Vermö­gens­un­gleich­heit in der Schweiz: „Eine Erbschafts­steuer wäre am wirksamsten“

Am 26. September stimmt die Schweiz über die 99-Prozent-Initia­tive ab. Die Ökonomin Isabel Martínez erklärt im Inter­view, weshalb eine Erbschafts­steuer effi­zi­enter wäre, um Vermö­gens­un­gleich­heit zu bekämpfen. 
Eine Erbaschaftssteuer wäre der direktere Weg, um gegen die ungleiche Vermögensverteilung anzugehen, findet Isaebl Martinez. (Bild: Unsplash)

In einer Woche stimmt die Schweizer Stimm­be­völ­ke­rung über die 99-Prozent-Initia­tive ab. Laut Initia­tiv­ko­mitee soll damit vor allem die Vermö­gens­un­gleich­heit in der Schweiz bekämpft werden. Wir haben mit der Ökonomin Isabel Martínez darüber gespro­chen, warum die Ungleich­heit so gross ist und wie sie am besten zu bekämpfen wäre.

Das Lamm: Sie forschen seit Jahren über Einkom­mens- und Vermö­gens­un­gleich­heit in der Schweiz. Was können Sie beobachten?

Isabel Martínez: Die Einkom­mens­un­gleich­heit in der Schweiz ist über die letzten 100 Jahre relativ stabil geblieben. Jüngst gibt es einen leichten Anstieg, der auf die aller­höch­sten Einkommen zurück­zu­führen ist. In Bezug auf die Einkom­mens­un­gleich­heit und die Entwick­lung der Top-Einkommen liegt die Schweiz inter­na­tional im Mittelfeld.

Anders sieht es jedoch bei der Vermö­gens­un­gleich­heit aus. Diese ist in allen Ländern höher als die Einkom­mens­un­gleich­heit, aber die Schweiz weist inter­na­tional gesehen eine hohe Vermö­gens­un­gleich­heit auf. Wiederum war hier der stärkste Anstieg bei den höch­sten Vermögen zu beobachten. 

Was sind die wich­tig­sten Faktoren für diese Entwicklung?

Wir können nicht abschlies­send erklären, welches die Gründe hierfür sind. Klar spielt die Globa­li­sie­rung eine Rolle, von welcher bestimmte Gruppen stärker als andere profi­tieren, oder etwa die expan­sive Geld­po­litik der letzten zehn Jahre. 

Für die höch­sten Einkommen spielt in der Schweiz seit den 90er-Jahren wohl auch die soge­nannte „anreiz­kom­pa­tible Vergü­tung“, die Praxis der Auszah­lung von indi­vi­du­ellen Boni, eine grosse Rolle. Diese Praxis nahm ihren Anfang in den USA und schwappte in den Schweizer Finanz­sektor über. Inzwi­schen ist diese Praxis in den meisten Bran­chen gang und gäbe und trägt zur Einkom­mens­un­gleich­heit bei.

Wie sieht es bei den Vermögen aus?

In Bezug auf die anstei­gende Vermö­gens­un­gleich­heit haben in der Schweiz die Erbschaften eine essen­zi­elle Rolle gespielt. Die Bilanz­daten der 300 „Super­rei­chen“ in der Schweiz zeigen, dass es sich bei über 80 Prozent der Schweizer:innen um Erb:innen handelt. Bei auslän­di­schen Staats­an­ge­hö­rigen auf dieser Liste ist die Anzahl der Erb:innen mit knapp 70 Prozent zwar geringer, aber eben­falls hoch.

Kann die 99-Prozent-Initia­tive als steu­er­po­li­ti­sche Mass­nahme dieser Entwick­lung entgegenwirken?

Um dieser Entwick­lung entge­gen­zu­wirken, wäre natür­lich eine Erbschafts­steuer am wirk­sam­sten – nun hat die 99-Prozent-Initia­tive aber nichts mit Erbschaften zu tun. Aus ökono­mi­scher Sicht wäre die Einfüh­rung einer Erbschafts­steuer aber viel effi­zi­enter. Denn Erbschaften erhält man, ohne jegliche Leistung erbracht zu haben. Mit der 99-Prozent-Initia­tive wird hingegen zur Kasse gebeten, wer sein Vermögen produktiv einsetzt, während reiner Konsum aussen vor gelassen wird.

Können Sie dies genauer erläutern?

Nehmen wir an, wir beide besitzen 50 Millionen Franken. Ich kaufe mir mit meinen 50 Millionen Franken ein Anwesen und mache es mir dort gemüt­lich – grob gesagt betrifft mich dann die 99-Prozent-Initia­tive eigent­lich nicht. Sie hingegen inve­stieren Ihre 50 Millionen Franken in Start-ups, die – ich formu­liere es extra etwas über­spitzt – erfolg­reich Produkte entwickeln, die auf das Wohl von Mensch und Planet fokus­sieren. Dann zahlen Sie im Rahmen der Initia­tive im Gegen­satz zu mir Steuern auf Ihre Kapi­tal­ein­kommen. Das Gedan­ken­spiel zeigt auch, dass man so die Vermö­gens­un­gleich­heit nur indi­rekt angeht.

Isabel Martínez ist Postdoc an der Konjunk­tur­for­schungs­stelle KOF der ETH Zürich. Sie forscht zu Einkom­mens- und Vermö­gens­un­gleich­heit in der Schweiz und steuert regel­mässig Daten zu Top-Einkommen und Vermögen in der Schweiz zum Netz­werk WID.world bei, das globale Ungleich­heit erforscht. Sie ist zudem Mitglied der Schwei­ze­ri­schen Wett­be­werbs­kom­mis­sion WEKO, wo sie den Schwei­ze­ri­schen Gewerk­schafts­bund SGB vertritt. (Foto: Florian Bachmann)

Was wäre denn der direk­tere Weg?

Wie schon erwähnt ist meiner Meinung nach eine Erbschafts­steuer am sinn­voll­sten, wenn man Vermö­gens­un­gleich­heit bekämpfen will – zusammen mit der Vermö­gens­steuer, die in der Schweiz schon existiert.

Zwar könnte auch eine extrem progres­sive Einkom­mens­steuer einge­führt werden, um Ungleich­heit zu redu­zieren. Laut Lehr­buch laufen sehr progres­sive Einkom­mens­steuern aber Gefahr, dass sie Leistungs­an­reize schwä­chen. Weshalb sollte ich noch 60 Stunden pro Woche arbeiten, wenn ich am Schluss dasselbe habe, wie wenn ich 20 Stunden gear­beitet hätte? Das Ausmass dieser Anreiz­wir­kung ist jedoch unklar. Sicher­lich reagieren die Menschen auf Steuern, aber die Realität ist komplexer und viel­schich­tiger. Es zählen nicht nur Steuern. Und es reagieren nicht alle gleich.

Gibt es Studien hierzu?

Es ist grund­sätz­lich schwierig, hierzu saubere empi­ri­sche Studien anzu­stellen. Die Steu­er­än­de­rung muss einer­seits genü­gend gross und für die Leute verständ­lich sein. Zudem müssen andere wich­tige Bedin­gungen berück­sich­tigt werden. Bei grossen Steu­er­än­de­rungen handelt es sich meist um umfang­reiche Programme. Eine höhere Besteue­rung könnte etwa mit einer Verbes­se­rung des Kinder­be­treu­ungs­an­ge­botes einher­gehen, was wiederum einen posi­tiven Anreiz auf das Arbeits­an­gebot hat. 

Wir selbst unter­suchten in einer Studie während einer Bemes­sungs­lücke Ende der 90er-Jahre im Zuge der Umstel­lung von der dama­ligen Vergan­gen­heits- zur gängigen Gegen­warts­be­mes­sung in der Schweiz eigent­lich das Umge­kehrte. Dabei handelte es sich um eine zwar nur vorüber­ge­hende, aber sehr grosse Steu­er­sen­kung – das Einkommen wurde während ein bis zwei Jahren de facto nicht besteuert – aber die Reak­tion auf dem Arbeits­markt lag prak­tisch bei null. Aller­dings handelte es sich nur um eine tempo­räre Steu­er­sen­kung. Andere Studien finden, dass Zweitverdiener:innen und Junge stärker auf Steu­er­erhö­hungen reagieren als Arbeit­neh­mende, die gut im Arbeits­markt inte­griert sind.

Zudem konnte beob­achtet werden, dass Personen mit hohen Einkommen und Vermögen sehr wohl auf grosse Steu­er­än­de­rungen reagieren — unter anderem, indem sie versu­chen, ihre Steuern kurz­fri­stig zu opti­mieren und zum Beispiel Einkommen vom einen ins andere Steu­er­jahr verschieben.

Was bedeutet dies in Bezug auf die 99-Prozent-Initiative?

Eine Initia­tive, welche das Steu­er­sy­stem kompli­zierter macht – und dies ist bei der 99-Prozent-Initia­tive der Fall – läuft immer Gefahr, Steu­er­op­ti­mie­rung zu begün­stigen. Und davon profi­tieren in erster Linie die Reichen.

So schafft die Initia­tive einen Unter­schied zwischen Kapital- und Arbeits­ein­kommen. Es spielt plötz­lich eine Rolle, woher das Geld kommt und ich fange mir beispiels­weise an zu über­legen, ob ich nicht besser einen Teil meines Kapi­tal­ein­kom­mens als Lohn ausweisen könnte.

Noch viel wich­tiger scheint mir im vorlie­genden Fall aber der Umgang mit Kapi­tal­ge­winnen. Die Schweiz kennt im Gegen­satz zu vielen anderen Ländern bis anhin keine Kapi­tal­ge­winn­steuer, weil sie Vermögen bereits versteuert. Im inter­na­tio­nalen Vergleich haben nur wenige Länder eine Vermö­gens­steuer. Dies folgt einer einfa­chen Logik: Entweder man versteuert das Vermögen oder den reali­sierten Kapi­tal­ge­winn. Wir versteuern über unsere Vermö­gens­steuer die Kapi­tal­ge­winne eigent­lich jedes Jahr schon indi­rekt, und zwar völlig unab­hängig davon, ob sie reali­siert wurden oder nicht.

Was heisst dies konkret?

Wenn mein Akti­en­paket an Wert gewinnt, zahle ich in der Schweiz Vermö­gens­steuer darauf, unab­hängig davon, ob ich dieses Paket verkauft habe oder nicht. In den USA, wo Kapi­tal­ge­winne versteuert werden, zahle ich diese Einkom­mens­steuer nur, wenn ich den Gewinn durch den Verkauf des Akti­en­pa­kets auch tatsäch­lich realisiere.

Mit der 99-Prozent-Initia­tive würden diese reali­sierten Kapi­tal­ge­winne auch in der Schweiz als Einkommen besteuert werden und dies verkom­pli­ziert das Steu­er­sy­stem. Denn: Wenn wir reali­sierte Kapi­tal­ge­winne besteuern, müssen wir konse­quen­ter­weise reali­sierte Kapi­tal­ver­luste abzugs­fähig machen. Bei der Unter­neh­mens­steuer ist dies der Fall.

Soge­nannte Verlust­vor­träge erlauben es, in einem Jahr ange­häufte Verluste mit den Gewinnen späterer Jahre zu verrechnen und somit die Steu­er­pro­gres­sion zu glätten. Und diesem legalen Steu­er­trick ist auch zu verdanken, dass Donald Trump über Jahre keine Einkom­mens­steuer bezahlt hat. Sie sehen: Diese Situa­tion schafft ein riesiges Steueroptimierungspotential.

Die Initia­tive könnte also die uner­wünschte Wirkung haben, dass mehr Geld am Fiskus vorbei­ge­schleust wird?

Ganz ehrlich, diese Initia­tive würde ja ledig­lich Leute mit hohen Vermögen treffen. Vorge­schlagen sind Vermö­gens­ein­kommen ab 100’000 Franken – um solche Einkünfte zu erzielen, müsste man über ein Vermögen von 3 Millionen oder mehr verfügen. 

Es würde mich aber nicht wundern, wenn bei Annahme der Initia­tive unser bürger­li­ches Parla­ment bei der Umset­zung die Grenze weiter oben ansetzen würde, sodass sie bei weniger Steu­er­pflich­tigen greift, als von den Initiant:innen beabsichtigt. 

Die effek­tive Wirkung der Initia­tive scheint also gering. 

Wahr­schein­lich wären die eigent­li­chen Gewinner:innen dieser Initia­tive die Steuerberater:innen. In den USA beispiels­weise konnte beob­achtet werden, wie solche Steu­er­re­formen vermehrt Steuerberater:innen aufs Tapet brachten. Eine Unter­su­chung in Chile hat gezeigt, dass die Umset­zung von OECD-Richt­li­nien ein Steu­er­be­ra­tungs­busi­ness ins Leben rief, das dort zuvor gar nicht existierte.

Trotz womög­lich geringer effek­tiver Wirkung argu­men­tieren die Gegner:innen der Initia­tive, dass eine Besteue­rung der Vermö­gens­ein­kommen über 100’000 CHF zu 150 Prozent unfair sei. Es würden damit Einkommen besteuert, welches gar nie reali­siert worden sei. 

Die Gegner:innen machen sich hier den marke­ting­tech­nisch eher schlecht formu­lierten Kampagn­en­text zunutze. Die Formu­lie­rung 150 Prozent mag zwar konfis­kato­risch klingen, ist es aber in keiner Weise. Es handelt sich letzt­lich um eine Erhö­hung des Steu­er­satzes, wie es bei progres­siven Steuern immer der Fall ist. 

Zudem wenden wir dasselbe Konzept in der Schweiz auf die „privi­le­gierte Divi­den­den­be­steue­rung“ an – einfach umge­kehrt. Die privi­le­gierte Divi­den­den­be­steue­rung kommt zum Zug, wenn ich 10 Prozent oder mehr Betei­li­gung an einem Schweizer Unter­nehmen habe.

Das heisst: Anstatt die 10’000 Franken ausge­schüt­teten Divi­denden müssen bei einer privi­le­gierten Divi­den­den­be­steue­rung von 80 Prozent nur 8’000 Franken versteuert werden. Der effek­tive Steu­er­satz auf die 10’000 Franken fällt also geringer aus, als wenn es sich zum Beispiel um Arbeits­ein­kommen handeln würde. Der Bund und Kantone haben dies 2009 einge­führt mit der Begrün­dung, dass der Gewinn des Unter­neh­mens bereits versteuert wurde, weshalb die Einkom­mens­steuer auf Divi­denden abge­schwächt werden soll.

Das Argu­ment der Doppel­be­steue­rung wird ja auch immer wieder von Gegner:innen einer Erbschafts­steuer, die sie vorschlagen, aufge­worfen – das Erbe sei ja bereits mit der Einkom­mens­steuer besteuert worden.

Die Diskus­sion um die Doppel­be­steue­rung finde ich total hinfällig. Die Erb:innen, die Nutzniesser:innen dieses Vermö­gens, die nichts dafür tun mussten, müssen keinen Rappen zahlen. 

Was man einfach sehen muss: Eine Erbschafts­steuer wäre sinn­voll, um Ungleich­heit zu redu­zieren, indem sie über längere Zeit­spannen einen Ausgleich schaffen könnte – ein Teil des Vermö­gens würde von den Reich­sten abfliessen. Zudem wäre sie effi­zient, weil sie Leistungs­an­reize kaum tangiert.


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