Im September 1713 steht die Stadt Basel unter diplomatischem Druck. Es ist ein Protestschreiben eingetroffen: Basler Kaufleute hätten angeblich tausende Wollsäcke mit Getreide befüllt und diese rheinabwärts ins Lager der französischen Armee geschmuggelt. Das Schreiben stammt von dem Militärkommandanten der damals kaiserlich-österreichischen Stadt Rheinfelden, Baron von Neuhoff, und dem Botschafter des Kaisers in der Eidgenossenschaft, Franz Ehrenreich Graf von Trauttmansdorff. Sie finden, Basel unterstütze damit einen Angriff auf die Truppen ihres Kaisers, die auf der anderen Seite des Rheins stehen. Sie drohen der Stadt mit Sanktionen und fordern, dass die Schuldigen unter den Kaufleuten zur Rechenschaft gezogen werden.
Wir befinden uns mitten im Spanischen Erbfolgekrieg. Seit 1701 kämpfen der französische König Louis XIV. und der habsburgische Kaiser des Heiligen Römischen Reichs um die spanische Krone. Der Krieg konzentriert sich auf zwei Schauplätze, an denen die beiden Machtblöcke direkt aneinandergrenzen: in Norditalien und am Oberrhein. Inmitten dieser Schlachtfelder liegt die Eidgenossenschaft.
Die eidgenössischen Orte haben sich bei Kriegsbeginn für neutral erklärt – eine Praxis, die sie seit dem 17. Jahrhundert verfolgen. Doch was neutral zu sein genau bedeutet, war damals wie heute umstritten. Wie das Beispiel des Getreideschmuggels aus Basel 1713 zeigt, stellen sich immer wieder die Fragen, was Neutrale dürfen, was sie nicht dürfen und was sie trotzdem tun. Das historische Beispiel Basel zeigt die Rolle der neutralen Handelsstädte in den vormodernen Kriegen auf – und was davon heute noch übrig ist.
Basel wird zur neutralen Handelsdrehscheibe
Ab 1701 trennen nur wenige Kilometer Basel vom Kriegsgeschehen. Doch für die Stadt ist die Nähe zum Krieg auch eine Chance, denn Frankreich und das Heilige Römische Reich versehen sich zu Kriegsbeginn gegenseitig mit Handelsblockaden. Beide Kriegsparteien verfolgen dabei die gleichen Ziele: Aus dem eigenen Land sollen keine kriegswichtigen Güter an den Feind gelangen und gleichzeitig soll der Feind daran gehindert werden, seine Kriegskasse durch Exportgeschäfte zu füllen.
Von dieser Ausgangslage profitieren die Neutralen. Denn trotz Handelsverboten benötigen die Armeen weiterhin Kriegsmaterial, die Kaufleute Kaufmannsgüter und die Bevölkerung Lebensmittel. Und so importieren Kaufleute verbotene Waren aus Frankreich oder dem Reich, deklarieren diese Waren kurzerhand zu eidgenössischen Gütern um und exportieren sie anschliessend an beide Kriegsparteien. In Genf, Schaffhausen, Zürich und Basel blüht der Zwischenhandel und die Eidgenossenschaft wird zur zentralen Handelsdrehscheibe des Krieges.
Überlieferte Warenattestationen sowie Berichte und Korrespondenzen der Kaufleute zeigen: Harmlose, aber durch die Handelsverbote illegalisierte Handelswaren wie Handschuhe, Nadeln, Fingerhüte, Tabak, Wein und Seidenbänder stehen ebenso im Angebot der Basler Kaufleute wie Waffen, Munition oder kriegswichtige Metalle wie Kupfer und Eisen, die zu Waffen weiterverarbeitet werden.
Basel wird auch zum Hauptumschlagplatz des kriegswichtigen schwäbischen Getreides. Unter dem Vorwand des Eigenbedarfs werden in Basel die Speicher gefüllt und die Vorräte bei Bedarf an die Truppen Frankreichs im Feld geliefert.
Im Jahr 1712 kauft etwa der Basler Kaufmann Johann Georg Salathé in der Pfalz 10‘000 Säcke Getreide. Der kaiserliche Botschafter Trauttmansdorff will den Import des Getreides nach Basel verhindern. In einem Brief an den Kaiser hält er fest, zwar sei das Getreide für den Eigengebrauch gekennzeichnet, doch er habe erfahren, dass die Hälfte der Ladung für den Feind bestimmt sei.
Trauttmansdorffs Vorhaben scheitert und das Getreide landet über den Handelsplatz Basel bei den französischen Truppen. Importe wie die von Salathé geschehen wiederholt abgestimmt auf bevorstehende französische Invasionen ins Reich.
Neben Getreide beschaffen sich die Kriegführenden in Basel sämtliches Verschleissmaterial, das sie für ihre Kriege benötigen, wie Menschen, Geld und Informationen. In den Basler Wirtshäusern werben französische Offiziere neue Söldner an, Basler Kaufleute vergeben Kredite an die Kriegsherren und Spion*innen aus der Basler Elite vermitteln geheime diplomatische Informationen auf das Schlachtfeld und an die Fürstenhöfe.
Geschäftspraktiken der Basler Kaufleute
Da die Handelswege und die Kommunikationsinfrastruktur vom Krieg verschont bleiben und die Nachfrage der Kriegsführenden zunimmt, können die Kaufleute ihre internationalen Beziehungsnetze ausbauen und im Gegensatz zu Kaufleuten aus Kriegsländern unter erleichterten Bedingungen weiterhin Geschäfte machen. Die neutrale Lage wird zum ökonomischen Standortvorteil.
Die Handelstätigkeit der Basler Kaufleute und die Handelspolitik der Basler Obrigkeit lassen sich anhand der Protokolle des Direktoriums der Kaufmannschaft Basels rekonstruieren. Ein eigener Schreiber des Direktoriums protokollierte nicht nur die wöchentlichen Sitzungen des Direktoriums, sondern fertigte Abschriften von Korrespondenzen mit der stadteigenen Obrigkeit, mit anderen eidgenössischen Orten sowie mit Zöllnern, Offizieren, Regierungsmitgliedern und Herrschenden aus Süddeutschland, dem Elsass und Norditalien an. Dank der Protokollierung der ein- und ausgehenden Briefe sammelte das Direktorium wertvolle Informationen, die heute eine Goldgrube für historische Untersuchungen sind.
Die Profite der Kaufleute sind aber nicht allein auf die Neutralität Basels zurückzuführen. Den Basler Kaufleuten hilft ihre effiziente Zusammenarbeit: Sie verfügen über ein eigenes Direktorium. Dieses führt den einträglichen Basler Postbetrieb, hat darum stets eine volle Kasse und vertritt im Spanischen Erbfolgekrieg die Interessen der Kaufleute mit der notwendigen finanziellen Überzeugungskraft. Aus den Protokollen des Direktoriums wird ersichtlich, wie dieses den Auskauf konfiszierter Basler Schmuggelware bezahlt und fleissig Geschenke an ausländische Zoller und Ratsherren macht, damit diese mal ein Auge zudrücken, wenn sie verdächtige Basler Fuhren kontrollieren.
Diese Geschäftspraktiken werden von der Basler Obrigkeit weitgehend toleriert. Das hat damit zu tun, dass viele Kaufleute gleichzeitig politische Amtstragende sind. Grenzen zwischen staatlicher Politik und privater Wirtschaft existieren kaum. Die Handelsbranche erhält deshalb viele Freiheiten und Unterstützung von der Stadt. Die Obrigkeit versichert den Kaufleuten in einem Schreiben sogar: Schmuggel ist in einem kleinen Ausmass erlaubt.
Im Falle des Getreideschmuggels von 1713 an die französischen Truppen, delegiert die Obrigkeit diese Sache an das Direktorium. Der Schmuggelfall hat ein derart grosses Ausmass, dass sich einige Kaufleute vor ihrem eigenen Gremium verantworten müssen. Aus den Direktoriumsprotokollen ist ersichtlich, wie sich die verdächtigen Kaufleute bei dieser Anhörung unwissend stellen: In Basel habe niemand Getreide oder Wolle verschifft. Mit dieser Antwort gibt sich das Direktorium bereits zufrieden, die Untersuchungen werden eingestellt.
Im diplomatischen Kreuzfeuer
Direktorium und Obrigkeit setzen sich in Konfliktfällen in der Regel für ihre Kaufleute ein. Im Gegensatz zu anderen neutralen Städten wie Hamburg oder Genua verfolgt Basel aber keine dezidiert neutrale Handelspolitik.
Die neutrale Handelspolitik Hamburgs etwa fordert für die Neutralen unbeschränkten, freien Handel in Kriegszeiten. Den länderübergreifenden Handel auch im Krieg aufrechtzuerhalten habe oberste Priorität – und die Neutralität diene dazu, dies durch unparteiische Transaktionen mit sämtlichen Kriegsparteien zu bewerkstelligen.
Auch die niederländischen Generalstaaten sind in den Kriegen dieser Zeit häufig neutral. Sie beginnen, mit den unterschiedlichen Kriegsführenden Handelsallianzen abzuschliessen und etablieren dadurch bilaterale Verträge als Garanten des neutralen Handels.
An solchen Neutralitätsdiskursen beteiligen sich weder Basel noch die übrige Eidgenossenschaft. Die Neutralität wird aus vordergründig sicherheitspolitischen Überlegungen erklärt. Wenn die eidgenössischen Orte mit den Kriegsführenden jeweils ihre Neutralität aushandeln, geht es nicht um Handelsprivilegien, sondern immer nur um die territoriale Integrität der Eidgenossenschaft. Nichtsdestotrotz nutzen die eidgenössischen Orte ihre neutrale Lage gerne, um daraus diskret finanzielle Profite einzustreichen.
Dieses Vorgehen sorgt immer wieder für Konflikte mit den Kriegsführenden. Ihnen sind Geschäfte, die dem Gegner helfen, ein Dorn im Auge. Sie protestieren gegen den Schmuggel von Kriegsmaterial, den Transport feindlicher Post oder die Passage gegnerischer Truppen. Die Neutralität kommt dabei selten gut weg.
Mit Protesten gegen die Ungleichbehandlung zielen die Kriegführenden aber nicht unbedingt auf das Ende der neutralen Dienste ab.
Während des Getreideschmuggels von 1713 protestierte der kaiserliche Botschafter Trauttmansdorff zunächst heftig gegen die Bevorteilung Frankreichs. Bald verstimmt allerdings der Ruf nach Ermittlung und Bestrafung. Der Protest hatte vor allem zum Ziel von Basel Neutralitätspflichten und somit Gleichbehandlung einzufordern. Die Proteste gegen Schmuggel, Brieftransport, Truppenpassagen und Kreditvergaben wollen diese nicht unterbinden. Im Gegenteil: Sie sind die Forderung auf eine ausgleichende Gegenleistung.
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Handel trotz allem
Die Kriegsführenden machen zwar Lärm und klagen häufig über Neutralitätsverletzungen. Hinter dem diplomatischen Theater lenkt aber eine ökonomische Realität die Interessen. Der Krieg benötigt Ressourcen und die Ressourcenbeschaffung braucht Pragmatismus. In Basel beschaffen sich die Kriegsführenden Kriegsmaterial, Söldner, Geld und Informationen.
Daneben profitieren auch schwäbische Bäuer*innen vom Zwischenhandel mit ihrem Getreide, kaiserliche Zöllner möchten von möglichst vielen Basler Fuhren Abgaben einziehen und Elsässer Krämer*innen verkaufen gerne die stark nachgefragte Basler Schmuggelware. Viele Akteur*innen haben kein Interesse an der strikten Durchsetzung der Handelsverbote. Kriegswirtschaftliche Realität, ökonomischer Pragmatismus und eidgenössischer Opportunismus gehen Hand in Hand.
Es zeigt sich: Neutrale sind ein zentraler Bestandteil des Krieges. Handelsstädte wie Basel fungierten als Drehscheiben, an denen alle möglichen Kriegsressourcen vermittelt wurden. Damit trugen sie wie andere neutrale Städte zur Fortführung des Krieges bei. Während die Kaufleute den Kriegsführenden neutrale Dienste anboten und vom Krieg profitieren konnten, verhielt sich die Obrigkeit ruhig.
Weder Basel noch die übrigen eidgenössischen Orte beteiligten sich an Diskussionen über die Neutralität. Sie sassen Konflikte mit den Kriegsführenden aus und versuchten unter dem Radar zu bleiben, um unaufgeregt ihren Geschäften nachgehen zu können. Damit hatten sie Erfolg: Irgendwie konnten sich die Orte immer wieder durchwursteln, wenn von aussen Druck auf sie ausgeübt wurde. Die Frage, wofür ihre Neutralität stehen soll, mussten sie sich dabei nicht stellen.
Noah Businger ist freischaffender Historiker. Er forscht und publiziert zu unterschiedlichen Themen der Schweizer Geschichte.
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