Nestlé in Marokko wegen Steu­er­hin­ter­zie­hung beschuldigt

Nestlé droht in Marokko ein Finanz­skandal: Wegen Steu­er­hin­ter­zie­hung soll der Lebens­mit­tel­kon­zern eine Summe von 110 Millionen US Dollar an die marok­ka­ni­sche Steu­er­be­hörde zahlen. Was in Nord- und West­afrika als histo­ri­scher Fall von Verrech­nungs­preis­prü­fungen gilt, hat über die Region hinaus bislang kaum Aufmerk­sam­keit erlangt – trotz mögli­cher Signalwirkung. 
Marokko stützt sich hauptsächlich auf Steuereinnahmen von multinationalen Unternehmen, um die Entwicklung des Landes zu finanzieren. Bei Nestlé scheint das Land fündig geworden zu sein. (Foto: Inma Santiago / Unsplash)

110 Millionen US Dollar soll Nestlé Maroc an die marok­ka­ni­sche Steu­er­be­hörde bezahlen. Was der grössten Toch­ter­ge­sell­schaft der Nestlé-Gruppe auf dem afri­ka­ni­schen Konti­nent bevor­steht – eine Steu­er­be­rich­ti­gung in dieser Höhe – ist laut dem Steu­er­be­rater Mourad Chatar und Verrech­nungs­preis­ma­na­gerin Sarah Bahous rekord­ver­dächtig. Und doch ist der seit Ende August bekannte Fall bis anhin nur in marok­ka­ni­schen oder west­afri­ka­ni­schen Medien thema­ti­siert worden. 

Was droht der Toch­ter­ge­sell­schaft des welt­weit führenden Nahrungs­mit­tel­kon­zerns, der in Fabriken in Casa­blanca und El Jadida Milch­pro­dukte produ­ziert? Und wie kam es dazu? 

Verrech­nungs­preise als Schlupfloch

Im Zuge einer Kontrolle von Nestlé Marocs Unter­neh­mens­ab­schluss haben marok­ka­ni­sche Steuerprüfer:innen unzu­läs­sige Gewinn­trans­fers an die Mutter­ge­sell­schaft fest­ge­stellt. Die Steu­er­be­hörde wirft dem Konzern vor, die Steu­er­be­mes­sungs­grund­lage in Marokko durch die Mani­pu­la­tion von Verrech­nungs­preisen verrin­gert zu haben – zugun­sten des Haupt­sitzes von Nestlé in Vevey am Genfersee. 

Verrech­nungs­preise – also die Preise, die für inner­be­trieb­lich ausge­tauschte Güter und Dienst­lei­stungen bezahlt werden – stellen noch immer eines der grössten Probleme in der Besteue­rung von multi­na­tio­nalen Unter­nehmen dar. Vor allem für Länder des globalen Südens bergen die Berech­nungs­prin­zi­pien grosse Heraus­for­de­rungen, wie das Lamm mit Blick auf die Verhand­lungen über Konzern­be­steue­rung berichtete. 

Forscher:innen des Tax Justice Network haben 2017 geschätzt, dass Marokko aufgrund von Steu­er­hin­ter­zie­hung durch multi­na­tio­nale Unter­nehmen bis zu 2,45 Milli­arden US Dollar im Jahr verliert. Laut Oxfam entspricht dies 2,34 Prozent des Brut­to­in­land­pro­duktes Marokkos oder dem Gegen­wert von 40 Krankenhäusern. 

Damit die einzelnen Konzern­teile multi­na­tio­naler Unter­nehmen dort Gewinn erzielen, wo sie ihn erwirt­schaften – und ihn dort dann auch versteuern – müssten sich die Preise für Käufe und Verkäufe von Waren und Dienst­lei­stungen zwischen Mutter- und Toch­ter­ge­sell­schaften eigent­lich am Markt­preis orien­tieren. Das tun sie aber oft nicht. Multi­na­tio­nale Konzerne umgehen damit höhere Unter­neh­mens­steuern – oft in Produk­ti­ons­län­dern. Das Problem: Um die Trans­fer­preise zu über­prüfen, bedarf es nicht nur finan­zi­eller, sondern auch perso­neller Ressourcen aufseiten der Steuerbehörden.

Dass sich der Einsatz dieser Ressourcen lohnen kann, zeigt das Beispiel Marokko.

Muster­bei­spiel Marokko

Marokko verfügt über eine sehr gut orga­ni­sierte und struk­tu­rierte Steu­er­ver­wal­tung. Sie beinhaltet unter anderem eine eigene Abtei­lung für Prüfungen, der auch die natio­nale Abtei­lung für Gross­un­ter­nehmen angehört.

Einen Teil ihrer fast 5’000 Beamt:innen hat sie in OECD-Schu­lungen zu Verrech­nungs­preisen, Infor­ma­ti­ons­aus­tausch oder Besteue­rung der digi­talen Wirt­schaft ausbilden lassen. 12,5 Prozent der Mitarbeiter:innen, von denen ein Viertel zwischen 30 und 34 Jahre alt ist, befasst sich ausschliess­lich mit Über­prü­fungen von Steuerzahler:innen. 

Steu­er­prü­fungen werden immer gezielter durch­ge­führt und sind eine der wich­tig­sten Quellen für Haus­halts­ein­nahmen. Dabei sind der wich­tigste Angriffs­punkt die Verrech­nungs­preise in den Toch­ter­ge­sell­schaften multi­na­tio­naler Unternehmen.

Das Land hat aber auch auf gesetz­li­cher Ebene Ände­rungen herbei­ge­führt. Und zwar, indem es 2019 den Mecha­nismus der „vorhe­rigen Verein­ba­rungen über Verrech­nungs­preise“ einge­führt hat. Dabei können multi­na­tio­nale Unter­nehmen ihre Verrech­nungs­preis­me­thode jeweils im Voraus von der Steu­er­be­hörde vali­dieren lassen – frei­willig. Hingegen sind sie dazu verpflichtet, eine Verrech­nungs­preis­do­ku­men­ta­tion zu erstellen, die belegt, dass ihre konzern­in­ternen Trans­ak­tionen gemäss den OECD-Regeln erfolgt sind.

Als Nestlé der marok­ka­ni­schen Steu­er­be­hörde die ange­for­derte Verrech­nungs­preis­do­ku­men­ta­tion im Rahmen der Prüfung zur Verfü­gung stellte, hat diese Nestlés ange­wandte Methode abge­lehnt. Der Lebens­mit­tel­kon­zern hat scheinbar keine Vorab-Preis­ver­ein­ba­rung mit den marok­ka­ni­schen Steu­er­be­hörden abge­schlossen. Auf die Frage nach Gründen dafür wollte das Unter­nehmen gegen­über das Lamm keine Stel­lung nehmen.

Fall mit Signalwirkung

Die gefor­derte Zahlung von 110 Millionen US Dollar ist sowohl als Neuver­an­la­gung der Steuern sowie als Strafe konzi­piert, die Nestlés Toch­ter­ge­sell­schaft zahlen soll, weil sie einen Teil ihrer Gewinne nicht dekla­riert, sondern in die Schweiz trans­fe­riert hat. Dabei orien­tiert sich die Steu­er­be­hörde am Haus­halts­ge­setz 2021, welches neu auch den Umfang der Doku­men­ta­ti­ons­pflichten für Verrech­nungs­preise sowie die anwend­baren Sank­tionen fest­ge­legt hat. 

Die Höhe der gefor­derten Zahlung sei ausser­ge­wöhn­lich, sagt ein marok­ka­ni­scher Jour­na­list, der anonym bleiben möchte, gegen­über das Lamm. Seines Wissens sei es die zweit­grösste Steu­er­mah­nung, die je an ein Unter­nehmen in Marokko gerichtet wurde.

Nestlé hat auf diese Beschul­di­gung hin interne Steueranwält:innen aus Vevey mobi­li­siert und die marok­ka­ni­sche Steu­er­be­ra­tungs­firma EY ange­heuert. Diese haben den Fall der Natio­nalen Kommis­sion für Steu­er­be­schwerden vorge­legt und versu­chen nun, eine Eini­gung zu finden oder die Höhe der Strafe zu verringern.

Imane Zaoui, Gene­ral­di­rek­torin von Nestlé Maroc, äusserte sich gegen­über Finan­cial Afrik, dass „die von Nestlé Maroc ange­wandte Methode ein globales System ist, das in allen Toch­ter­ge­sell­schaften der Gruppe umge­setzt wird“. Dem Lamm gegen­über wollte Nestlé die Ange­le­gen­heit zurzeit nicht weiter kommen­tieren, sie würden in der Sache mit den Steu­er­be­hörden vor Ort zusammenarbeiten. 

Neun von zehn Prüfungen der marok­ka­ni­schen Steu­er­be­hörde werden mit Vergleichs­ver­ein­ba­rungen abge­schlossen. Falls bei der Steu­er­be­schwer­de­kom­mis­sion jedoch keine Eini­gung erlangt wird, kommt es zu einem Gerichts­ver­fahren. Je nachdem, wie der Fall Nestlé Maroc ausgeht, könnte er bedeu­tende Signal­wir­kung haben: dass die gesetz­liche Einfüh­rung von Verrech­nungs­preis­vor­schriften und Inve­sti­tionen in die Steu­er­ver­wal­tung sich auszahlen. Und dass die von Nestlé ange­wandte Verrech­nungs­preis­me­thode auch in anderen Ländern unter die Lupe genommen werden sollte.


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