Während ihr für das Personal im Gesundheitswesen klatscht, denke ich als allererstes an meine Kolleginnen und meine Mutter. Während ihr klatscht, sagt mir eine Freundin: Das ist auch für dich und ich fühle es nicht, denn meine Position ist eine privilegierte. Ich hatte als Sechzehnjährige eine Lehre gemacht, genauer als Medizinische Praxisassistentin und danach nur drei Jahre Vollzeit in diesem Beruf gearbeitet. Danach holte ich die Matura nach und hatte mich ziemlich bald entschieden, dass ich an die Kunsthochschule möchte – wo ich glücklicherweise angenommen wurde. Im Spital arbeitete ich nur noch, weil es der einfachste und beste Weg war, mein Studium zu finanzieren, mit einem soliden Stundenlohn durch Temporäreinsätze während der Semesterferien.
Während ihr klatscht, bin ich vor allem verwirrt. Während ihr klatscht, denke ich, falls es Menschen gibt, die erst jetzt merken, was wertvoll ist, dann ist die aktuelle Krise ihr kleinstes Problem. Ich denke, ihr könnt mich mal, ihr hochweissen Mittel- bis Oberschichtigen, die aus euren hochpolierten Altbauwohnungen runterapplaudiert! Ihr, die aus euren Gärten klatscht, ihr hochqualifizierten Doppeleinkommenpärchen, ihr, die dieses System jeden Tag fördert und befördert.
Während ihr klatscht, denke ich an meine Mutter. Die ursprünglich Hebamme war, jedoch lieber als Pflegefachfrau arbeitete, weil sie von Natur aus eine Person ist, der Trubel und Geschäftigkeit mehr entsprechen. Ausserdem – das habe ich wohl von ihr geerbt – fand sie Säuglinge langweilig. Ich frage mich, ob das vererbbar ist. Während ihr klatscht, schmunzle ich kurz, weil ich daran denke.
Während ihr klatscht, ist ein Teil von mir auch ergriffen und bewegt, weil es vor allem die Pflegefachfrauen sind, die ich schon seit jeher bewundere für das, was sie tun. Weil ich weiss, wie es hinter den Kulissen aussieht. Ich denke wieder an meine Mutter, die in den 90ern, als meine Tante, meine Grossmutter, mein Stiefvater und ich in einer Eineinhalbzimmerwohnung lebten, für uns alle sorgte, weil sie die Einzige war, die arbeiten durfte. Dass ich es bis heute unfassbar finde.
Ich denke an ihre Morgen‑, Spät- und Nachtschichten und daran, wie sie mir eben damals, als ich mich dann für eine Ausbildung entscheiden sollte, sagte, ich solle auch ins Gesundheitswesen. Kranke und Tote wird es immer geben – hatte sie gesagt. Das ist wohl dieses „systemrelevant“ von dem wir heute so viel lesen. Ich denke, für sie war es klar, dass man einer Arbeit nachgehen soll, die man ausüben kann, sobald eine Krise kommt. Denn Krisen wurden für Menschen wie sie eine Selbstverständlichkeit.
Und während ihr klatscht, werde ich auch sauer, weil ich weiss, wie seit jeher gespart, zusammengestrichen und ausgeblendet wird, wenn es um das Gesundheitswesen geht. Ich denke auch daran, dass es vor allem die Frauen sind, die diese Berufe machen und dass sie schon so viel länger Heldinnen sind und nicht erst seit Covid-19. Wie unsichtbar sie sonst sind. Sie sind meiner Mutter nicht unähnlich. Ich denke daran, welche rassistischen Aussagen ich von Patienten aufschnappte in der Cafeteria oder in den Wartezimmern, weil das Deutsch von einer Pflegenden nicht gut genug oder weil ihr Deutsch zu Hochdeutsch ist. Und dabei denke ich, dass es so manche Krankenpflegerin gibt, die trotz Sprachmangel in Kompetenz, Fachwissen und Fähigkeit so manchen Arzt übertrumpft.
Ich denke aber auch, dass ich, obwohl ich Autorin bin, obwohl das Schreiben meine grösste Leidenschaft ist, ich irgendwie auch dankbar bin, dass ich immer wieder im Spital arbeiten kann. Immer wieder zieht es mich zu dieser Arbeit zurück, ich hätte mir ja mittlerweile auch etwas anderes suchen können. Dass mein gespaltenes Verhältnis zu diesem Berufsfeld auch meine gespaltene Eigenart widerspiegelt und die Eigenart von wahrscheinlich vielen emigrierten Kindern, die nicht die direkten Wege gingen. Ich denke dann auch an meine Freund*innen in der Gastronomie, im Verkauf oder auf dem Bau. Dass wir vielleicht sonst eher an Realitätsverlust leiden würden. Dass ich vielleicht trotz Kunst und Kunsthochschule die Realität des Spitalalltags brauche.
Und dann denke ich, dass es natürlich auch eine privilegierte Position ist, denn ich kann ja wieder gehen, wenn mein Konto gefüllt ist und das Semester wieder beginnt. Und dass mein Herz wohl auch für diese Welt schlägt, denn ich habe meinen Einsatz verlängert, der eigentlich nur bis im Februar gedacht war. Dass mir die Ruhe vor dem Sturm, der aktuell im Spital herrscht, Angst macht und dass ich hoffe, dass der Sturm nicht eintreffen wird. Ich denke an Italien, ich denke an die Bilder aus Italien, ich denke an die ganzen Artikel, Tweets, Texte, Aufnahmen. Ich denke, was wisst ihr schon, während ihr klatscht. Ich denke, was weiss ich schon.
Ich denke aber auch daran, was ich an diesem Betrieb nicht mag. Ich habe selten so viel Konservatismus erlebt wie in gewissen Spitälern. Wer sie leitet und wie sie geleitet werden, wo die Entscheidungen gefällt werden, den Sexismus und die unfassbar steilen Hierarchien. Ich denke über Sonderrechte nach und Verhaltensarten. Ich denke, ich weiss auch, warum ich es manchmal fast nicht aushielt, warum ich ausbrechen wollte.
Ich denke auch an die Ärzt*innen, die schon davor Leben gerettet haben. Ich denke aber auch an einige Ärzte, die ganz viel zum Unwohlsein in diesem System beitragen. An die Arroganz; an die, welche mich unnötigerweise über Tippfehler belehrten, obwohl ich am Literaturinstitut studiert habe; an den Arzt, der mich von hinten mit einem Kugelschreiber pikste, weil ich nicht sofort auf seine Frage reagierte; an den einen, der mir, als ein Stück Fisch am Mittagstisch auf mein Bein fiel, sagte: Fisch zu Fisch; an den Urologen, der die Harnröhrenabstriche bei schwulen Männern absichtlich tiefer, länger und somit schmerzhafter gestaltete, damit sie „ENDLICH LERNEN EIN KONDOM ZU BENUTZEN“; an das Gefühl, dass sich einstellt, wenn dich jemand durch deine Position und deinen Nachnamen schlichtweg als dumm liest.
Ich denke über noch mehr Dinge nach, ich denke mich durch mehr als ein Jahrzehnt an Erfahrungen, Erinnerungen und weiss dabei auch, dass auch ich sehr viel nicht weiss oder mir meine Haltung einfacher fällt, weil ich von aussen komme, weil meine Einsätze immer temporär sind. Ich denke, ihr könnt mich mal, aber irgendwie kann ich mich auch selber mal.
Und ich hoffe, ich hoffe, dass all die, die jetzt klatschen, sich danach für diese Menschen, die sie jetzt angeblich so feiern, einsetzen werden, für gerechte Löhne und Arbeitszeiten. Ich hoffe auf Wertschätzung und dass sie erkennen, dass das gesamte Personal im Gesundheitswesen nicht nur ein notwendiges, sondern auch ein verdammt kostbares Gut ist.
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