In Zeiten von Corona sind wir alle gleich. Ach ja?

In der Krise sind wir alle ein biss­chen glei­cher als sonst. Etwa an der Grenze, sagt Bundes­rätin Karin Keller-Sutter, wo Asyl­su­chende jetzt gleich zu behan­deln seien wie alle anderen. Also gar nicht. Aber wo bleibt dieser jetzt gepre­digte egali­täre Sinn sonst im Umgang mit Personen im Asyl­ver­fahren? Ein Kommentar. 

Wenn der Bundesrat in der akuten Krise, wie jetzt in der Pandemie, letzt­mals viel­leicht im zweiten Welt­krieg, zur Bevöl­ke­rung spricht, hat das auch immer den Zweck, Soli­da­rität und Sinn fürs Kollektiv zu stiften. Am Freitag und am Montag infor­mierten Simo­netta Somma­ruga, Karin Keller-Sutter, Alain Berset, Guy Parmelin (nur am Freitag dabei) und Viola Amherd (nur am Montag dabei) über die jeweils neusten Verord­nungen zur Eindäm­mung des Coronavirus.

Vieles von dem, was Berset und Somma­ruga sagten, vermit­telte authen­ti­sche Betrof­fen­heit ange­sichts der vor allem für ältere und kranke Menschen bedroh­li­chen Lage. Es sprach da auch eine Regie­rung, die, wenn auch etwas spät, einen Plan dafür zu haben scheint, wie die Ausbrei­tung des Virus eini­ger­massen kontrol­liert verlaufen könnte – auch wenn sie den Plan vom Freitag ziem­lich schnell wieder über­werfen musste. Und bei allem Ernst der Lage durfte sich die Bevöl­ke­rung in den Stuben vor den Bild­schirmen auch ein biss­chen am Gedanken wärmen, dabei sein zu dürfen bei dieser histo­ri­schen Krise und ihrer hoffent­lich ebenso histo­ri­schen Bewältigung.

Aber bei Justiz­mi­ni­sterin Karin Keller-Sutters Ausfüh­rungen konnte einem schon am Freitag schnell wieder ziem­lich kalt werden. An ihr war es, bekannt zu geben, wer alles nicht dabei sein darf bei dem gross ange­legten Versuch, die bedroh­liche Lage in den Griff zu kriegen. Die Grenzen werden für voraus­sicht­lich sechs Monate geschlossen, bewacht vom Grenz­wacht­korps und den Kantons­po­li­zeien. Perso­nen­frei­zü­gig­keit als Prinzip ist quasi ausge­setzt. Ausge­nommen sind: Wer über einen roten Pass oder eine gültige Aufent­halts­be­wil­li­gung verfügt; Durch­rei­sende („der reine Transit“, Keller-Sutter); beruf­lich zur Einreise Gezwun­gene; und: Waren. Schon am Freitag kam Keller-Sutter noch auf „den Asyl­be­reich“ zu sprechen:

„Noch ein paar Worte zu den Auswir­kungen auf den Asyl­be­reich. Asyl­su­chende in der Schweiz stellen im Zusam­men­hang mit dem Coro­na­virus ja grund­sätz­lich keine beson­dere Gefahr dar, ich möchte das voraus­schicken. Das sind Perso­nen­gruppen wie andere auch. Sie sind daher gleich zu behan­deln wie alle anderen Personen. Dies bedeutet, dass es für sie bezüg­lich der heute beschlossen Mass­nahmen an der Grenze keine Ausnahme gibt.“

Es ist ja sogar möglich, dass die Formu­lie­rungen in den ersten paar Sätzen aus Keller-Sutters Asyl-Exkurs unfrei­willig so tönen wie sie tönen. Dass sie irgendwie juri­stisch trenn­scharf gedacht waren und nur in Bezug auf eine spezi­fi­sche tech­ni­sche Abwick­lungs­si­tua­tion an der neuen Grenze. Aber selbst dann bleibt beein­druckend, welche seman­ti­schen Disso­nanzen nur schon aus diesen paar Sätzen dröhnen. Und beein­druckend ist auch, dass sie es in die wohl meist­be­ach­tete Pres­se­kon­fe­renz des Bundes­rats der jüngeren Zeit­ge­schichte geschafft haben.

Okay, klar: Jenseits der Grenze sind jetzt, unter der Pandemie, alle poten­tiell gleich toxisch. Da haben die Nicht-Asyl­su­chenden dank Corona sozu­sagen zu den Asyl­su­chenden aufge­schlossen und Augen­höhe erreicht. Alle laufen jetzt in der Kolonne der poten­ti­ellen Gefährder*innen. Dass zuvor noch das rassi­sti­sche Klischee von den Krank­heit brin­genden Flüch­tenden gedroppt wird, indem betont wird, dass es nicht zutrifft – geschenkt.

Aber wie die Justiz­mi­ni­sterin dann beiläufig sagte, dass Asyl­su­chende „Perso­nen­gruppen wie andere auch“ und „daher gleich zu behan­deln“, also abzu­weisen, seien, war schon bizli eins zuviel. Man muss sich das mal auf der Zunge zergehen lassen: Dass jetzt in der Krise alle gleich sein sollen, erklärt uns da die Bundes­rätin, die im extrem repres­siven Asyl­be­reich noch mehr Kosten sparen will, etwa indem sie mehr Ausschaf­fungen in „unko­ope­ra­tive Staaten“ durch­zu­setzen plant und bei der Erle­di­gung von tausenden von hängigen Gesu­chen aufs Tempo drückte.

Die ekla­tante Ungleich­heit zwischen Asyl­su­chenden und allen anderen Anwe­senden in den meisten Berei­chen des Lebens dies­seits der Grenze – Arbeit, Gesund­heits­ver­sor­gung, Zugang zur Gesell­schaft, Privat­sphäre, etc. – lässt die Formu­lie­rungen des Bundes­rats, verlesen von der Justiz­mi­ni­sterin, wie blanker Hohn klingen.

Denn: Wo bleibt der vom Bundesrat nun gepre­digte egali­täre Sinn sonst im Umgang mit allen in diesem Land anwe­senden Menschen? Wo sind die Mass­nahmen, die es den Bewohner*innen der Asyl­zen­tren erlauben würden, die schnell zur Kultur­technik aufge­stie­gene Praxis des social distan­cing zu prak­ti­zieren? Zum Beispiel in den Zürcher Rück­kehr­zen­tren, wo zwar Besuch unter­sagt wurde, die inter­nierten Personen aber weiterhin dicht gedrängt in Mehr­bett­zim­mern schlafen müssen? Und: Welche anderen Szena­rien als isola­ti­ons­hafts­ähn­liche Zustände sind in den Zentren als Alter­na­tiven denkbar für die kommenden Wochen?

Aber viel­leicht hat das mit dem „glei­cher werden“ ja sogar was, auf kaputte Weise: Mit der Form anneh­menden totalen Quaran­täne und Neurose bekommt die privi­le­gierte Mehr­heit viel­leicht wirk­lich eine laue Ahnung von Repres­sion und Internierung.


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