­kol­legen und Freunde, mit denen ich mich umgab, waren wie ich, zumin­dest fühlte ich mich ihnen gleich. Sie zogen Speed vor der Früh­schicht, malten in ihrer Frei­zeit Wände und Züge, dealten und kifften oder tranken zu viel. Niemand glaubte an das eigene Voran­kommen. Keiner gab sich der Illu­sion hin, dass die Welt für einen von uns etwas anderes zu bieten hatte. 

Man kämpfte dafür, es im Rahmen seines Alltags etwas weniger schlecht zu haben. Mehr Frei­zeit, weniger Lohn­ar­beit: Das war die ganze Zukunftsvision. 

Das schöne Leben, das wir uns ausmalten, war von dem Wunsch nach „weniger“ gekenn­zeichnet, weniger Probleme zu haben, anstatt nach Verbes­se­rungen, von denen wir nicht zu träumen wagten. Voran­kommen bedeu­tete aufzu­hören, die Regeln der oberen Klassen zu befolgen, so sehr hatte sich die Hoff­nungs­lo­sig­keit in vielen von uns breitgemacht.

Vor Kurzem las ich bei erneuter Lektüre von Didier Eribons „Rück­kehr nach Reims“ folgende Sätze, in denen ich mich wieder­finde: „Dass es anderswo anders zugeht, dass andere Leute andere Ziele und Möglich­keiten haben, weiss man sehr wohl, aber dieses Anderswo liegt in einem so uner­reich­baren, sepa­raten Universum, dass man sich weder ausge­schlossen noch benach­tei­ligt fühlt, wenn einem der Zugang zu den Selbst­ver­ständ­lich­keiten der anderen verwehrt bleibt. So ist die Welt geordnet, Punkt. Warum, weiss man nicht. Dazu müsste man sich selbst von aussen betrachten, bräuchte einen Über­blick über das eigene Leben und das Leben der anderen.“

In verschie­denen Momenten meines Lebens habe ich mich als Teil von etwas gefühlt, das ich heute im Nach­gang als Klasse oder Klas­sen­frak­tion bezeichne. Im Stadion, wenn ich mit einem Lied verschmolz und die Gedanken, die sonst unauf­hör­lich ratterten, endlich verstummten. Wenn ich mit Freunden auf dem Skate­board durch die Stadt fuhr und die Tren­nung zwischen mir und der Welt über­wand. Wenn ich mit Nach­barn und Bekannten gegen einen Klamot­ten­laden aus der rechts­extremen Szene demon­strierte, dessen Mitar­beiter und Kunden im Stadt­teil Präsenz zeigten. Wenn ich sah, dass eine linke Partei irgendwo auf der Welt eine Wahl gewann. 

Die Not, mich selbst verstehen zu wollen, brachte die Suche nach der eigenen Posi­tion ins Rollen.

Ich denke: Mit dem Klas­sen­be­wusst­sein ist es wie mit dem Glück; es schaut mal kurz vorbei, es streift den Geist, wärmt ihn, aber dieses Gefühl zu konser­vieren, wollte mir weder als Kind und Jugend­li­chem gelingen noch zu der Zeit, in der ich körper­li­cher Arbeit nach­ging. Das verän­derte sich, sobald ich mit dem Schreiben begann. 

In „Denken in einer schlechten Welt“ beschreibt der Philo­soph Geoffroy de Lagas­nerie, wie die Produk­tion von Kunst, Lite­ratur und Wissen mit einer Verant­wor­tung zum Enga­ge­ment einher­geht. Im Augen­blick des Schrei­bens „haben wir uns folg­lich entschieden, uns zu enga­gieren. Wir sind in etwas enga­giert. Und damit können wir die poli­ti­sche Dimen­sion unseres Handelns nicht länger verdrängen und bestreiten.“

An dieses Enga­ge­ment glaube ich. Mein Schreiben ist ein Versuch, diesem Anspruch an das eigene Enga­giert­sein gerecht zu werden. Durch mein Schreiben erweckte ich die sozialen Bedin­gungen, durch die ich meine wesent­liche Prägung erfuhr, zum Leben. Oder besser: Ich gewann ein Verständnis davon, welche Macht­dy­na­miken in mir wirkten. 

Die Not, mich selbst verstehen zu wollen, brachte die Suche nach der eigenen Posi­tion ins Rollen, sie bildete den Ausgangs­punkt einer Beschäf­ti­gung mit den Geschichten meiner Eltern. Ich wollte meine Geschichte aufschreiben und die Geschichten meiner Familie. Dabei ist es nicht geblieben.

Der Essay­band „Von der namen­losen Menge“ erscheint am 16. Mai 2024 im Haymon Verlag. Hier könnt ihr ihn bestellen.

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