Im April wurde in Ruanda wieder den Opfern des Völkermordes gedacht. Am 7. April jährte sich dieser zum 27. Mal. Zur gleichen Zeit sitzt auf der Anklagebank des obersten Gerichts von Kigali, Ruandas Hauptstadt, ein Mann, von dem die einen sagen, er sei ein Held, denn er bewahrte 1 200 Ruander:innen vor dem Tod, und von dem die ruandische Regierung behauptet, er sei ein Terrorist.
Dem 66-jährigen Paul Rusesabagina wird vorgeworfen, Gründer und Anführer der im Exil begründeten Oppositionsbewegungen MRCD (Ruandische Bewegung für demokratischen Wandel) zu sein und auch die Aktivitäten des bewaffneten Flügels FLN zu unterstützen. Rusesabagina, so steht es in der Anklageschrift, sei Unterstützer einer mörderischen Rebellentruppe, ein Mann, der die Regierung Ruandas stürzen und erneut ein Regime völkermordender Hutus etablieren wolle.
Entführung oder genialer Schachzug?
Diese Geschichte beginnt am 27. August in Dubai mit dem Treffen zweier alter Freunde: Paul Rusesabagina, einst Manager des Hôtel des Mille Collines, in dem während der Tage des Völkermordes verzweifelte Tutsi Schutz fanden, und Constantin Niyomwungere, Pastor aus Burundi. Der Pastor hatte Rusesabagina eingeladen, in Burundi einen Vortrag über seine menschenrechtliche Arbeit und die Aufarbeitung des Völkermordes zu halten.
Gegen Mitternacht stiegen beide Männer in ein Kleinflugzeug des privaten Charterunternehmens GainJet und flogen dem Morgen entgegen. Doch das Flugzeug landete nicht, wie Rusesabagina gedacht hatte, im burundischen Bujumbura, sondern in der ruandischen Hauptstadt Kigali, wo Rusesabagina noch auf dem Rollfeld festgenommen wurde. Das sei kein Kidnapping gewesen, behauptet die ruandische Regierung, lediglich eine Finte.
Niyomwungere, der in Ruanda ebenfalls des Terrorismus beschuldigt wird, wurde zum Verräter, um einem eigenen Prozess zu entkommen. Noch am selben Tag zeigte das ruandische Fernsehen Rusesabagina in Handschellen und die staatlich gelenkten Medien bejubelten die Verhaftung eines Verbrechers, der viel zu lange den Schutz des Westens genossen habe.
Ein Hollywoodheld vor Gericht
Bilder davon, wie angebliche Völkermörder:innen und terroristische Agitator:innen aus Europa, Amerika oder Kanada an die ruandische Gerichtsbarkeit ausgeliefert und am Flughafen verhaftet werden, sieht man häufig im ruandischen Fernsehen. Doch dieses Mal hatte der Fall eine ganz andere Dimension, denn Rusesabagina erlangte durch den Hollywood-Film Hotel Ruanda Weltruhm und wird als Oskar Schindler Afrikas bezeichnet. Als Vize-Manager des real existierenden Hôtel des Mille Collines soll er 1 200 Tutsi während des sechs Monate anhaltenden Genozids von 1994 durch geschickte Verhandlungen mit den mordenden Milizen der Interahamwe und Mitgliedern des Generalstabs des Militärs sowie mittels Einsatz von teurem Whisky und Zigarren das Leben gerettet haben.
So jedenfalls stellen es Rusesabagina und der Film dar, und so hat es einst auch Ruandas Präsident Paul Kagame gesehen. Bei der Premiere in Kigali sass er neben dem Regisseur Terry George und soll den Film gelobt haben. Und auch Paul Rusesabagina war damals, nach dem Genozid, ein Fan von Kagame, in dem nicht nur er, sondern auch der Rest der Welt den Befreier Ruandas sah. Denn Kagame und seine Armee beendeten das Morden. Einige Jahre später wurde er Präsident – und ist es bis heute.
Paul Rusesabagina entkam in der Endphase des Völkermordes nach Tansania. Er zog zwei Jahre nach Beginn von Kagames Präsidentschaft nach Belgien, wo er die Staatsbürgerschaft erhielt. Für seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie fuhr er Taxi. Zufällig war unter seiner Kundschaft der irische Filmregisseur Terry George. Die beiden Männer kamen ins Gespräch. Rusesabagina erzählte seine Geschichte und George sah darin das hollywoodtaugliche Potential. So entstand der Film, der Rusesabagina neben Ruhm auch Geld brachte. Er gründete die Hotel Rwanda Rusesabagina Foundation, eine Stiftung zur Unterstützung von Opfern des Völkermordes.
Doch mehr und mehr wurde er zum Kritiker von Paul Kagame. Er sagte mehrfach, dass eine kleine, korrupte Elite aus Tutsi das Land an sich gerissen habe. Als in Belgien sein Auto von der Strasse gedrängt wurde und jemand in sein Haus einbrach und Dokumente stahl, zog er in die USA.
Paul Kagame sorgte für eine rekordverdächtige Wirtschaftsentwicklung von Ruanda. Auch dank grosszügiger Entwicklungshilfe, die ihm der von schlechtem Gewissen geplagte Westen zahlte, machte er aus Kigali eine moderne Grossstadt. Er baute ein funktionierendes Gesundheitssystem auf und führte eine universelle Krankenversicherung ein. Heute ist Kigali ein wirtschaftliches Zentrum in Ostafrika und regelmässiger Tagungsort für internationale Konferenzen. Die Tage des Bürgerkriegs erscheinen in weiter Ferne.
Der Genozid in Ruanda
Der Genozid in Ruanda hat viele historische Gründe. Er wurde ausgelöst durch den Absturz eines Flugzeugs, in dem der damalige ruandische Präsident Juvénal Habyarimana sass, doch seinen Keim hatte er in einer Klassifizierung durch die belgische Kolonialverwaltung, die aus den sozialen Kategorien Hutu und Tutsi ethnische Zugehörigkeiten machten. Man bildete zwei Gruppen, die in den folgenden Jahrzehnten gegeneinander aufgebracht wurden.
Bereits in den 50er-Jahren kam es zu Pogromen, in deren Folge viele Tutsi aus Ruanda flohen. Als 1994 aus den gewalttätigen Übergriffen ein Genozid wurde, sahen Europa und die USA keinen Grund zum Eingreifen. Auch dann nicht, als der für die UN-Mission in Ruanda zuständige General Roméo Dallaire flehentliche Faxe nach Washington schickte und um die Entsendung von 5 000 Soldaten bat, um das Morden zu stoppen.
Hotel Ruanda mit dem Zusatz „based on a true story“ wurde für drei Oscars nominiert und brachte erstmals einem weltweiten Publikum die furchtbaren Ereignisse in Ruanda und deren Hintergründe nahe. 2005 wurde Rusesabagina die Presidential Medal of Freedom, eine der höchsten Auszeichnungen der USA, verliehen. Wie auf alle tatsächlichen oder vermutlichen Held:innen, die Afrika hervorbringt, reagierte die westliche Welt mit Entzücken auf die Lichtgestalt, die der Dunkelheit des Völkermordes getrotzt hatte, zeigte das doch, dass selbst das Böse nicht allumfassend ist.
Ein Völkermord, der nie richtig zu Ende ging
Man könnte die Demontage des Helden und seine Wandlung zum angeblichen Terroristen als Beweis dafür sehen, dass das, was Hollywood als wahre Begebenheit erzählt, eben noch lange nicht wahr ist. So möchte es zumindest die ruandische Regierung.
2014 veröffentlichte einer der Überlebenden aus dem Mille Collines, Edouard Kayihura, die angeblich „wahre Geschichte“ hinter Hotel Ruanda. Er stellt Rusesabagina als einen Mittäter der mörderischen Hutu dar, der die Verzweifelten vor die Wahl stellte, entweder all ihren Besitz herzugeben oder den Milizen und damit dem sicheren Tod übergeben zu werden.
Man könnte aber auch vermuten, der ruandischen Regierung sei jedes Mittel recht, um ihre Kritiker:innen zu Fall zu bringen. Denn die eigentliche Geschichte, deren Protagonist Rusesabagina vielleicht unfreiwillig geworden ist, ist die eines Völkermordes, der nie wirklich zu Ende ging, sondern sich nur in den benachbarten Ostkongo verlagerte. Nach dem Sieg durch die Armee Kagames flohen all jene, die an dem Genozid beteiligt waren, in die benachbarte Region. Hunderttausende, die die Rache der Sieger:innen fürchteten.
Im Ostkongo bilden sich seither immer wieder neue Rebellengruppen. Aus den Fäden der ethnischen Klassifizierung, die in der Kolonialzeit gewunden wurden, ist inzwischen ein Netz geworden, in dem sich Täter:innen, Opfer, Unbeteiligte verfangen – und all jene, die sich gegen Kagame stellen.
Freund oder Feind im neuen Ruanda
Im dunklen Nachspiel des Völkermordes ist in Ruanda eine Schwarz-Weiss-Wahrnehmung entstanden, in der es nur Freund oder Feind gibt. Die Zahl der ehemaligen Weggefährt:innen von Kagame, die ins Exil gingen oder heute in Ruanda wegen Terrorismus gesucht werden, wächst laufend. Selbst der Friedensnobelpreisträger von 2018, der kongolesische Frauenarzt Denis Mukwege, wird von Ruanda der terroristischen Agitation beschuldigt. Manche der Gegner:innen Kagames verschwanden still, andere wurden laut und gründeten Oppositionsgruppen im Exil wie etwa den Ruandischen Nationalkongress in den USA oder die MRCD, deren Begründer und Kopf Paul Rusesabagina sein soll.
Die Wahrheit ist bei all dieser Gewalt längst verloren gegangen. Geblieben ist ein Kampf um Deutungshoheit. Bislang obliegt diese auch im Fall Ruanda den Sieger:innen, die sich als Befreier:innen des Landes und als Architekt:innen eines gelungenen Wiederaufbaus und einer landesweiten Versöhnung präsentieren.
In dieser Deutung sind es die Hutu, die die Tutsi ermordeten. Gegen jede andere Darstellung geht man in Ruanda mit aller Härte vor. Doch in einem Bericht der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2010 werden ruandische Soldat:innen der Massenvergewaltigung und des Mordes an Zehntausenden Zivilist:innen sowie der Rekrutierung von Kindersoldat:innen im Ostkongo bezichtigt.
Zudem wurde in den vergangenen Jahren die Theorie des doppelten Genozids begründet, der zufolge Kagame und seine Armee Rachemassaker anrichteten. Auch die amerikanische Menschenrechtsorganisation Freedom House listet Morde an und Verschleppungen von politischen Gegnern Kagames auf.
Die ruandische Presse verfolgt derweil alle Auslieferungen von mutmasslichen Beteiligten am Völkermord oder Mitgliedern einer von Ruanda als terroristisch eingestuften Organisation hautnah. Dabei häufen sich Beschuldigungen, ohne dass gleichzeitig Beweise vorgelegt werden. Im Falle Rusesabaginas überschlug sich die Presse geradezu vor Begeisterung über die Verhaftung. Die Schadenfreude galt auch dem Westen, der Rusesabagina so vielfach verehrte und auszeichnete. Ganz so, als sei Rusesabagina der Beweis, dass allein die ruandische Sicht richtig und alle Kritik des Westens ebenso eine Lüge ist wie der Film.
Doch auch die westliche Presse, im Falle Ruanda und Kagame ohnehin stets mäandernd zwischen Lob und Kritik, Bewunderung und Verdammung, weiss nicht so recht, ob sie Rusesabagina nun glauben soll oder nicht. Während es der New York Times gelang, ein Interview mit dem Häftling zu führen und ihm eine Plattform für seine Version der Geschichte zu bieten, fragte Der Spiegel in einem grossen Dossier: „Wurde der Held zum Terroristen?“ Auch alle anderen europäischen Medien berichteten mit Distanz zu Rusesabagina über den Fall. Dokumente, wie sie die ruandische Regierung offenbar besitzt, die die Schuld Rusesabaginas beweisen, konnte bislang kein Medium präsentieren.
Rusesabagina drohen 25 Jahre Haft. Zwei Anträge auf Kaution wurden bereits abgelehnt. Ruanda hat ihm Pflichtverteidigung zur Seite gestellt. Das sind keine guten Aussichten, zumal Rusesabagina inzwischen zugegeben hat – ob freiwillig oder erzwungen – die MRCD zu unterstützen. Es gibt ausserdem ein Video von 2018, in dem er dem Kampf gegen die ruandische Diktatur seine Unterstützung zusagt. Doch Rusesabagina bestreitet jede Involvierung in Gewalt. Er engagiere sich für eine Oppositionsgruppe, nicht für Terrorist:innen, sagte er.
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