Bis in die 1970er Jahre galt das Vereinigte Königreich als „The Dirty Man of Europe“. Diesen Ruf verdankte das Königreich unter anderem viel saurem Regen: Die Schwefeldioxidemissionen im UK waren europaweit am grössten. Diese Emissionen stammten aus Kohlekraftwerken und anderen Industriebetrieben und führten zu massivem Waldsterben. Aber auch Abwasser, das mehr oder weniger ungefiltert in die Meere floss, die Küsten verschmutzte und Strände zum Stinken brachte, chemikalienverseuchtes Trinkwasser und starke Luftverschmutzung gehörten damals zum Vereinigten Königreich wie der Afternoon Tea und das Sunday Roast.
Wie die EU das Umweltrecht voranbrachte
Umweltschutz gab es bis in die 1970er Jahre im Vereinigten Königreich wenn, dann nur in einzelnen Bereichen und auf lokaler Ebene. 1973 war deshalb ein wichtiges Jahr für die Umwelt im UK: Das Vereinigte Königreich trat der EU, damals noch die Europäische Gemeinschaft (EG), bei. Im gleichen Jahr verabschiedete die EG als direkte Folge der UN-Stockholm Conference on the Human Environment von 1972 ihr erstes Umweltaktionsprogramm. Seither ist die EU eine wichtige Akteurin in der Entwicklung von Umweltbestimmungen und gilt als wichtige Quelle für Umweltrecht.
Nebst zahlreichen Richtlinien und Verordnungen, die es mittlerweile gibt, sind vor allem die im europäischen Umweltrecht geltenden Prinzipien wichtig, wie zum Beispiel das Vorsorgeprinzip (Precautionary Principle), wonach umweltpolitische Massnahmen so zu gestalten sind, dass Umweltgefahren vermieden werden. Dabei sind nicht nur drohende Gefahren abzuwehren und bereits bestehende Schäden zu beseitigen, sondern es gilt, von vornherein Entwicklungen zu verhindern, die zukünftig zu Umweltbelastungen führen können. Die Europäische Kommission überwacht die Mitgliedstaaten betreffend der Einhaltung von EU-Umweltrecht. Hinzu kommt, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Laufe der Jahrzehnte eine reiche und zugleich komplexe Rechtsprechung zu Umweltthemen geschaffen hat, von der die Umwelt in ganz Europa profitiert.
Seit dem Beitritt zur EU muss das Vereinigte Königreich das Umweltrecht der EU umsetzen. Das Resultat: bessere Luft, sauberere Strände, sauberere Flüsse, besseres Trinkwasser. Vögel und andere Tiere im UK profitieren ebenfalls vom EU-Umweltrecht. Dies geschah selbstverständlich nicht über Nacht, aber das UK konnte sich als EU-Mitglied nicht mehr einfach irgendwie durchwursteln, sondern musste sich an die europäischen Vorgaben halten. Das fiel den BritInnen nicht immer ganz einfach. Aber auch hier „bot” die EU eine Lösung an: ein Gerichtsverfahren.
Was geschah, als sich Grossbritannien nicht an die EU-Richtlinien hielt
Hält sich ein Mitgliedstaat nicht an die Verpflichtungen, so leitet die EU-Kommission ein sogenanntes Vertragsverletzungsverfahren (Infringement Proceedings) ein, was in einem Gerichtsverfahren vor dem EuGH enden kann. Es gab in der Vergangenheit auch Gerichtsfälle im Umweltbereich, in denen der EuGH das Vereinigte Königreich verurteilte, weil es EU-Richtlinien nicht richtig umsetzte.
Zum Beispiel in einem Fall betreffend Trinkwasser: Gemäss EU-Trinkwasserrichtlinie von 1980 (welche zwischenzeitlich durch eine neuere Richtlinie ersetzt wurde) wäre die maximal erlaubte Konzentration von Nitraten im Trinkwasser 50mg/l gewesen. In 28 Versorgungszonen Englands wurde dieser Grenzwert überschritten, weshalb die Kommission ein Gerichtsverfahren gegen das Vereinigte Königreich beim EuGH einleitete. Der EuGH hielt in seinem Urteil fest, dass die in der Richtlinie festgelegten Grenzwerte für Nitrate absolute Geltung haben und vom UK eingehalten werden müssen und keine der Ausnahmen gemäss Richtlinie vorliege, die ein Abweichen rechtfertigte (Fall C‑337/89 Commission v. UK (1992) ECR I‑6103). Der UK erhielt vom EuGH einen Rüffel und musste dafür sorgen, dass es die Grenzwerte gemäss Trinkwasserrichtlinie einhält. Hätten die BritInnen das Urteil ignoriert, hätten sie ein weiteres Verfahren riskiert. Dann hätten Strafgeldzahlungen gedroht.
Ein weiteres Beispiel, das zeigt, dass die Umwelt im UK vom EU-Recht profitierte, betrifft Strände und Küstengewässer: An vielen Stränden des Vereinigten Königreichs konnte bzw. wollte man noch in den 1980er Jahren nicht schwimmen. Kondome und Tampons spülte es an die Strände, das Wasser selbst war durch ungereinigtes Abwasser verseucht. Dank der EU-Badegewässerrichtlinie und der Richtlinie über die Behandlung von kommunalem Abwasser, aber auch dank dem EuGH, der zum Beispiel in einem Fall betreffend Strände in Blackpool und Southport festhielt, dass das UK den Verpflichtungen der Badegewässerrichtlinie nicht nachgekommen sei (Fall C‑56/90 Commission v. UK (1993) ECR I‑4109), ist die Wasserqualität an den Küsten des Königreichs heute derart gut, dass man mit ganz wenigen Ausnahmen an allen Stränden im UK wieder baden kann. Strände, die noch vor über dreissig Jahren bei Tests viel zu hohe Werte an Fäkalbakterien aufwiesen, schneiden heute in solchen Tests einwandfrei ab und dies, obwohl die Standards inzwischen strikter sind als noch in den 1980er Jahren.
Auch die britischen OrnithologInnen können der EU dankbar sein. In der Birds Directive hatte die EU 1979 verbindlich festgelegt, dass den Wildvögeln Naturschutzzonen (sog. SPA, Special Protection Areas) zugewiesen werden müssen. Deshalb verabschiedete das UK 1981 den Wildlife and Countryside Act, um die Vorgaben der EU-Vogelschutzrichtlinie einzuhalten. Der Widerstand vieler PolitikerInnen gegen den nationalen Gesetzesentwurf war gross. Wäre das Königreich als Mitglied der EU hierzu nicht verpflichtet gewesen, den Vorgaben gemäss EU-Richtlinie nachzukommen, ist fraglich, ob es überhaupt Schutzbestimmungen in diesem Bereich zu dieser Zeit gegeben hätte. Heute verzeichnet Grossbritannien bereits über 240 solcher Naturschutzzonen, die zusammen eine Fläche von einer Million Hektaren ausmachen und viele Wildvögel auf eine wirkungsvolle Weise schützen.
Die Fledermäuse wären gegen den Brexit gewesen
Auch sonst profitieren viele Tierarten von EU-Recht. Zum Beispiel Fledermäuse: Verschiedene Arten von Fledermäusen müssen aufgrund von EU-Recht, namentlich der Richtlinie zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (kurz auch Habitat-Richtlinie genannt), geschützt werden. Infrastrukturprojekte oder generell Bauprojekte, welche oftmals eine Bedrohung für die natürlichen Habitate von Tieren sind, konnten respektive können aufgrund von EU-Umweltschutzbestimmungen zum Teil nicht durchgeführt werden oder wenn, dann nur unter Einhaltung von entsprechend umweltschonenden Auflagen.
Der Brexit könnte alle diese Errungenschaften nun gefährden. Das befürchten zumindest Umweltorganisationen wie Friends of The Earth: Sie haben Angst, dass Grossbritannien wieder zum „Dirty Man of Europe“ werden könnte, wenn dann die Trennung vom UK von der EU vollzogen ist und warnten bereits vor der Abstimmung vom 23. Juni 2016 vor schmutzigen Stränden, unreiner Luft und schwachen Naturschutzgesetzen.
Die Angst ist angesichts der Geschichte verständlich – aber werden die apokalyptischen Vorstellungen auch eintreffen?
Zwar ist das Vereinigte Königreich bestrebt, möglichst viele EU-Bestimmungen, die bisher direkt, d.h. ohne dass sie zuerst in nationales Recht umgesetzt werden mussten, Anwendung fanden, in nationalen Gesetzen zu verankern, damit sie bei der Scheidung zwischen den Parteien nicht verloren gehen. Auch diejenigen nationalen Gesetze, die gestützt auf EU-Richtlinien bereits im Laufe der Jahre verabschiedet wurden, werden zwar weiterhin gelten; sie könnten aber abgeändert und gerade zum Nachteil der Umwelt abgeschwächt werden, oder nicht fortlaufend den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen angepasst werden.
Wird Grossbritannien wieder zum „Dirty Man of Europe”?
Entscheidend für die Umweltsituation im UK wird sein, ob das Vereinigte Königreich EWR-Mitglied wird. Dann würde das UK denselben Status wie beispielsweise Norwegen oder Island erhalten und weiterhin am europäischen Binnenmarkt teilnehmen. Damit würde viel EU-Umweltgesetzgebung weiterhin auch unmittelbar im UK Anwendung finden, allerdings mit gewissen Ausnahmen. So würde die Badegewässerrichtlinie beispielsweise nicht mehr verbindlich gelten, was dazu führen könnte, dass ein Ausflug zum Strand irgendwann in Zukunft verglichen mit heute vielleicht nicht mehr so gemütlich wäre. Das Problem: Wenn man Premierministerin Theresa May folgt, wird Grossbritannien auch dem EWR die kalte Schulter zeigen.
Natürlich ist die Regierung gegen aussen bestrebt, die Umweltschutzstandards beizubehalten. UmweltschützerInnen befürchten jedoch, dass niemand den Überblick bewahrt und keine Institution (wie eben bisher die Kommission oder der EuGH) die Durchsetzung der Bestimmungen überwacht. Bei der Luftqualität gibt die EU den Mitgliedstaaten beispielsweise verbindliche Ziele vor, die Grossbritannien, wenn es dann nicht mehr EU-Mitglied ist, nicht mehr einhalten müsste (das UK ist übrigens schon jetzt mit der Erreichung der vorgegebenen Ziele in Verzug). Es drohen dem Vereinigten Königreich dann keine Sanktionen mehr für die Missachtung dieser Umweltschutzbestimmungen. Die britische Regierung wird deshalb gefordert sein, Mechanismen zu schaffen, welche die Einhaltung der Standards sicherstellen. Dazu gehört auch, dass Personen und Organisationen die Einhaltung der Bestimmungen gerichtlich überprüfen lassen können und diese Gerichte ebenso progressive Entscheide treffen wie der EuGH.
Auch das EU-Umweltrecht ist längst nicht perfekt. Aber was die Umwelt angeht, ist es ohnehin fünf nach zwölf und man müsste und könnte immer noch mehr tun, verbindlichere Massnahmen beschliessen und die Einhaltung derselben stärker überwachen. Fest steht, dass es im UK mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in vielen Umweltbereichen einiges schlimmer aussehen würde, wäre „The Dirty Man of Europe“ vor 44 Jahren nicht der EU beigetreten.
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