Face­book verbannt einen Verschwö­rungs­theo­re­tiker, dahinter steckt pures Kalkül

„Wir werden nicht Accounts löschen, nur weil etwas Falsches gesagt wird“, sagte Mark Zucker­berg Mitte Juli in einem Inter­view. Anfang Woche wurde der Verschwö­rungs­theo­re­tiker Alex Jones von Face­book verbannt, andere Dienste ziehen nach. Was steckt hinter dem Gesin­nungs­wandel im Silicon Valley? Eine Analyse. 

Wenn man Alex Jones zum ersten Mal hört, dann könnte man meinen, seine Persona und sein Medi­en­un­ter­nehmen Info­wars seien ein Kind der Trump-Ära. Dabei verbreitet das Unter­nehmen seine abstrusen Verschwö­rungs­theo­rien schon seit 1999.

Mit seiner Radio­sen­dung beschallt Alex Jones jeden Tag zehn­tau­sende Menschen, auf YouTube erreicht er 2.4 Millionen Abon­nen­tInnen – und seine Home­page infowars.com verzeichnet monat­lich bis zu 10 Millionen Besu­che­rInnen. Auf allen Kanälen mimt Jones den Kämpfer, etwa gegen die vereinten Globa­li­stInnen: hyste­risch, laut und vom mentalen Zusam­men­bruch scheinbar immer nur eine Armlänge entfernt. „Scheinbar”, denn seine Aufre­gung ist vermut­lich nur gespielt. Die Endzeit­stim­mung, die Jones beschwört, bewirbt seine über­teu­erten Ernäh­rungs­er­gän­zungs­pro­dukte und skur­rilen „Survival-Kits”. Über zwei Drittel seiner Einnahmen gene­riert er über den Verkauf dieser Produkte.

Am Montag erlebte der 44-Jährige jetzt eine Art persön­liche Götter­däm­me­rung. Spotify und der Online­radio-Anbieter Sticher verbannten ihn von ihren jewei­ligen Platt­formen. In der Folge wurden die Podcast­an­ge­bote von Info­wars auch von Apple sistiert. Face­book und YouTube zogen nach. Als Grund für den Ausschluss geben die Social-Media-Anbieter die wieder­holte Miss­ach­tung ihrer Richt­li­nien bezüg­lich Hass­rede und Volks­ver­het­zung an.

Die Grenze der freien Meinungs­äus­se­rung? Werbe­ein­nahmen und die Börse.

Die Entschei­dung der grossen Firmen im Silicon Valley ist eine Zäsur. Denn über Jahre hinweg wurden Verschwö­rungs­theo­re­tiker nicht nur geduldet, sondern teil­weise, etwa im Fall von YouTube, sogar gefördert.

Als ein Face­book­ver­treter im Juli 2018 bei der Präsen­ta­tion eines neuen Image­films von Jour­na­li­stInnen gefragt wurde, warum man Info­wars weiterhin eine Platt­form biete, antwor­tete dieser: „Verschie­dene Heraus­geber haben sehr verschie­dene Ansichten.” Ironi­scher­weise handelte der Image­film von neuen Mass­nahmen gegen koor­di­nierte Fehl­in­for­ma­tion – fake news. 

Seither stieg der Druck auf die Firmen im Silicon Valley an. In einem Inter­view mit dem Online­ma­gazin Recode am 18. Juli reagierte Mark Zucker­berg: „Wir werden nicht Accounts löschen, nur weil etwas Falsches gesagt wird. Wenn aber jemand Verschwö­rungs­theo­rien verbreitet, dann werden wir seine Reich­weite massiv einschränken.” Einer kompletten Löschung von Info­wars-Accounts erteilte Zucker­berg aber eine Absage. Nur wenn etwas in Gewalt gegen Menschen münde, würde Face­book eingreifen. Hass­rede und Volks­ver­het­zung gehen also nicht, koor­di­nierte Fehl­in­for­ma­tion und Verschwö­rungs­theo­rien aber schon. In seiner Begrün­dung verwies Zucker­berg auf den Grund­satz der freien Meinungsäusserung.

Die durch die Verfas­sung garan­tierte freie Meinungs­äus­se­rung hat hier aber gar keine Wirkungs­kraft. Wie Kevin Roose von der New York Times in einem Podcast fest­hielt, gilt der erste Verfas­sungs­grund­satz der USA nicht für firmen­ei­gene Regu­lie­rungen. Das first amend­ment besage nur, dass der Staat keine Gesetze erlassen dürfe, welche die Meinungs­äus­se­rungs­frei­heit einschränken. „Face­book verhält sich so, als ob sie durch irgend­welche Grund­sätze dazu verpflichtet wären, zum Beispiel Holo­caust­leug­ne­rInnen zu tole­rieren. Das sind sie aber nicht.” Das hindert Alex Jones frei­lich nicht daran, sich als Opfer staat­li­cher Zensur zu insze­nieren. Unter­stützt wird er dabei von Kongress­ab­ge­ord­neten wie Ted Cruz.

Löblich ist an dieser scheinbar gross­zü­gigen Meinungs­äus­se­rungs­frei­heit auf Face­book nicht viel. Die poli­ti­sche Neutra­lität des Konzerns fusst nicht auf mora­li­schen Über­zeu­gungen. Sie dient nur einem Zweck, nämlich möglichst viele verschie­dene Grup­pie­rungen auf die Platt­form zu locken – und dadurch mehr Werbe­ein­nahmen zu gene­rieren. Das ist mora­li­scher Opportunismus.

Jetzt, wo dieses Modell langsam trans­pa­rent wird, haben viele Menschen unter dem Hashtag #Dele­te­Face­book die Platt­form verlassen. Der nieder­län­disch-briti­sche Konzern Unilever drohte Anfang Jahr damit, seine Werbung komplett aus den sozialen Medien zurück­zu­ziehen. Unilever inve­stiert jähr­lich rund 2.4 Milli­arden US-Dollar in digi­tale Werbung. Bei anderen Unter­nehmen blieb es nicht bei Drohungen.

Face­book stand also unter massivem Druck. Was das Fass dann zum Über­laufen brachte: Nur acht Tage nach dem Inter­view mit Recode erlebte Face­book den grössten Börsen­ver­lust, der je an der US-Börse an einem einzigen Tag verzeichnet wurde: 119 Milli­arden Dollar. Unter anderem, weil viele Aktio­nä­rInnen den Glauben an das Geschäfts­mo­dell von Face­book verloren haben.

There is a war on your mind!

„There is a war on your mind” ist der Werbe­spruch von Info­wars. Die Gegne­rInnen in diesem Krieg, das seien Globa­li­stInnen, Echsen­men­schen und Isla­mi­stInnen, welche über den links­li­be­ralen Main­stream die Welt­herr­schaft an sich reissen wollten.

Ein Krieg um den Verstand herrscht nicht, dafür aber einer um Daten und Werbe­gelder. Ausge­tragen wird er von den Platt­formen, die sich jetzt gegen die Hetze von Alex Jones auflehnen. Je mehr ihre Algo­rithmen über uns wissen, desto genauer kann die Werbung auf uns ange­passt werden. Die Anhäu­fung von persön­li­chen Profilen und Infor­ma­tionen ist nicht ein Fehler im System der sozialen Medien, sondern deren kommer­zi­eller Kern. Schein­bare poli­ti­sche Neutra­lität und mora­li­scher Oppor­tu­nismus stehen in seinem Dienst. Der Cambridge-Analy­tica-Skandal, die ameri­ka­ni­schen Präsi­dent­schafts­wahlen 2016 und der Gewalt­aus­bruch in Myanmar zeigen, was die Konse­quenzen davon sind.

Das Busi­ness­mo­dell von Face­book und Co. nach dem US-Come­dian John Oliver.

Unter massivem ökono­mi­schen Druck hat Face­book jetzt in einem Einzel­fall aus falschen Gründen das Rich­tige getan. Aber Alex Jones ist nur einer von vielen, das Problem bleibt bestehen. Und wenn Face­book und Co. für ihren mora­li­schen und poli­ti­schen Oppor­tu­nismus nicht nach­hal­tiger unter Druck gesetzt werden, als es bisher der Fall war, wird sich daran nur punk­tuell etwas ändern. Die Verlockung durch Werbe­gelder, die mit jeder pola­ri­sie­renden Verschwö­rungs­theorie nach oben schnellen, ist zu gross. Denn Alex Jones und das Silicon Valley mögen verschie­dene Auffas­sungen vom Recht auf freie Meinungs­äus­se­rung haben, aber: Beide liegen falsch.


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