Überall zerkratzte Türen

Einst nahm der Bürger­mei­ster von Riace hunderte Geflüch­tete auf und belebte mit ihnen das kala­bre­si­sche Dorf. Doch jetzt droht ihm eine lange Gefäng­nis­strafe – und Riace ist wieder ausgestorben. 
Der Fussballplatz in Riace wird nicht mehr benutzt (Foto: Simon Muster)

An einem der südlich­sten Punkte Europas befindet sich auf 295 Metern über Meer ein Torbogen. Wer hindurch­blickt, steht in Riace und sieht das Ioni­sche Meer. Das regen­bo­gen­far­bige Amphi­theater ist an diesem herbst­li­chen Sams­tag­nach­mittag leer, in der zentralen Via Roma trinken ein paar wenige Einwohner:innen ihren nach­mit­täg­li­chen Espresso. Neben dem Torbogen auf der Piazza sitzen Alba und Giuseppe in weissen Plastik­stühlen. Die beiden sind Gefährt:innen des ehema­ligen Bürger­mei­sters von Riace, Dome­nico Lucano, der Ende September zu 13 Jahren Haft wegen Verun­treuung öffent­li­cher Gelder und Beihilfe zu ille­galer Migra­tion verur­teilt wurde.

Im Amphi­theater unter der zentralen Piazza in Riace wurde früher Konzerte und Auffüh­rungen veran­staltet. Heute finden darin vor allem noch Soli­da­ri­täts­kund­ge­bungen für „Mimmo“ Lucano statt. (Foto: Simon Muster)

Sie sind eigens von Cosenza für eine Soli­da­ri­täts­kund­ge­bung ange­reist. „Heute ist es sehr hart in Riace“, sagt Giuseppe mit konster­nierter Stimme und setzt sich in Bewe­gung in Rich­tung Via Roma. Alba, die neben ihm geht, erklärt: „Das Modell Riace ist vorbei. Man hat den Menschen hier alles genommen.“ 

Bis 2018 lief in dem kleinen Dorf, das in einen Teil am Meer und einen am Berg gebaut ist, ein Vorzei­ge­pro­jekt zur Aufnahme von Geflüch­teten, das eine Oase inmitten einer der struk­tur­schwäch­sten Regionen Europas schuf. Denn wie im Rest Kala­briens stehen auch in Riace viele Häuser leer, die Menschen wandern seit Jahr­zehnten ab – wegen der Arbeits­lo­sig­keit, den fehlenden Perspek­tiven und der Mafia. Seit Jahr­zehnten üben die Fami­li­en­clans der ‘Ndran­gheta massiven Einfluss auf die wirt­schaft­li­chen und gesell­schaft­li­chen Struk­turen Kala­briens aus und sorgen mitunter dafür, dass die Region abge­hängt bleibt.

Wie überall in Kala­brien stehen auch in Riace viele Häuser leer (Foto: Simon Muster)

Als 1998 kurdi­sche Geflüch­tete mit dem Boot am Strand Riaces ankamen, öffnete das Dorf seine Pforten. Der dama­lige Lehrer und spätere Bürger­mei­ster Dome­nico Lucano sorgte dafür, dass das Dorf wieder­be­lebt wurde: Geflüch­tete zogen in leer­ste­hende Häuser ein, restau­rierten sie gemeinsam mit schon ansäs­sigen Riacesi. Das Dorf erlebte einen wirt­schaft­li­chen Aufschwung: Hand­werks­läden, eine Post und eine Arzt­praxis eröff­neten, eine Schule wurde gebaut. Sogar eine lokale Gutschein­wäh­rung wurde einge­führt, um die Verzö­ge­rungen der Unter­stüt­zungs­gelder des Innen­mi­ni­ste­riums und der EU zu überbrücken. 

Zwischen 2004 und 2018 nahm die Dorf­be­völ­ke­rung um fast über die Hälfte zu. Riace sei zum auto­nomen Gebiet inner­halb einer von Krimi­na­lität durch­zo­genen Gegend geworden, erzählt die Jour­na­li­stin Tiziana Barillà. „Die Wasser­ver­sor­gung wurde öffent­lich, indem ein Brunnen gebaut wurde. Dutzende neue Arbeits­stellen wurden geschaffen. Dome­nico Lucano machte Riace so zu einem von der ‘Ndran­gheta unab­hän­gigen Gebiet.“ 

Im „Vill­agio Globale“ liegen viele Hand­werks­läden, die Geflüch­tete gebaut haben (Foto: Simon Muster)

Als lokales und inte­gra­tives Aufnah­me­mo­dell – einer soge­nannten „Acco­gli­enza Diffusa“ – stand Riace der neueren Politik der EU entgegen, die Geflüch­tete in grossen Zelt­städten an oder hinter den Aussen­grenzen sammelt und sie von der lokalen Bevöl­ke­rung abson­dert. Gerade deshalb wurde das „Modell Riace“ zu einem vorbild­haften Beispiel. Doch im Oktober 2018, kurz nachdem die rechts­po­pu­li­sti­sche Lega mit dem Movi­mento 5 Stelle auf natio­naler Ebene eine neue Regie­rungs­ko­ali­tion einge­gangen war, kam die Guardia di Finanza bei Dome­nico Lucano zu Besuch. „Damals hat sich in Italien die Haltung verbreitet, dass das Modell Riace dazu da sei, Profit zu machen“, erin­nert sich Barillà. „Dass die Aufnahme von Geflüch­teten Busi­ness sei.“ 

In der Folge wird Lucano Verun­treuung öffent­li­cher Gelder vorge­worfen. Die Polizei stellte ihn unter Haus­ar­rest, Innen­mi­ni­ster Matteo Salvini setzte Hetz-Tweets gegen ihn und „alle anderen Gutmen­schen“ ab. Zwischen­zeit­lich musste Lucano Riace verlassen, ebenso ein Groß­teil der 450 in Riace lebenden Geflüch­teten. Viele von ihnen wurden in Sammel­un­ter­künfte gebracht, von denen einige unter der Kontrolle der ‘Ndran­gheta stehen.

Abfall­ent­sor­gung mit Maultieren

Die ‘Ndran­gheta zieht in Kala­brien viele Fäden gleich­zeitig, während der Staat nicht genü­gend Struktur und Sicher­heit bieten kann. Neben Erpres­sung, dem Drogen­ge­schäft und dem Bauge­schäft schlägt die Mafia auch von der Orga­ni­sa­tion der Müll­ab­fuhr Profit. 

In Riace war dies bis 2018 anders, wie Guiseppe und Alba erzählen, während sie einen Abhang voller Ställe über­blicken. „Lucano hat die Natur hier wieder­be­lebt und gleich­zeitig Arbeits­mög­lich­keiten für die Geflüch­teten geschaffen“, sagt Alba. Diese seien mit den Maul­tieren auf einem grossen Wagen durch die engen Gassen gefahren und hätten den Abfall der 2100 Einwohner:innen eingesammelt. 

In diesen Ställen lebten die Maul­tiere, mit denen Geflüch­tete die Abfall­ent­sor­gung leisteten (Foto: Simon Muster)
Auch Kala­brien spürt die Folgen des Kima­wan­dels (Foto: Simon Muster)

Weil die Vergabe der Aufträge nur an Geflüch­tete statt­ge­funden haben soll, verur­teilt das Gericht Lucano auch dafür. Der Esel­wagen steht heute unbe­nutzt in einer Scheune, der neue Bürger­mei­ster – ein Poli­tiker der rechts­na­tio­nalen Lega – habe die Abfall­ent­sor­gung den Geflüch­teten wieder entzogen, erklärt Giuseppe beim Spazier­gang durch das Dorf. Immer wieder bleiben er und Alba bei Wand­ma­le­reien von Aktivist:innen stehen. „Die Person, die dieses Graf­fiti hier gemacht hat, wurde später ermordet. Von der Mafia.“ Überall sieht man auch Haus­türen, die zerkratzt sind. Von den Anhänger:innen des neuen Bürger­mei­sters, als Protest gegen Lucano und die Geflüch­teten, wie sie erzählen.

Dass nach Lucano nun ein Lega-Poli­tiker die Geschicke des Dorfes lenkt, liege daran, dass der Wider­stand der rechten Regie­rung gegen das Projekt so immens gewesen sei und das Dorf gespalten habe, wie Alba meint. Das durch die Abset­zung Lucanos entstan­dene Vakuum hinter­liess neben Wut auch Verun­si­che­rung und Angst. Die Rechte wusste dies zu nutzen. Es besteht aber der Verdacht, dass der dama­lige Innen­mi­ni­ster Salvini die Staats­an­walt­schaft in der Präfektur Locri dazu gebracht hat, Unter­su­chungen gegen den Bürger­mei­ster zu starten. 

Die Verur­tei­lung von Lucano Ende September sende eine klare Botschaft, wie Gian­franco Schia­vone meint: „Wenn du etwas verän­dern willst in dieser Gesell­schaft, dann musst du hinter Gitter.“ Der in Triest lebende Jurist hat sich auf inter­na­tio­nales Migra­ti­ons­recht spezia­li­siert und ist Präsi­dent des Consorzio Italiano di Soli­da­rietà (Konsor­tium der italie­ni­schen Soli­da­rität). Der Verein leistet seit 1998 juri­sti­sche Unter­stüt­zung für Geflüch­tete. In dieser Funk­tion hat er auch die Frau von Lucano verteidigt. 

In ganz Riace haben Aktivist:innen Wand­ma­lerein hinter­lassen (Foto. Simon Muster)

Trotzdem klingt bei Schia­vone leise Kritik am Vorgehen von Lucano an: „Ich habe ihm immer gesagt: Das Modell hat seine Limits. Die Aufnahme von Menschen muss nach­haltig sein.“ Oft habe Lucano zu starr und ideo­lo­gisch gehan­delt. Es sei vergessen gegangen, dass auch Riace nur ein Durch­gangsort sei, man ausser psycho­lo­gi­schem Schutz nicht gross etwas bieten könne und viele der Geflüch­teten irgend­wann in Rich­tung Norden weiter­ziehen würden.

Heute leben noch rund 100 Geflüch­tete in Riace. Das Dorf wirkt wieder ausge­storben, nur eine Gruppe Kinder, die die Via Roma he­rrunterrennen, versprühen ein wenig Leben. Gian­franco Schia­vone sieht aktuell keine Perspek­tive für Verän­de­rung in Riace. „Seit 2018 ist das Projekt lahm­ge­legt, die juri­sti­schen Prozesse bela­sten Dome­nico Lucano sehr. Und auch in den umlie­genden Dörfern ist der Elan nicht gross, das Modell Riace wieder zum Leben zu erwecken.“ Auch Alba weiss, dass die Situa­tion nicht rosig ist. „Doch wir werden nicht aufgeben und versu­chen, alles wieder aufzu­bauen“, sagt sie müde, aber überzeugt.


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