NoFrontex: “Ein soli­da­ri­scher Ruck muss durch die Gesell­schaft gehen“

Es bleiben nur noch wenige Wochen, um die nötigen Unter­schriften gegen die Unter­stüt­zung der Grenz­schutz­agentur Frontex zu sammeln. Die Aktivist:innen vom Migrant Soli­da­rity Network kämpfen gegen das Wetter, gegen Corona und eine verbrei­tete Gleich­gül­tig­keit. Aufgeben werden sie nicht. 
Schlagstöcke, Stacheldraht und gewaltsame Pushbacks: unter Geflüchteten wird Frontex auch NATO Police genannt. (Illustration: Luca Mondgenast)

„10‘000 Unter­schriften sind zu wenig“, sagt Miriam Helfen­stein vom Komitee für das Frontex-Refe­rendum. Das Komitee hat am Freitag zur Pres­se­kon­fe­renz geladen, um beim Endspurt der Unter­schrif­ten­samm­lung noch mal richtig zu mobi­li­sieren. Denn die Zeit wird knapp. Bis zum 18. Januar 2022 müssen die nötigen 50‘000 Unter­schriften vorliegen. Weil sie noch von den Heimat­ge­meinden beglau­bigt werden müssen, läuft die Sammel­frist aber schon Ende Jahr aus.

Das heisst: In den kommenden zwei Wochen müssen noch 40‘000 Unter­schriften zusam­men­kommen. Um das zu schaffen, sollte, wie Miriam Helfen­stein sagt, „ein soli­da­ri­scher Ruck“ durch die Gesell­schaft gehen.

Ziel des Refe­ren­dums ist es, die Methoden, mit denen Frontex geflüch­tete Menschen an den euro­päi­schen Aussen­grenzen behan­delt, anzu­pran­gern und die Schweizer Unter­stüt­zung für die EU-Agentur zu stoppen. Als Schengen-Mitglied ist die Schweiz seit 2009 finan­ziell und perso­nell an der Grenz­schutz­agentur betei­ligt. Erst im vergan­genen September hat der Natio­nalrat einem verstärkten Enga­ge­ment zu gestimmt und den Etat von 14 auf 61 Millionen CHF aufgestockt.

„Nicht in unserem Namen! Sagt die Initia­tive NoFrontex und fordert, die finan­zi­elle Unter­stüt­zung komplett zu strei­chen. Frontex soll als „Symbol der abschot­tenden gewalt­vollen euro­päi­schen Migra­ti­ons­po­litik“ abge­schafft werden. Für Saeed Fark­hondeh vom Migrant Soli­da­rity Network ist durch eine mitt­ler­weile grosse Anzahl von Augenzeug:innenberichten klar, „was Migrant:innen und Aktivist:innen seit Jahren sagen: Frontex ist mitschuldig an schweren Menschen­rechts­ver­let­zungen an den EU-Aussengrenzen.“

EU-Parla­ment weiss Bescheid

Fakten, die auch vom EU-Parla­ment bestä­tigt werden. Eine eigens in Auftrag gege­bene mona­te­lange Unter­su­chung hat im Juli 2021 ergeben, dass Frontex Grund­rechts­ver­let­zungen von Geflüch­teten minde­stens billigt. Beson­ders in Ungarn und in Grie­chen­land schaue die Agentur bei gewalt­samen Push­backs und Über­griffen auf Geflüch­tete aktiv weg und sei mitver­ant­wort­lich für zahl­reiche Menschen­rechts­ver­let­zungen. Der etwa zeit­gleich erschie­nene Amnesty Inter­na­tional Bericht „Greece: Violence, lies and push­backs“ listet auf 46 Seiten Beweise auf, dass ille­gale Push­backs unter Aufsicht von Frontex heute Norma­lität geworden sind.

In seinem Kurz­re­ferat zur Situa­tion des Refe­ren­dums fordert Fark­hondeh darum die Entkri­mi­na­li­sie­rung von Migra­tion nach Europa und vor allem ein Ende der Mili­ta­ri­sie­rung an den Grenzen.

Dass diese Mili­ta­ri­sie­rung und die einher­ge­hende Gewalt gegen Geflüch­tete feder­füh­rend von Frontex betrieben wird, ist eine durch­ge­hende Kritik aller unter­stüt­zenden Orga­ni­sa­tionen, die bei der Pres­se­kon­fe­renz spre­chen. Ein krasses Beispiel für die teils mili­tanten Methoden liefert die Zusam­men­ar­beit zwischen Frontex und liby­schen Behörden auf dem Mittel­meer, wie Malek Ossi von Alarm Phone, einem Notruf­te­lefon für Flüch­tende in Seenot, erklärt.

Drohnen und Flug­zeuge statt Rettungsboote

Mit einigen anderen NGOs hat Alarm Phone den Bericht „Remote Crontrol“ verfasst, der das Vorgehen minu­tiös beschreibt: Bei der Themis genannten Frontex-Mission werden Boote von Migrant:innen im zentralen Mittel­meer mit Drohnen und Flug­zeugen aufge­spürt und ihre Posi­tionen anschlies­send an die liby­sche Küsten­wache durch­ge­geben. Libyen kassiert die Menschen ein und schafft sie zurück ins eigene Land, wo sie meist in einem intrans­pa­renten System von Camps verschwinden. Dass viele der Flücht­lings­boote tatsäch­lich in Seenot sind und Frontex verpflichtet wäre, Hilfe zu leisten, minde­stens aber Rettungs­schiffe von euro­päi­scher Seite zu alar­mieren, wird igno­riert und der Tod von Menschen billi­gend in Kauf genommen.

Drohnen und Flug­zeuge statt Rettungs­boote stehen für die Mili­ta­ri­sie­rung auf dem Meer; Miss­hand­lungen und Push­backs für den glei­chen Vorgang an Land.

Von der Situa­tion an der alba­nisch-grie­chi­schen Grenze etwa berichten Anja und Phil­ippe, zwei Aktivist:innen für People on the Move. Sie sind regel­mässig in Nord­grie­chen­land vor Ort und sammeln in Inter­views Erfah­rungs­be­richte flüch­tender Menschen. In deren Erzäh­lung tritt Frontex oft als eine Art mili­ta­ri­sierter Poli­zei­ein­heit ohne kontrol­lie­rende Instanz auf. Die gängige Bezeich­nung unter Geflüch­teten ist NATO-Police.

Dementspre­chend sind die Berichte voll brutaler poli­zei­li­cher Über­griffe. Menschen, die das Recht auf eine faire Prüfung ihres Asyl­ge­suchs in Anspruch nehmen wollen, werden wie Verbrecher:innen zusam­men­ge­trieben und einge­sperrt, nicht selten geschlagen: „Some of the men were chosen and had to step forward. Then police beat these men in front of all of us. They also chose me and kicked me into my head when I was already lying on the ground“, heisst es in einem der Inter­views. Eine typi­sche und häufig berich­tete Pushback-Szene.

Vor diesem Hinter­grund erscheint, wie jemand aus dem Publikum anmerkt, auch die verbrei­tete Kritik an Polens Mili­ta­ri­sie­rungs­kurs ein wenig heuch­le­risch. Der EU-Mitglieds­staat setzt natio­nales Militär gegen Migrant:innen ein und hat Frontex gar nicht erst ange­fragt. Hier wäre die Wahl, folgt man den Refe­rie­renden, ohnehin eine zwischen Pest und Cholera. Mili­tante Flücht­lings­ab­wehr betreiben mitt­ler­weile alle Seiten – darunter eben auch die Schweiz, die Frontex umfäng­lich unterstützt.

Die Zeit läuft ab

Wer sich dem entge­gen­stellen will, sollte nicht nur rasch die eigene Unter­schrift leisten, sondern ange­sichts der geringen Betei­li­gung auch aktiv weitere Unterstützer:innen anwerben. Denn trotz der erdrückenden Fakten über Frontex, ist das Refe­rendum noch nicht richtig in die Gänge gekommen. Was Miriam Helfen­stein auch mit dem nass­kalten Winter und Corona erklärt: „Ist es bei diesem Wetter ohnehin schon schwer, Menschen auf der Strasse anzu­halten und im Gespräch zu über­zeugen, wird es mit Maske und Sicher­heits­ab­stand fast unmöglich.“

Trotzdem gebe es eine einfache Lösung: Jede Person, die bis jetzt schon unter­schrieben hat, müsste nur fünf weitere anwerben und das nötige Quorum wäre erreicht. Das sollte auch im tief­sten Coro­na­winter möglich sein.

Unab­hängig vom Ausgang der Sammel­ak­tion, betont Saeed Fark­hondeh vom Migrant Soli­da­rity Network am Ende der Pres­se­kon­fe­renz, sei es wichtig, eine anhal­tende gesell­schaft­liche Diskus­sion über Frontex zu führen. Die Vorgänge an den euro­päi­schen Grenzen müssen im öffent­li­chen Bewusst­sein präsent bleiben: „Wir müssen dafür sorgen, dass der Diskurs über Frontex inten­si­viert wird und weiter­geht, zu Hause in der Familie, bei der Arbeit und beson­ders auch in den Medien.“


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