Der Ruf nach Solidarität, nach einem neuen Miteinander in der Corona-Krise, er hallt in diversen Formen durch die Zeitungsseiten, durch die sozialen Medien und durchs ganze politische Spektrum. In der NZZ werden sowohl unbürokratische Staatshilfe für die Wirtschaft als auch Lohneinbussen von Staatsangestellten gefordert; die Detailhändler Denner, Lidl und Co. warnen in Onlinekampagnen vor Hamsterkäufen; an Hauseingängen hängen Flyer von Nachbarschaftshilfen, die ihre Unterstützung anbieten, und auf Balkonen tummeln sich neuartige Polizist*innen, die ihre Empörung über spazierende Menschen vertwittern und sharen.
Alles im Namen der Solidarität.
Jetzt, wo der alte Kampfbegriff der Arbeiter*innenbewegung gerade Konjunktur hat, ist vielleicht aber auch ein guter Zeitpunkt, seine politische Sprengkraft zu betonen. Denn, wie Alain Berset an der letzten Pressekonferenz so schön sagte: “Solidarität ist nicht einfach ein schönes Wort für 1.-August-Reden. Jetzt können wir zeigen, was das wirklich bedeutet.”
Acht Mal Solidarität
Solidarität bedeutet nicht, Leute auf der Strasse und in den Parks an den Pranger zu stellen; das ist kollektive Empörung. Wenn Arnold Schwarzenegger in seiner Villa, von seinem Whirlpool aus mit Zigarre im Maul über Menschen spottet, die in öffentlichen Cafés sitzen, ist das ein Hohn gegenüber denjenigen, die nur für eine Stunde der engen Wohnung entfliehen wollen, in der sie mit ihrer Familie in Selbstquarantäne feststecken. #staythefuckhome ist wichtig, aber auch nur Hashtag-Aktivismus, wenn er nicht die komplexen ökonomischen und sozialen Lebensrealitäten anerkennt.
Solidarität ist selbstkritisch. Wie ist ein Land, das in der Präambel seiner Verfassung das Bestreben nach “Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt” festgeschrieben hat, an der Vorfront des internationalen Steuerwettbewerbs gelandet? Warum ist es nochmals ein Standortvorteil, wenn in anderen Ländern das Geld für ein krisenfestes Gesundheitswesen fehlt, weil Firmen in Steueroasen wie der Schweiz übersiedeln?
Solidarität hinterfragt, warum Bauarbeiter*innen, Detailhandelfachangestellte und Gesundheitsfachpersonen jetzt als systemrelevant gelten, diese Relevanz sich aber nicht in erfüllten Lohnforderungen und ausgebauten Arbeitsrechten niederschlägt. Zu Recht weisen Gesundheitsfachpersonen gerade darauf hin, dass die neu entdeckte Wertschätzung für ihren Berufsstand zwar toll sei, aber eine würdige Entlohnung und bessere Arbeitsbedingungen um einiges willkommener wären.
Solidarität erinnert sich an die Klimakrise, an die Abertausend Menschen, die bereits jedes Jahr an den Folgen der Klimaerwärmung sterben und schaut dem Bundesrat auf die Finger, damit keine Steuermittel für die Rettung der darbenden Flugbranche verwendet werden.
Solidarität ist feministisch: Sie weiss, dass gerade in Krisenzeiten wie dieser die Arbeit auf den Schultern von Frauen* lastet, und hält die Forderungen des Frauen*streiks bereit, um nach getaner Arbeit die längst überfälligen Rechte auf Selbstbestimmung, Lohngleichheit und Würde einzufordern.
Solidarität schaut über Grenzen hinweg und sagt in den Worten des deutsch-türkischen Psychologen Jan Ilhan Kizilhan: „Für mich bedeutet Freiheit in Zürich auch Demokratie in Damaskus”. Oder Santiago de Chile. Oder Lesbos. Dort schaut Solidarität genau hin, und sieht mit Besorgnis, wie gerade tausende Menschen in unmenschlichen Bedingungen zusammengerottet werden. Sie fordert dort wie hier, dass Flüchtende und Internierte, etwa in den Bundesasylzentren, endlich in Wohnungen untergebracht werden, damit die Mindestanforderung von Hygiene und Abstand eingehalten werden können.
Solidarität schützt die wenigen staatlichen Institutionen, die nach ihren Grundsätzen aufgebaut sind, und wehrt sich gegen deren Sabotage. Viele fordern jetzt aus guten Gründen ein temporäres bedingungsloses Grundeinkommen, aber auf längere Sicht ist die Entstigmatisierung und der Ausbau der Sozialhilfe viel zielführender. Sozial Schwache, Armutsbetroffene und ältere Menschen werden an der kommenden wirtschaftlichen Krise besonders leiden. Eine ausgebaute AHV und eine niederschwellige Sozialhilfe sind die solidarischsten Institutionen, um diese Leiden zu mindern.
Solidarität war immer da, bereits vor dem Virus: mit Rojava, mit den Flüchtenden und Internierten, mit Betroffenen der Klimakrise, mit Opfern von sexualisierter Gewalt. Sie wurde meistens von einer dezidiert linken Bewegung gelebt, in Quartieren, in Medien- und Kulturprojekten, in NGOs und Gewerkschaften. Dass jetzt ein entpolitisierter Solidaritätsbegriff in denjenigen Medien und bei Politiker*innen um sich greift, welche diese Bewegungen über Jahre hinweg kleingeredet haben, muss aufhorchen lassen.
Solidarität ist Handeln
Aber Solidarität ist eben kein Subjekt. Sie “tut” nichts, sondern sie zeigt sich in den Handlungen von uns allen. Wenn Alain Berset sagt, dass wir jetzt als Gesellschaft zeigen können, was Solidarität bedeutet, hat er recht. Solidarität bedeutet aber nicht, Flüchtende in Italien sitzen zu lassen, wie es der Bundesrat gerade letzte Woche entschieden hat. Sie ist ein Gegenstück zur radikalen Vereinzelung im politischen Status Quo – und drückt sich in kollektiven politischen Forderungen aus.
Wenn sie dies aber nicht tut, verkommt auch sie zu einem blossen Mittel zum Zweck: als zeitweiliges Zusammenstehen, bis der Spuk vorbei ist. Und verliert damit jegliche Bedeutung.
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