Vor dem EU-Beitritt stand Gross­bri­tan­niens Umwelt vor dem Kollaps — droht nach dem Brexit der Rückfall?

Man kann über die EU denken, was man will; die Umwelt verdankt ihr einiges. Ironie des Schick­sals: Kein Land hat von der Umwelt­ge­setz­ge­bung der EU wohl mehr profi­tiert als das Verei­nigte Königreich. 
In der Battersea Power Station verbrannten noch mitten in London bis 1983 jedes Jahr 1 Million Tonnen Kohle. (Foto: Scott Wylie)

Bis in die 1970er Jahre galt das Verei­nigte König­reich als „The Dirty Man of Europe“. Diesen Ruf verdankte das König­reich unter anderem viel saurem Regen: Die Schwe­fel­di­oxid­emis­sionen im UK waren euro­pa­weit am grössten. Diese Emis­sionen stammten aus Kohle­kraft­werken und anderen Indu­strie­be­trieben und führten zu massivem Wald­sterben. Aber auch Abwasser, das mehr oder weniger unge­fil­tert in die Meere floss, die Küsten verschmutzte und Strände zum Stinken brachte, chemi­ka­li­en­ver­seuchtes Trink­wasser und starke Luft­ver­schmut­zung gehörten damals zum Verei­nigten König­reich wie der After­noon Tea und das Sunday Roast.

Wie die EU das Umwelt­recht voranbrachte

Umwelt­schutz gab es bis in die 1970er Jahre im Verei­nigten König­reich wenn, dann nur in einzelnen Berei­chen und auf lokaler Ebene. 1973 war deshalb ein wich­tiges Jahr für die Umwelt im UK: Das Verei­nigte König­reich trat der EU, damals noch die Euro­päi­sche Gemein­schaft (EG), bei. Im glei­chen Jahr verab­schie­dete die EG als direkte Folge der UN-Stock­holm Confe­rence on the Human Envi­ron­ment von 1972 ihr erstes Umwelt­ak­ti­ons­pro­gramm. Seither ist die EU eine wich­tige Akteurin in der Entwick­lung von Umwelt­be­stim­mungen und gilt als wich­tige Quelle für Umweltrecht.

Nebst zahl­rei­chen Richt­li­nien und Verord­nungen, die es mitt­ler­weile gibt, sind vor allem die im euro­päi­schen Umwelt­recht geltenden Prin­zi­pien wichtig, wie zum Beispiel das Vorsor­ge­prinzip (Precau­tio­nary Prin­ciple), wonach umwelt­po­li­ti­sche Mass­nahmen so zu gestalten sind, dass Umwelt­ge­fahren vermieden werden. Dabei sind nicht nur drohende Gefahren abzu­wehren und bereits bestehende Schäden zu besei­tigen, sondern es gilt, von vorn­herein Entwick­lungen zu verhin­dern, die zukünftig zu Umwelt­be­la­stungen führen können. Die Euro­päi­sche Kommis­sion über­wacht die Mitglied­staaten betref­fend der Einhal­tung von EU-Umwelt­recht. Hinzu kommt, dass der Euro­päi­sche Gerichtshof (EuGH) im Laufe der Jahr­zehnte eine reiche und zugleich komplexe Recht­spre­chung zu Umwelt­themen geschaffen hat, von der die Umwelt in ganz Europa profitiert.

Seit dem Beitritt zur EU muss das Verei­nigte König­reich das Umwelt­recht der EU umsetzen. Das Resultat: bessere Luft, saube­rere Strände, saube­rere Flüsse, besseres Trink­wasser. Vögel und andere Tiere im UK profi­tieren eben­falls vom EU-Umwelt­recht. Dies geschah selbst­ver­ständ­lich nicht über Nacht, aber das UK konnte sich als EU-Mitglied nicht mehr einfach irgendwie durch­wur­steln, sondern musste sich an die euro­päi­schen Vorgaben halten. Das fiel den BritInnen nicht immer ganz einfach. Aber auch hier bot” die EU eine Lösung an: ein Gerichtsverfahren.

Was geschah, als sich Gross­bri­tan­nien nicht an die EU-Richt­li­nien hielt

Hält sich ein Mitglied­staat nicht an die Verpflich­tungen, so leitet die EU-Kommis­sion ein soge­nanntes Vertrags­ver­let­zungs­ver­fahren (Infrin­ge­ment Proce­e­dings) ein, was in einem Gerichts­ver­fahren vor dem EuGH enden kann. Es gab in der Vergan­gen­heit auch Gerichts­fälle im Umwelt­be­reich, in denen der EuGH das Verei­nigte König­reich verur­teilte, weil es EU-Richt­li­nien nicht richtig umsetzte.

Zum Beispiel in einem Fall betref­fend Trink­wasser: Gemäss EU-Trink­was­ser­richt­linie von 1980 (welche zwischen­zeit­lich durch eine neuere Richt­linie ersetzt wurde) wäre die maximal erlaubte Konzen­tra­tion von Nitraten im Trink­wasser 50mg/l gewesen. In 28 Versor­gungs­zonen Englands wurde dieser Grenz­wert über­schritten, weshalb die Kommis­sion ein Gerichts­ver­fahren gegen das Verei­nigte König­reich beim EuGH einlei­tete. Der EuGH hielt in seinem Urteil fest, dass die in der Richt­linie fest­ge­legten Grenz­werte für Nitrate abso­lute Geltung haben und vom UK einge­halten werden müssen und keine der Ausnahmen gemäss Richt­linie vorliege, die ein Abwei­chen recht­fer­tigte (Fall C‑337/89 Commis­sion v. UK (1992) ECR I‑6103). Der UK erhielt vom EuGH einen Rüffel und musste dafür sorgen, dass es die Grenz­werte gemäss Trink­was­ser­richt­linie einhält. Hätten die BritInnen das Urteil igno­riert, hätten sie ein weiteres Verfahren riskiert. Dann hätten Straf­geld­zah­lungen gedroht.

Ein weiteres Beispiel, das zeigt, dass die Umwelt im UK vom EU-Recht profi­tierte, betrifft Strände und Küsten­ge­wässer: An vielen Stränden des Verei­nigten König­reichs konnte bzw. wollte man noch in den 1980er Jahren nicht schwimmen. Kondome und Tampons spülte es an die Strände, das Wasser selbst war durch unge­rei­nigtes Abwasser verseucht. Dank der EU-Bade­ge­wäs­ser­richt­linie und der Richt­linie über die Behand­lung von kommu­nalem Abwasser, aber auch dank dem EuGH, der zum Beispiel in einem Fall betref­fend Strände in Black­pool und South­port fest­hielt, dass das UK den Verpflich­tungen der Bade­ge­wäs­ser­richt­linie nicht nach­ge­kommen sei (Fall C‑56/90 Commis­sion v. UK (1993) ECR  I‑4109), ist die Wasser­qua­lität an den Küsten des König­reichs heute derart gut, dass man mit ganz wenigen Ausnahmen an allen Stränden im UK wieder baden kann. Strände, die noch vor über dreissig Jahren bei Tests viel zu hohe Werte an Fäkal­bak­te­rien aufwiesen, schneiden heute in solchen Tests einwand­frei ab und dies, obwohl die Stan­dards inzwi­schen strikter sind als noch in den 1980er Jahren.

Auch die briti­schen Orni­tho­lo­gInnen können der EU dankbar sein. In der Birds Direc­tive hatte die EU 1979 verbind­lich fest­ge­legt, dass den Wild­vö­geln Natur­schutz­zonen (sog. SPA, Special Protec­tion Areas) zuge­wiesen werden müssen. Deshalb verab­schie­dete das UK 1981 den Wild­life and Coun­try­side Act, um die Vorgaben der EU-Vogel­schutz­richt­linie einzu­halten. Der Wider­stand vieler Poli­ti­ke­rInnen gegen den natio­nalen Geset­zes­ent­wurf war gross. Wäre das König­reich als Mitglied der EU hierzu nicht verpflichtet gewesen, den Vorgaben gemäss EU-Richt­linie nach­zu­kommen, ist frag­lich, ob es über­haupt Schutz­be­stim­mungen in diesem Bereich zu dieser Zeit gegeben hätte. Heute verzeichnet Gross­bri­tan­nien bereits über 240 solcher Natur­schutz­zonen, die zusammen eine Fläche von einer Million Hektaren ausma­chen und viele Wild­vögel auf eine wirkungs­volle Weise schützen.

Die Fleder­mäuse wären gegen den Brexit gewesen

Auch sonst profi­tieren viele Tier­arten von EU-Recht. Zum Beispiel Fleder­mäuse: Verschie­dene Arten von Fleder­mäusen müssen aufgrund von EU-Recht, nament­lich der Richt­linie zur Erhal­tung der natür­li­chen Lebens­räume sowie der wild­le­benden Tiere und Pflanzen (kurz auch Habitat-Richt­linie genannt), geschützt werden. Infra­struk­tur­pro­jekte oder gene­rell Baupro­jekte, welche oftmals eine Bedro­hung für die natür­li­chen Habi­tate von Tieren sind, konnten respek­tive können aufgrund von EU-Umwelt­schutz­be­stim­mungen zum Teil nicht durch­ge­führt werden oder wenn, dann nur unter Einhal­tung von entspre­chend umwelt­scho­nenden Auflagen.

Der Brexit könnte alle diese Errun­gen­schaften nun gefährden. Das befürchten zumin­dest Umwelt­or­ga­ni­sa­tionen wie Friends of The Earth: Sie haben Angst, dass Gross­bri­tan­nien wieder  zum „Dirty Man of Europe“ werden könnte, wenn dann die Tren­nung vom UK von der EU voll­zogen ist und warnten bereits vor der Abstim­mung vom 23. Juni 2016 vor schmut­zigen Stränden, unreiner Luft und schwa­chen Naturschutzgesetzen.

Die Angst ist ange­sichts der Geschichte verständ­lich – aber werden die apoka­lyp­ti­schen Vorstel­lungen auch eintreffen?

Zwar ist das Verei­nigte König­reich bestrebt, möglichst viele EU-Bestim­mungen, die bisher direkt, d.h. ohne dass sie zuerst in natio­nales Recht umge­setzt werden mussten, Anwen­dung fanden, in natio­nalen Gesetzen zu veran­kern, damit sie bei der Schei­dung zwischen den Parteien nicht verloren gehen. Auch dieje­nigen natio­nalen Gesetze, die gestützt auf EU-Richt­li­nien bereits im Laufe der Jahre verab­schiedet wurden, werden zwar weiterhin gelten; sie könnten aber abge­än­dert und gerade zum Nach­teil der Umwelt abge­schwächt werden, oder nicht fort­lau­fend den neue­sten wissen­schaft­li­chen Erkennt­nissen ange­passt werden.

Wird Gross­bri­tan­nien wieder zum „Dirty Man of Europe”?

Entschei­dend für die Umwelt­si­tua­tion im UK wird sein, ob das Verei­nigte König­reich EWR-Mitglied wird. Dann würde das UK denselben Status wie beispiels­weise Norwegen oder Island erhalten und weiterhin am euro­päi­schen Binnen­markt teil­nehmen. Damit würde viel EU-Umwelt­ge­setz­ge­bung weiterhin auch unmit­telbar im UK Anwen­dung finden, aller­dings mit gewissen Ausnahmen. So würde die Bade­ge­wäs­ser­richt­linie beispiels­weise nicht mehr verbind­lich gelten, was dazu führen könnte, dass ein Ausflug zum Strand irgend­wann in Zukunft vergli­chen mit heute viel­leicht nicht mehr so gemüt­lich wäre. Das Problem: Wenn man Premier­mi­ni­sterin Theresa May folgt, wird Gross­bri­tan­nien auch dem EWR die kalte Schulter zeigen.

Natür­lich ist die Regie­rung gegen aussen bestrebt, die Umwelt­schutz­stan­dards beizu­be­halten. Umwelt­schüt­ze­rInnen befürchten jedoch, dass niemand den Über­blick bewahrt und keine Insti­tu­tion (wie eben bisher die Kommis­sion oder der EuGH) die Durch­set­zung der Bestim­mungen über­wacht. Bei der Luft­qua­lität gibt die EU den Mitglied­staaten beispiels­weise verbind­liche Ziele vor, die Gross­bri­tan­nien, wenn es dann nicht mehr EU-Mitglied ist, nicht mehr einhalten müsste (das UK ist übri­gens schon jetzt mit der Errei­chung der vorge­ge­benen Ziele in Verzug). Es drohen dem Verei­nigten König­reich dann keine Sank­tionen mehr für die Miss­ach­tung dieser Umwelt­schutz­be­stim­mungen. Die briti­sche Regie­rung wird deshalb gefor­dert sein, Mecha­nismen zu schaffen, welche die Einhal­tung der Stan­dards sicher­stellen. Dazu gehört auch, dass Personen und Orga­ni­sa­tionen die Einhal­tung der Bestim­mungen gericht­lich über­prüfen lassen können und diese Gerichte ebenso progres­sive Entscheide treffen wie der EuGH.

Auch das EU-Umwelt­recht ist längst nicht perfekt. Aber was die Umwelt angeht, ist es ohnehin fünf nach zwölf und man müsste und könnte immer noch mehr tun, verbind­li­chere Mass­nahmen beschliessen und die Einhal­tung derselben stärker über­wa­chen. Fest steht, dass es im UK mit an Sicher­heit gren­zender Wahr­schein­lich­keit in vielen Umwelt­be­rei­chen einiges schlimmer aussehen würde, wäre „The Dirty Man of Europe“ vor 44 Jahren nicht der EU beigetreten.


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 12 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 884 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Soli­da­ri­sches Abo

Nur durch Abos erhalten wir finan­zi­elle Sicher­heit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unter­stützt du uns nach­haltig und machst Jour­na­lismus demo­kra­tisch zugäng­lich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.

Ihr unter­stützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorg­fältig recher­chierte Infor­ma­tionen, kritisch aufbe­reitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unab­hängig von ihren finan­zi­ellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Jour­na­lismus abseits von schnellen News und Click­bait erhalten.

In der kriselnden Medi­en­welt ist es ohnehin fast unmög­lich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkom­mer­ziell ausge­richtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugäng­lich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure soli­da­ri­schen Abos ange­wiesen. Unser Lohn ist unmit­telbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kriti­schen Jour­na­lismus für alle.

Ähnliche Artikel