Serge Kahatwa sitzt erschöpft in seinem Büro und blickt ernst über den Rand seiner Schutzmaske. „Heute Nacht sind wieder drei Covid-Patienten gestorben. Mindestens einen hätten wir retten können, wenn wir genug Sauerstoff gehabt hätten“, erzählt der medizinische Direktor des Krankenhauses Heal Africa in Goma. Das Hospital im Ostkongo produziert 15 Flaschen Sauerstoff pro Tag. Es bräuchte aber 20, um alle Covid-Patient:innen in den 34 Zimmern versorgen zu können.
Seit einigen Wochen steigt die Zahl der Covid-Fälle in der Provinz Nord-Kivu schneller als zuvor. Ein Fünftel der Fälle, die im Kongo in den vergangenen beiden Wochen registriert wurden, entfallen auf Nord-Kivu. In den Leichenhallen ist kaum noch Platz. Viele Tote müssen sofort beerdigt werden. Bis zum 24. Juli verzeichnete die Demokratische Republik Kongo insgesamt 48 970 Infektionen, davon 4 427 in Nord-Kivu. Die Provinz kommt damit an zweiter Stelle nach der Hauptstadt Kinshasa. Laut der offiziellen Statistik sind 1 023 Menschen im Kongo an der Krankheit gestorben. Vermutlich sind es deutlich mehr. Denn im Land mit 90 Millionen Einwohner:innen wird nur wenig getestet.
Den Krankenhäusern in Goma gehen Sauerstoff, Masken, Handschuhe und Schutzumhänge aus. „Wenn wir keine Unterstützung bekommen, haben wir bald indische Verhältnisse“, warnt Chefmediziner Kahatwa. Die internationale Hilfsbereitschaft sei deutlich geringer als bei der Ebola-Epidemie vor drei Jahren, stellt er fest. Damals waren die reichen Länder noch nicht damit beschäftigt, eine Pandemie zu bekämpfen und ihre Wirtschaft zu retten.
Zahlreiche Ansteckungen nach dem Vulkanausbruch
Eine Ursache für die vielen Covid-Fälle in Nord-Kivu ist unter anderem der Ausbruch des Nyiragongo-Vulkans im Mai. Damals sind die Menschen in Panik aus Goma geflüchtet, eng gedrängt, ohne Masken, ohne Wasser, ohne Seife oder Desinfektionsmittel. Sie waren völlig auf sich selbst gestellt. Denn viele Entwicklungshelfer:innen waren aus Angst vor Lava und Erdbeben Hals über Kopf abgereist und die örtlichen Behörden waren überfordert.
Inzwischen ist die hochansteckende Delta-Variante des Coronavirus auch im Kongo angekommen. Damit trifft die Pandemie eines der ärmsten Länder der Welt, das von einer Krise in die nächste schlittert. Im Osten marodieren seit Jahrzehnten Milizen. Daran ändert die weltweit grösste Friedensmission der Vereinten Nationen bisher nur wenig. Armut und Gewalt bleiben. Die Menschen haben längst alles Vertrauen verloren, in die eigene Regierung ebenso wie in ausländische Helfer:innen.
Impfdosen vernichtet trotz steigender Zahlen
Als wäre das nicht genug, musste Kahatwa nun ein Schild an das Krankenhaustor kleben lassen, auf dem steht: „Wir stellen das Impfen gegen Covid-19 vorübergehend ein. Danke für ihr Verständnis.“ Wie es dazu gekommen ist, kann der Arzt Stéphane Hans Bateyi erklären. Er arbeitet am anderen Ende der Stadt und leitet die Impfkampagne der Provinzregierung. Im März haben die reichen Länder im Rahmen der Covax-Initiative dem Kongo 1,7 Millionen Dosen von AstraZeneca gespendet. „Kurz darauf mussten wir 1,3 Millionen Dosen an andere afrikanische Länder abtreten, weil abzusehen war, dass wir nicht alle verabreichen können“, sagt Bateyi. Covax wurde von der WHO und der EU-Kommission ins Leben gerufen. Die Initiative soll dafür sorgen, dass alle Länder, unabhängig von der finanziellen Lage, Zugang zu Vakzinen bekommen.
Argwohn in der Bevölkerung bremst die Kampagne aus. Eine Umfrage der Afrikanischen Union unter 15 Ländern zeigt, dass Kongoles:innen skeptischer gegen das Impfen sind als andere Afrikaner:innen. Dazu mag beigetragen haben, dass Staatspräsident Félix Tshisekedi öffentlich erklärte, er warte lieber auf einen anderen Impfstoff, da es international Bedenken gegen AstraZeneca gebe. Viele Länder in Europa haben das Vakzin aus indischer Produktion, das nach Afrika geliefert wurde, zunächst nicht anerkannt. Die Schweiz hat bisher den Impfstoff auch aus britischer Produktion nicht zugelassen. Solche Meldungen nährten den Verdacht, das Vakzin, das Afrika gespendet wurde, sei ein Impfstoff zweiter Klasse. Seit ein Mann in der Hauptstadt Kinshasa nach der Impfung gestorben ist, steigt das Misstrauen noch mehr. „Der Fall wird untersucht“, versichert Bateyi.
Er führt in das Kühlhaus, in dem die Kartons mit den Impfampullen gelagert werden. Jemand hat in grossen roten Buchstaben darauf geschrieben: „Achtung, nicht mehr verwenden, abgelaufen.“ Bald werden die Dosen in einem Ofen der UN-Friedensmission unter Aufsicht eines Staatsanwalts verbrannt. Von den 400 000 Dosen, die im Kongo verblieben sind, „haben wir insgesamt nicht einmal 100 000 verwendet“, schimpft Bateyi.
Nach dieser Rechnung werden im Kongo rund 300 000 Dosen vernichtet, mehr als anderswo in Afrika. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) beziffert die Zahl der abgelaufenen Dosen auf dem Kontinent mit insgesamt 450 000. Neben dem Kongo verbrennen Malawi, Südsudan, Liberia, Mauretanien, Gambia, Sierra Leone, Guinea und die Komoren Vakzine. Manche Dosen wurden relativ kurz vor dem Ablaufdatum nach Afrika geliefert.
Ausländische Helfer:innen profitieren von der Impfskepsis
Tuver Wundi, Leiter der Redaktion des Staatsradios in Goma, gibt den sozialen Medien eine Mitschuld an der grossen Impfskepsis der Kongoles:innen: „Es wurde viel gehetzt. Die Leute dachten, dass sie als Versuchskaninchen für die westliche Pharmaindustrie herhalten müssten. Sie glaubten, sie würden nach dem Impfen sterben.“ Wundi hat sich impfen lassen, weil er als Journalist viele Leute trifft, die auf Abstandhalten oder Masketragen pfeifen. Der Kampf um das tägliche Überleben nimmt all ihre Energie in Anspruch. Da bleibt auch kaum Zeit, über das Impfen nachzudenken oder sich über verschiedene Impfstoffe zu informieren.
Ganz anders ergeht es den vielen ausländischen Entwicklungshelfer:innen in Goma. In den Messenger-Gruppen überschlagen sich die Ankündigen, wer sich wo und wann impfen lassen kann, welcher Impfstoff welche Vor- oder Nachteile hat. „Relativ zur Einwohnerzahl kamen mehr Fremde als Kongolesen zum Impfen“, schätzt der Arzt Justin Hangi. Er arbeitet im Krankenhaus Heal Africa und leitet dort das Impfprogramm. „Ich hätte mir mehr kongolesische Kundschaft gewünscht, aber ich impfe natürlich auch gerne die Weissen“, versichert er.
Eine von ihnen ist Emma Camp. Zuerst habe sie gezögert, gibt die Britin zu. Schliesslich sollen die Impfdosen der Covax-Initiative armen Menschen zugutekommen. „Als ich gehört habe, dass die Dosen zurückgeschickt werden, habe ich mich impfen lassen“, erzählt Camp, zumal sie 2 300 Euro für die Quarantäne in einem Hotel hätte ausgeben müssen, wenn sie zum Impfen nach Grossbritannien geflogen wäre.
Die Vereinten Nationen haben eigens für ihre Angestellten im Kongo zusätzlich weitere 25 000 Dosen AstraZeneca-Impfstoff ausserhalb der Covax-Initiative eingeflogen. Den grössten Teil spendete ausgerechnet das von der Pandemie hart getroffene Indien. Denn viele Blauhelm-Soldat:innen stammen aus dem asiatischen Land. Angestellte der UN und internationaler Organisationen hoffen, dass sie künftig dank einer Impfung leichter reisen können. Viele von ihnen bekommen alle paar Monate Sonderurlaub, weil sie in einem Krisengebiet arbeiten. Ständige Tests und Quarantäne sind ihnen lästig.
Überzeugungsarbeit bleibt schwierig
Die amerikanische Missionarin Michelle Smith hält es für ein gutes Werk, dass sie sich hat impfen lassen. „Wir Ausländer reisen in alle Welt, wir müssen die Kongoles:innen schützen“, findet sie. Ausserdem wollte sie mit gutem Beispiel vorangehen. „Wenn wir uns impfen lassen, zeigt das den Kongoles:innen, dass es nicht gefährlich ist. Das kann sie motivieren, sich auch impfen zu lassen“, glaubt Smith. Aus ihrem guten Beispiel wurde allerdings nur bedingt etwas. Kaum hatte sie die zweite Impfdosis erhalten, ist sie an Covid-19 erkrankt. Nun erklärt sie ihren kongolesischen Freund:innen, dass dank der Impfung zumindest die Symptome nicht so stark sind. Aber die Überzeugungsarbeit bleibt schwierig.
Die kongolesische Aktivistin Passy Mubalama ärgert sich darüber, wie die Impfkampagne verläuft. „Es zeugt von einer schlechten Politik, wenn sich eher die Ausländer:innen als die Einheimischen impfen lassen“, schimpft sie. Die Reichen seien doch sowieso schon besser geschützt als die arme Mutter, die sich jeden Tag auf dem Markt drängelt, um ihre Tomaten zu verkaufen. „Wir müssen die Menschen besser aufklären“, fordert sie. Mubalama war lange Zeit skeptisch und wollte sich nicht impfen lassen. „Man weiss nicht, was langfristig passiert“, argwöhnt sie. Aber angesichts der vielen Toten in Goma ändert sie gerade ihre Meinung.
Der Kongo hat nochmals fünf Millionen Impfdosen bei der Covax-Initiative angefragt. Die ersten Ampullen sollen in den nächsten Wochen eintreffen. Chefredakteur Wundi hofft, dass die Kampagne dieses Mal besser läuft. „Wir können nicht noch einmal internationale Spenden verschwenden, die andere gut brauchen könnten“, sagt er.
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