17’000 Zeichen reak­tio­näres Gedöns

Thomas Sevcik ist zwar laut Schweizer Defi­ni­tion knapp kein Baby­boomer, schreibt aber in seinem Essay für das neue Magazin der NZZ am Sonntag trotzdem wie einer. Eine Streit­schrift sei das, schreibt er. Na dann, let’s fight. 

Diesen Monat bin ich etwas zu spät dran mit der Abgabe meiner Kolumne. Das ist natür­lich nicht verwun­der­lich, bin ich schliess­lich eine Schweizer Frau und die haben es gern bequem, wie uns das Magazin der NZZ am Sonntag vor zwei Wochen lehrte. Im Titel-Essay in Repu­blik-Länge schreibt der Unter­nehmer und Berater Thomas Sevcik darüber, dass es Schweizer Frauen an Macht­hunger fehle, dass sie deshalb im Vergleich mit den Männern weniger arbeiten – aber imfall auch weniger Kinder bekommen als etwa die Frauen in Schweden, folg­lich also auch weniger Kinder betreuen müssen. Und dass es unter anderem aus diesen Gründen mit der Gleich­stel­lung in der Schweiz hapert.

Der Betreu­ungs­auf­wand von Schwe­dinnen, schreibt Sevcik, sei im Schnitt um 17 Prozent höher als derje­nige der Schwei­ze­rinnen. Zahlen seien nunmal Zahlen, findet er, mit einer Stati­stik belegen kann er sie aller­dings nicht. Dass Schweden eine Eltern­zeit von statt­li­chen 480 Tagen hat, erwähnt er eben­falls nicht. Würde ja auch seine These biss­chen kaputt machen. Er findet in seinem Essay aber eine andere, hieb- und stich­feste Beweis­lage für seine Theorie, dass Schweizer Frauen unglaub­lich bequem seien: Den Leser*innen empfiehlt er eine Fahrt „mit einer belie­bigen Schweizer S‑Bahn um 11 Uhr vormit­tags“, es habe dort „viele Frauen allen Alters“. Dabei sei 11 Uhr morgens eine Zeit, in der wirk­lich alle, die beschäf­tigt sind – im Büro, in der Indu­strie, der Gastro­nomie, Bildung oder im Verkauf –, eben beschäf­tigt sind. „Was also machen alle diese Frauen um diese Zeit in der S‑Bahn?“, fragt Sevcik. Nun, die kommen viel­leicht von einem Teil­zeitjob, sind auf dem Weg zu einem solchen, sind fertig mit ihrer Schicht im Verkauf (weisch, Sevcik, dort wo die „Beschäf­tigen“ arbeiten), waren gerade bei einem Kunden, sind Free­lan­ce­rinnen, sie sind viel­leicht auf dem Weg in die Kita, weil der Vater der Kinder keine Zeit hat (weil wir in einem Land leben, in dem die einfluss­reichste Partei den Vater­schafts­ur­laub als „Ferien“ bezeichnet und vehe­ment gegen dessen Einfüh­rung ankämpft). Aber was weiss ich schon, ich bin ja eigent­lich viel zu bequem, um mir solche Gedanken zu machen.

Sevcik hat aber nicht nur etwas gegen faule Frauen, er ist so gross­zügig und gibt ihnen gleich Tipps mit auf den Weg, damit es endlich klappt mit der Gleich­be­rech­ti­gung der Geschlechter in diesem Land. Es brauche verbind­liche Frau­en­quoten für Toppo­si­tionen – weil, Halle­luja Kapi­ta­lismus, ohne „Wille zur Macht“, wie Sevcik schreibt, geht eh gar nichts – und kosten­gün­stige, flächen­deckende Kitas. Klin­gelt da etwas? Genau, das sind zwei der vielen Punkte, die Feminist*innen in diesem Land seit Jahr­zehnten immer wieder einfor­dern. Unter anderem übri­gens auch am dies­jäh­rigen Frauen*streik, den Sevcik aber „kindisch“ findet. Sorry, liebe Zehn­tau­sende Frauen und soli­da­ri­sche Menschen, die im Juni auf die Strassen strömten. Einen echten System­wechsel gibts halt nur mit 17’000 Zeichen im Magazin der NZZ am Sonntag, und auch nur, wenn sie von einem wohl­ha­benden, weissen cis-Dude kommen. Des weiteren will Sevcik, dass Frauen eben­falls Militär- und Zivil­dienst leisten, weil „die selbst­er­nannte Leader­ship-Insti­tu­tion Armee zu dumm ist, um zu verstehen, dass unter den Stärk­sten, Mutig­sten und Schlau­sten des Landes rein stati­stisch etwa die Hälfte Frauen wären“, und sorry, ich bin kurz einge­schlafen, weil pseu­do­li­be­rale Parolen manchmal diesen Effekt auf mich haben, aber jeden­falls was zur Hölle hat ein auf Frauen ausge­dehnter Zwang mit Gleich­be­rech­ti­gung zu tun? Und zudem sollen Frauen (aber imfall auch Männer), die das Studium als „lustiges Konsum­er­lebnis sehen“ und die Frech­heit besitzen, danach Teil­zeit zu arbeiten, „ihr Studium zurück­zahlen“. An wen? Warum? Wird nicht erklärt.

Der Essay solle die „Grenzen des Konsens“ infrage stellen, schreibt Nicole Althaus, Co-Chef­re­dak­torin des Maga­zins, im Kommentar zum Essay. Man müsse die Frage stellen dürfen, ob sich Frauen nicht auch auf ihren Privi­le­gien ausruhen, wenn man das schon den Männern vorwerfe. Das stimmt, man soll solche Fragen stellen dürfen. Und gene­rell finde ich mehr Diver­sität im femi­ni­sti­schen Diskurs super. Dass jetzt aber noch ein Mann mit einer arro­ganten Haltung seine Meinung kundtut und den Frauen Faul­heit vorwirft – mind you, im Frau­en­wahl­jahr 2019, im Frauen*streikjahr 2019, und zwei Jahre, nachdem #metoo auch in der Schweiz zum Thema wurde –, finde ich nicht falsch, will ich nicht zensieren und schon gar nicht verbieten, aber mit Verlaub, ich finde es einfach wahn­sinnig lang­weilig und fanta­sielos. Mehr Diver­sität im femi­ni­sti­schen Diskurs ist aber drin­gend nötig. Liebe NZZ am Sonntag, wie wärs darum mit einer Kolumne von einer nicht-weissen Frau mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund? Oder mit einem 17’000-Zeichen-Essay von einer Kosme­tik­ver­käu­ferin mit Burnout zum Black Friday? Bizli krass für die Dufour­strasse, ich weiss, aber auch das wäre Diversität.

Althaus schreibt in ihrem Kommentar ausserdem: „Wer die weib­liche Opfer­po­si­tion für die einzig disku­table Option hält, zwingt Frauen in die Passi­vität.“ Woher die Haltung kommt, das Kriti­sieren und Aufzeigen von diskri­mi­nie­renden Struk­turen ist gleich Opfer­hal­tung, ist mir nach wie vor ein Rätsel. Wiederum bewegt sich mein Lohn und der meiner Bubble auch knapp unter­halb der Armuts­grenze, ich kenne genü­gend Leute, die Probleme haben, die Steuern zu bezahlen und nicht wenige Menschen, denen kapi­ta­li­sti­sche Struk­turen derart zu schaffen machen, dass sie deswegen krank werden – nicht nur Frauen, aber die sind in der Mehr­heit. Diese Menschen wirken auf mich ganz und gar nicht wie Opfer – und sind es aus struk­tu­reller Sicht trotzdem. Aber sie wehren sich. Und für sie ist ein Essay wie das von Sevcik ein Schlag in die Magen­grube. Ich könnte mich gut und gerne noch weiter aufregen, aber ich muss leider auf die S‑Bahn.


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