„Ab Dienstagmorgen sechs Uhr wollen 50 bis 100 Mitglieder der Gewaltfreien Aktion Kaiseraugst (GAK) den Bauplatz des Atomkraftwerks besetzen“, schrieb die Basler National-Zeitung am Vorabend des 1. Aprils 1975. Die ebenfalls informierte Baufirma Motor-Columbus AG glaubte nicht an eine Durchführung der Aktion.
Doch die GAK machte ernst. In der Region verbreitete sie Flyer, auf denen zu lesen war: „Kaiseraugst. Der Aushub hat begonnen. Atomkraftwerkgelände: besetzt. Wir fordern: Demokratischer Volksentscheid! Meteorologische Oberexpertise! Gesamtenergie-Konzeption ohne vollendete Tatsachen!“
Die Gewaltfreie Aktion Kaiseraugst war bereits die zweite Gruppe, die den Bauplatz des geplanten Atomkraftwerks besetzte. Ende 1973 hatte ein Dutzend Baselbieter Jungsozialist*innen den Platz während fünf Tagen in einem „Probehock“ für sich eingenommen. Die rege Anteilnahme von Sympathisant*innen führte zur Gründung erster Ortsgruppen. Es begannen Vorbereitungen für weiteren gewaltfreien Widerstand, der grössere Bevölkerungskreise animieren sollte.
An Veranstaltungen im Herbst 1974 konkretisierte die GAK ihre Pläne für gesetzeswidrige Aktionen: Um Hemmungen bei potentiellen Teilnehmer*innen abzubauen, liess sie „Bereitschaftserklärung“ unterschreiben, die zur Teilnahme an einer illegalen „Volksversammlung“ auf dem Baugelände im September verpflichtete. Über 4’000 Menschen hatten unterschrieben. Gekommen sind schliesslich 6’000.
Der grosse Aufmarsch veranlasste den Energiekonzern Motor-Columbus AG dazu, die Bautätigkeiten zu verschieben. Es erübrigte sich vorerst eine längerfristige Besetzung. Trotzdem versuchten die AKW-Gegner*innen über das Nichtbezahlen von Stromrechnungen oder den Boykott von Aluminium-Produkten ihrem Anliegen Nachdruck zu verleihen.
Doch im Frühling 1975 fuhren trotzdem die ersten Bagger auf dem Gelände auf. Die GAK beschloss daraufhin die Besetzung für den 1. April 1975.
Als sich die AKW-Gegner*innen am Morgen auf dem Gelände einfanden, blockierten sie die Zufahrtswege und setzten sich auf die Baumaschinen. Nach Gesprächen bekundeten einige Bauarbeiter*innen ihre Solidarität mit den Besetzer*innen, andere versuchten dennoch, mit Lastwagen auf das Baugelände zu gelangen.
Die Spannungen legten sich erst, als das Bauunternehmen die Maschinen abzog. In den folgenden Tagen wurden Einrichtungen aufgebaut und Arbeitszirkel gebildet. Immer mehr Menschen schlossen sich den Aktivist*innen an. Eine Woche später versammelten sich 15’000 Menschen.
Dies war möglich, weil die AKW-Gegner*innen in breiten Bevölkerungsschichten bereits ein Bewusstsein für die immense Gefahr geschaffen hatten, die das Bauvorhaben von acht Atomkraftwerken und insgesamt 14 Atomreaktoren in einem solch kleinen Raum wie der Nordwestschweiz mit sich zog.
Die Besetzung in Kaiseraugst war der letzte Ausweg für die Aktivist*innen, um vermeiden zu können, dieser Gefahr ausgesetzt zu werden. Bis dahin hatten sie den „Gang durch die Institutionen“ bereits hinter sich. Verschiedene Anti-AKW-Gruppierungen versuchten in Form von Resolutionen, Petitionen und Appellen an die Regierung, aber auch in Abstimmungen und auf dem Rechtsweg die Bauvorhaben zu verhindern. Ohne Erfolg.
Denn die Gesetzgebung über den Bau von Atomkraftwerken lag seit 1957 und der Zustimmung der Stimmbevölkerung zu Artikel 24 der Bundesverfassung in der Kompetenz des Bundes. Im Sinne des Vorhabens einer „friedlichen Nutzung der Kernenergie“ liess der Bundesrat 1957 dazu verlauten: „Jedenfalls wird das zukünftige schweizerische Atomrecht davon auszugehen haben, dass die Nutzung der Kernenergie Sache der Wirtschaft sei, auch dass der freie Wettbewerb möglichst gewahrt bleiben soll…“
Entgegen dem Gesetz – weil demokratisch
Das heute in Bern für einen echten Klimaschutz einstehende Konglomerat aus Klimastreik, Extinction Rebellion, Collective Climate Justice, Collective Break Free sowie Greenpeace Schweiz sieht sich in der Frage der politischen Verhältnisse mit ähnlichen Umständen wie damals in Kaiseraugst konfrontiert – wenn auch der Kampf der Klimabewegung fundamentaler ist.
Auch ihr ist es gelungen, das Bewusstsein für eine existenzielle Gefahr zu schaffen, wie die National- und Ständeratswahlen von Herbst 2019 gezeigt haben. Die Klimabewegung hat einen grossen Teil der Stimmbevölkerung dazu animieren können, grünen Listen und Kandidat*innen ihre Stimme zu geben.
Doch die Verwässerung des CO2-Gesetzes oder das Milliardenhilfspaket für die Swiss haben verdeutlicht, dass der Zuwachs an grünen Parlamentarier*innen noch lange nicht zu effektiven politischen Handlungen führt, um die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erfüllen. Ausserdem wurde in mehreren Städten und Kantonen der Klimanotstand ausgerufen, ohne dass rasche und einschneidende politische Massnahmen gefolgt wären.
Zum einen erweist sich die Langsamkeit des politischen Systems der Schweiz in der Klimakrise als wenig kompatibel mit den Veränderungen, die schnell herbeigeführt werden müssten, um die Folgen der Klimakrise mindern zu können.
Zum anderen – um wieder bei Kaiseraugst anzuknüpfen – liegt das Problem vor allem darin, dass die Politik die Grosskonzerne und den Finanzmarkt bei ihren Investitionen in die Fossilindustrie gewähren lässt.
Wie auch die AKW-Gegner*innen bei Kaiseraugst 1975 hat die Klimabewegung heute versucht, von aussen Druck auf Regierung, Parlament und Grosskonzerne auszuüben – mit mässigem Erfolg. Die Untätigkeit und Verantwortungslosigkeit der hiesigen Mandatsträger*innen zeigt, dass sie durch die Sakralisierung ökonomischer Interessen noch immer die Augen vor der bevorstehenden Klimakatastrophe verschliessen. Und dass es der Klimabewegung bisher nicht gelungen ist, die Politik zu Regulierungen zu bewegen. Entscheidungen, welche die Existenz des Planeten und somit aller Menschen betreffen, liegen nach wie vor nicht nur in den Händen der Politik, sondern auch in von Aktionär*innen gewählten Verwaltungsräten.
Das wiederum liegt daran, dass Grosskonzerne ein Monopol besitzen und die Bevölkerung von ihnen abhängig ist. Dieser Umstand fördert den Wahlerfolg von Parteien, die sich gegen Markteingriffe stellen – ein Teufelskreis. Um mit aller Deutlichkeit auf diesen Missstand hinzuweisen, ist es äusserst demokratisch, wenn die Klimabewegung ihrerseits gegen bestehende Gesetze verstösst.
Ein Schritt in Richtung radikale Veränderung
„Lieber heute aktiv als morgen radioaktiv“, lautete eine der Parolen auf dem besetzten Gelände des geplanten Atomkraftwerkes in Kaiseraugst 1975. Die Signalwirkung der elfwöchigen Besetzung führte zur vorläufigen Einstellung der Bauarbeiten, zu Verhandlungen mit dem Bundesrat und legte den Grundstein für das Ende des Projektes 1988.
Ausserdem lancierten die AKW-Gegner*innen infolge der Auswirkungen der deutlicher werdenden Umweltverschmutzung und Zwischenfällen an Reaktoren in Tschernobyl und Harrisburg in den USA um 1980 eine Debatte rund um das „Recht auf Widerstand im Rechtsstaat“. Sie orientierten sich dabei an der vom amerikanischen Schriftsteller Henry David Thoreau erstmalig 1848 in seinem Essay „On the Duty of Civil Disobedience“ formulierten Ausübung ziviler Ungehorsam: die gewaltfreie und subversive Verweigerung der Einhaltung von Gesetzen der bestehenden Ordnung.
Indem sich die Anti-AKW-Bewegung auf dem Baugelände basisdemokratisch organisierend widersetzte, zeigte sie alternative Möglichkeiten zu den gegebenen politischen Strukturen und Gesetzen auf und trug dabei zu ihrer Hinterfragung bei. Ob Blockade, Boykott oder eben Besetzung – durch konsequentes Handeln für die Sache und die dadurch provozierte angedrohte Repression seitens des Staates gelang es der Bewegung, Aufmerksamkeit zu generieren und eine Welle der Solidarität auszulösen.
So gesellten sich vor allem gegen Abend und an den Wochenenden unzählige Sympathisant*innen zu der dauerhaft anwesenden, aber relativ klein gebliebenen Anzahl Aktivist*innen (vor allem Student*innen mit Nähe zur 68er-Bewegung und an den Rand der Gesellschaft gedrängte Menschen). Die Entwicklungen in Kaiseraugst verdeutlichen: Die Ausübung zivilen Ungehorsams war der entscheidende Schritt, um eine grosse Masse zu mobilisieren und somit das Vorhaben des AKW-Baus hinauszuzögern und schliesslich zu verhindern.
In Anbetracht der radikalen Veränderungen, deren es bedarf, um die Folgen des Klimawandels im Rahmen zu halten, werden Zuwiderhandlungen und Besetzungen wohl nicht ausreichend sein, um die politischen Akteur*innen effektiv in ihren Grundfesten zu erschüttern.
Doch sie sind ein erster Schritt, um aufzuzeigen, dass sich junge Menschen bereit erklären, Verhaftung und Strafverfolgung auf sich zu nehmen, um für die Verabschiedung sofortiger Massnahmen zur Verringerung der Emissionen einzustehen.
In dem vom Bundesrat schon 1957 propagierten „freien Wettbewerb, der gewahrt bleiben soll“, wird eine klimapolitische Umkehr nicht möglich sein. Im Unterschied zu Kaiseraugst kämpft die Klimabewegung mit einem Problem, das einen langfristigen, generationenübergreifenden und globalen Einsatz erfordert. Dies zu verdeutlichen, wird ihre Aufgabe in den nächsten Monaten sein.
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