Das Lamm: Tenzin Netsang, weshalb fordern Sie vom VTJE den Boykott der Olympischen Winterspiele in Peking?
Tenzin Netsang: Erst möchte ich hier voranstellen, dass vor dem Aufruf zum Boykott der Olympischen Winterspiele in Peking 2022 in Gesprächen mit dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) stets versucht wurde, eine Lösung zu finden, die nicht so weit geht wie ein Boykott.
Das IOC wurde aufgefordert, die Winterspiele in Peking an einen anderen Austragungsort zu verlegen oder zumindest die Spiele zu verschieben, bis ein neuer Austragungsort gefunden wird, der die olympischen Werte aufrechterhalten kann. Bis heute hat das IOC diesen Aufrufen kein Gehör geschenkt, obwohl klare Beweise für die schweren Menschenrechtsverletzungen Chinas vorliegen.
Warum stellt sich das IOC taub?
Bereits im Rahmen der Olympischen Sommerspiele in Peking 2008 weigerte sich das IOC, die Menschenrechtslage in Tibet und China ernst zu nehmen und verteidigte seine Entscheidung zur Austragung der Spiele in China damit, dass sich diese als Katalysator für verbesserte Menschenrechte erweisen würden. Wie Expert:innen vorausgesagt hatten und diverse Berichte belegen, erwies sich diese Vorstellung als falsch. Statt dass sich Chinas Menschenrechtsbilanz verbesserte, nahmen die Verletzungen der Menschenrechte sogar erheblich zu. Als Zeichen gegen die Unterdrückung Chinas und die Austragung der Olympischen Spiele in Peking fanden 2008 in ganz Tibet Proteste statt. Diese wurden von den chinesischen Sicherheitskräften blutig niedergeschlagen. Daraufhin wurde der Überwachungs- und Unterdrückungsapparat in Tibet massiv ausgebaut.
Über 150 Tibeter:innen haben sich seit 2009 aus Protest gegen die Unterdrückung und die illegale chinesische Besetzung Tibets selbst verbrannt. In voller Kenntnis darüber, wozu die Olympia-Gastgeberin fähig ist, hat sich das IOC bewusst dafür entschieden, sämtliche Bedenken an einer Austragung der Olympischen Spiele in China 2022 zu ignorieren und stattdessen Profit über Menschenrechte zu stellen.
Was fordern Sie von den teilnehmenden Ländern?
Die Situation sieht so aus, dass die chinesische Regierung einen Genozid am uigurischen Volk begeht, Zwangsmassnahmen zur Auslöschung der tibetischen Kultur und Identität vollzieht und eine Kampagne zur Unterdrückung der mongolischen Sprache in der südlichen Mongolei durchführt. Die Demokratie in Hongkong wird direkt angegriffen. Gleichzeitig geht die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) gnadenlos gegen chinesische Menschenrechtsverteidiger:innen, Aktivist:innen, Glaubensgemeinschaften und Journalist:innen vor und verfolgt eine intensive Strategie der Einschüchterung und des geopolitischen Mobbings gegen Taiwan.
Eine Teilnahme an den Olympischen Spielen in Peking zu diesem Zeitpunkt wäre gleichbedeutend mit der Billigung dieser Politik des totalitären chinesischen Regimes. Wir rufen daher Regierungen, Nationale Olympische Komitees, Olympia-Sponsor:innen, Athlet:innen und alle Menschen mit Gewissen auf, Peking 2022 zu boykottieren.
Kritiker:innen begründen ihre Opposition gegenüber dem Boykott oft mit der angeblich fehlenden Effektivität dieser Protestform. Weshalb glauben Sie, dass der Boykott eine wirkungsvolle Form des Widerstands ist?
Die Frage der Effektivität eines Boykotts als Protestform war immer wieder Anlass von Diskussionen in der Geschichte der Olympischen Spiele. So beispielsweise beim gescheiterten Boykott der Sommerspiele in Berlin 1936 oder beim Boykott der Spiele in Moskau 1980, um gegen den Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan zu protestieren. Wie effektiv letztlich ein Boykott als Form des Protests ist, kann meiner Meinung nach nicht pauschal beantwortet werden und ist anhand der konkreten Situation zu beurteilen. Während Kritiker:innen den Boykott der Olympischen Spiele in Moskau als symbolischen Akt abstempeln, bin ich überzeugt, dass die Wirkung dieser Protestform im Falle Chinas angesichts der unterschiedlichen Umstände viel weiter geht.
Inwiefern?
Seit Jahren verfolgt China eine kostenintensive Strategie, um seine Softpower im Kontext eines ideologischen Wettstreits auszubauen und dadurch seinen weltweiten Einfluss zu stärken. Die Olympischen Spiele bieten der chinesischen Regierung eine internationale Propaganda-Plattform, um sich als weltoffenes, friedliches und fortschrittliches Gastgeber:innenland zu porträtieren und gleichzeitig von der systematischen Unterdrückung im Land abzulenken. Mit einem Boykott der Spiele kann diese Plattform verhindert und der Öffentlichkeit das korrekte Bild der chinesischen Regierung mit schlimmsten Menschenrechtsverletzungen präsentiert werden.
Athlet:innen, offizielle Regierungsvertreter:innen, Sponsor:innen und Zuschauer:innen könnten vermeiden, dass sie Teil dieser Propaganda-Kampagne der KPCh werden, die wie schon bei den Sommerspielen 2008 in Peking darauf abzielt, ein sogenanntes „Sportswashing“ zu betreiben; diesmal mit Blick auf die eskalierende Unterdrückung in Tibet, Ostturkestan und der südlichen Mongolei sowie dem direkten Angriff auf die Demokratie in Hongkong.
Tenzin Netsang ist dem VTJE im Jahr 2014 beigetreten und engagierte sich bis 2016 als Sektionsleiter, ab 2016 als Leiter der Arbeitsgruppe Kultur. Seit letztem Jahr ist er im Vorstand und zusammen mit Tenzing Dhokhar verantwortlich für das Ressort Action and Campaign. Zudem ist Tenzin Netsang Jurist und hat im Sommer 2021 mit dem Master of Law abgeschlossen.
Der VTJE ist mit ca. 400 Mitgliedern die grösste tibetische Jugendorganisation in Europa. Der Verein wurde vor mehr als 50 Jahren gegründet und ist seither eine Plattform für junge Tibeter:innen aus Europa, um sich miteinander auszutauschen und politisch zu engagieren. Auf verschiedensten Ebenen wird das politische Bewusstsein der tibetischen Jugend gebildet und der Zusammenhalt im Exil gefördert. Der Verein hat drei Kernbereiche; dazu gehören neben dem politischen Einsatz die Erhaltung und Pflege der tibetischen Kultur sowie der Bereich Soziales. Letzterer beinhaltet beispielsweise eine Anlaufstelle für tibetische Geflüchtete.
Welches Signal würde mit einem koordinierten Boykott ausgesendet?
Ein globaler Boykott der Spiele in China würde zeigen, dass die internationale Gemeinschaft die Gräueltaten der chinesischen Regierung nicht länger billigt. Die Diskussion eines Boykotts an sich erregt bereits grosse Aufmerksamkeit sowohl im Ausland wie auch in China selbst. Die weltweiten Berichterstattungen über die Menschenrechtsverletzungen der Olympia-Gastgeberin würden sicherlich nochmals zunehmen. Wenn China die Austragung der Olympischen Spiele als grosse Sache verkauft, die Leute aber letztendlich nicht kommen, wird das Thema auch innerhalb Chinas stärker wahrgenommen. Die Kritik im Land könnte zunehmen und der Druck auf die chinesische Regierung steigen, da das Bild eines erfolgreichen Chinas, das man vermitteln möchte, nicht aufrechterhalten werden könnte.
Die US-Regierung verkündete im April, sie unterstütze keinen Boykott der Olympischen Winterspiele in Peking 2022. Gleichzeitig sagt das US-Aussenministerium aber auch, es finde ein Genozid an der uigurischen Bevölkerung statt. Das Schweizer Aussenministerium räumt Menschenrechtsverletzungen in China ein, verhält sich aber passiv, wenn es um die Einforderung der Menschenrechte in China geht. Wie ordnen Sie diese widersprüchliche Haltung westlicher Staaten wie der Schweiz und den USA ein?
Der internationale Druck, gegen die Menschenrechtsverstösse Chinas vorzugehen, wächst. Vielfach agiert die internationale Gemeinschaft allerdings zurückhaltend, da sie einen Bruch der bilateralen Beziehung oder wirtschaftliche Sanktionen Chinas fürchtet. Die chinesische Regierung drohte beispielsweise bereits mit drastischen Sanktionen gegen alle, die sich einem Boykott der Olympischen Spiele in Peking 2022 anschliessen würden. Die Biden-Administration insistiert bis jetzt darauf, keinen gemeinsamen Boykott mit Verbündeten zu diskutieren. Das mag daran liegen, dass ein Boykott das bereits angespannte Verhältnis zu China noch weiter verschärfen könnte oder dass er mit grossem innen- sowie aussenpolitischen Aufwand verbunden ist.
Dennoch sehen wir positive Entwicklungen wie etwa im US-Senat. Dort wurde einem Gesetzesentwurf zugestimmt, welcher unter anderem einen diplomatischen Boykott beinhaltet. Positive Entwicklungen für einen Boykott lassen sich auch in der EU und Grossbritannien beobachten, wo ein diplomatischer Boykott bereits verabschiedet wurde.
Wie sehen Sie die Rolle der Schweiz?
Im Falle der Schweiz geht es sicherlich in erster Linie um die wirtschaftlichen Beziehungen. Zum einen will die Schweiz als erste Freihandelspartnerin Chinas in Europa ihre bilateralen Beziehungen nicht gefährden, zum anderen steht sie aber auch für den Schutz der Menschenrechte. Mit der China-Strategie 2021–2024 zog sie bereits den Unmut des chinesischen Botschafters in der Schweiz auf sich: Dieser beschuldigte die Schweiz der Diffamierung, Lügen und Fake News.
Die Zurückhaltung der Schweiz zeigt sich gerade exemplarisch darin, dass sie sich bis heute nicht den Sanktionen der EU gegen China angeschlossen hat, die aufgrund der Menschenrechtsverletzungen an den Uigur:innen verhängt wurden. Dies, obwohl sie sich in der Vergangenheit regelmässig an Sanktionen beteiligte, um eine Umgehung von EU-Sanktionen zu verhindern.
Der Nachrichtendienst des Bundes hält in seinem Lagebericht 2020 fest, dass die staatliche Überwachung von Tibeter:innen und Uigur:innen durch die chinesische Regierung in der Schweiz eine stetige Bedrohung ist. Geheimdienstaktivitäten bleiben bekanntlich meist unbemerkt von den überwachten Personen; spüren Sie diese Aktivitäten dennoch bei Ihnen oder in Ihrem Umfeld?
Bei mir persönlich und in meinem Umfeld nehme ich vor allem vermehrte Profilansichten und Anfragen auf den sozialen Medien von ominösen Accounts wahr. Es gibt Tibeter:innen, Uigur:innen und Schweizer:innen, bei denen es noch weiter geht. Diese berichten, dass sie Opfer von Abhörungen oder direkten Cyber-Attacken wurden, die von chinesischen Adressen ausgingen. Zu erwähnen ist, dass es in den vergangenen Jahren immer wieder vorkam, dass verdächtige Personen an Demonstrationen und Protesten Redner:innen oder Organisator:innen aus gewisser Distanz filmten und fotografierten. Spricht man diese Unbekannten an, geben sie sich vordergründig als asiatische Tourist:innen aus, versuchen dann aber komischerweise gleich zu verschwinden oder sogar wegzurennen, wenn man sie zur Rede stellen will.
Es gibt zwar keinen eindeutigen Beweis, doch es liegt auf der Hand, dass es sich hier um chinesische Spion:innen oder zumindest um Leute aus der chinesischen Botschaft handelt, die angeleitet wurden, Aufnahmen der Proteste zu machen. Gerade an unserem Protest gegen die Olympischen Spiele in Peking 2022 im Rahmen des Global Day of Action in Lausanne im Juni haben sich wieder ähnliche verdächtige Szenen ereignet. Das zeigt uns, dass der chinesische Überwachungsapparat in der Schweiz weiterhin aktiv ist.
Wie sehen die Anfragen dieser ominösen Accounts in den sozialen Medien aus?
Die Kontaktaufnahme erfolgte zum Beispiel auf Facebook, Instagram oder LinkedIn, wo Mitglieder des VTJE vermehrt Anfragen von Fake-Accounts oder offensichtlich chinesischen Accounts erhalten haben, die hauptsächlich Tibeter:innen und tibetischen Organisationen folgen. Regelmässige Profilbesuche von chinesischen Accounts auf LinkedIn sind uns ebenfalls vermehrt aufgefallen.
Gefährden Ihre Mitstreiter:innen und Sie sich damit, dass Sie sich gegen die Politik Chinas engagieren?
Glücklicherweise müssen wir in einem demokratischen Staat wie der Schweiz nicht um unser Leben oder unsere Freiheit fürchten, wenn wir im Rahmen unserer Meinungsfreiheit das chinesische Regime öffentlich kritisieren und uns politisch für die Menschenrechte in Tibet und gegen die KPCh und ihre Unterdrückungsmassnahmen einsetzen. Ganz anders sieht dies hingegen in Tibet aus. Friedliche Proteste werden von der chinesischen Regierung mit brutaler Gewalt unterdrückt und niedergeschlagen. Demonstrant:innen werden willkürlich inhaftiert und gefoltert, nur weil sie zum Beispiel die tibetische Flagge schwenken, die Rückkehr des Dalai Lama fordern oder ihren Wunsch nach Freiheit zum Ausdruck bringen.
Anfang Jahr wurde beispielsweise der 19-jährige Mönch Tenzin Nyima verhaftet und zu Tode gefoltert, weil er Flugblätter verteilt und dabei die Unabhängigkeit Tibets gefordert hatte. Für uns hier unvorstellbar, aber in Tibet kein tragischer Einzelfall, sondern vielmehr Teil einer angehenden Serie von Folter und Misshandlungen tibetischer Häftlinge.
Gibt es ein Ereignis, Gespräch oder eine andere einprägsame Erinnerung, die Sie zur Entscheidung geführt hat, politisch aktiv zu werden?
Für mich gibt es nicht ein spezifisches Ereignis, das ich nennen könnte. Es war vielmehr ein persönlicher Prozess, geprägt von vielen verschiedenen Eindrücken in meinem Leben, wie die Geschichten meiner Eltern und Verwandten über den gewaltsamen Einmarsch der chinesischen Volksrepublik und die Flucht aus Tibet sowie die unzähligen Bilder und Berichte über die brutale Unterdrückung, Diskriminierung und Folter meiner Landsleute.
Besonders prägend und gleichzeitig erschütternd waren für mich Vorträge und Erzählungen von ehemaligen politischen Häftlingen, die grausame Misshandlungen und Folter am eigenen Leib erfahren mussten. Mit jedem Bericht, jeder Geschichte und jeder Ungerechtigkeit wuchs über die Jahre mein Wille, mich intensiver über die Menschenrechtslage in Tibet zu informieren und mich aktiv für Tibet einzusetzen. Ohne Zweifel hat mein Beitritt in den VTJE diesen Willen stark vorangetrieben und mir letztlich auch die Möglichkeit eröffnet, mich aktiv politisch für Tibet einzusetzen.
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