Wann beginnt das Leben?

Oft kommt in der Diskus­sion um Schwanger­schaftsabbrüche die Frage nach dem Lebens­be­ginn auf, vor allem von konser­va­tiver Seite. Dabei sind sich die verschie­denen Wissen­schaften uneinig über Antworten auf die Frage – und deren Relevanz. 
Selbst die verschiedenen Wissenschaften sind sich nicht einig darüber, wann das Leben beginnt. (Bild: Luca Mondgenast)

Als der Oberste Gerichtshof der Verei­nigten Staaten am 22. Januar 1973 den Grund­satz­ent­scheid zum Abtrei­bungs­recht traf, der als „Roe v. Wade“ in die Geschichte eingehen sollte, stimmte auch der repu­bli­ka­ni­sche Richter Harry A. Blackmun mit der Mehr­heit: Sieben von neun Richter*innen spra­chen sich damals dafür aus, Abtrei­bung als ein von der Verfas­sung garan­tiertes Recht zu erklären und die jewei­ligen Abtrei­bungs­ver­bote der Bundes­staaten als nicht verfas­sungs­kon­form einzustufen.

Als Verfasser der Mehr­heits­mei­nung des Supreme Courts nahm Blackmun Stel­lung zur Entschei­dung. Teil der Ausfüh­rungen war ein Verweis über die vom konser­vativ geprägten Bundes­staat Texas geführte Debatte um den Beginn des mensch­li­chen Lebens. So sagte Blackmun: „Texas insi­stiert darauf […], dass das Leben mit der Empfängnis [die Verschmel­zung von Eizelle und Sper­mium während der Befruch­tung, Anm. d. R.] beginnt und während der gesamten Schwan­ger­schaft vorhanden ist, und dass deshalb der Staat ein zwin­gendes Inter­esse daran hat, dieses Leben ab und nach der Empfängnis zu schützen.“

Und weiter: „Wir müssen die schwie­rige Frage nach dem Beginn des Lebens nicht lösen. Wenn dieje­nigen, die in den entspre­chenden Diszi­plinen der Medizin, Philo­so­phie und Theo­logie ausge­bildet sind, zu keinem Konsens gelangen können, ist die Justiz an diesem Punkt der Wissens­ent­wick­lung der Menschen nicht in der Lage, über diese Frage zu spekulieren.“

49 Jahre nach dem Grund­satz­ent­scheid und drei Monate nach Aufhe­bung von „Roe v. Wade“ haben die verschie­denen Wissen­schafts­dis­zi­plinen noch immer keine über­ein­stim­mende Antwort auf die Frage nach dem Lebens­be­ginn gefunden. In der Regel sind es konser­vativ-christ­liche Stimmen, die diese Frage ins Zentrum der Debatte rücken.

Ihre Inten­tion liegt darin, schon auf die befruch­tete Eizelle (Zygote) dieselben mora­li­schen Stan­dards anzu­wenden wie auf gebo­renes mensch­li­ches Leben, um Abtrei­bung von Beginn der Schwan­ger­schaft an mit dem Töten von mensch­li­chem Leben gleich­zu­setzen und rigo­rose Verbote zu fordern.

Doch welche Rele­vanz hat die Frage nach dem Lebens­be­ginn in den verschie­denen Diszi­plinen über­haupt? Gibt es in der Bioethik, der Rechts­wis­sen­schaft und der Medizin abschlies­sende Antworten darauf? Eine Suche nach Antworten aus der Wissenschaft.

Von der Biologie zur Moral

Zwei Tage nach der Aufhe­bung von „Roe v. Wade“ im Juni 2022 sitzt die ameri­ka­ni­sche Anti-Abtrei­bungs-Akti­vi­stin Lila Rose beim Inter­view mit Ben Shapiro, Gründer des konser­va­tiven Nach­rich­ten­ma­ga­zins „The Daily Wire“.

Im Verlauf der Diskus­sion sagt Lila Rose: „Wenn man ein Lehr­buch der Human­bio­logie zur Hand nehmen würde, wüsste man, wann das Leben beginnt. Es beginnt im Moment der Befruch­tung, wenn die Eizelle durch das Sper­mium voll­ständig umge­wan­delt und zu einem fertig­ge­stellten DNA-Code für ein indi­vi­du­elles mensch­li­ches Leben wird. Und alles, was das Leben braucht, ist Zeit und Nahrung, um zu wachsen.“

Entgegen der Behaup­tung von Rose, die sich auf die in der Biologie verbrei­tete These der Verschmel­zung als Lebens­be­ginn stützt, ist die Frage in anderen Natur­wis­sen­schaften längst nicht eindeutig fest­ge­legt. Klar ist, dass der Mensch ab einem gewissen Stadium einen mora­li­schen Schutz­status erhält, da mit dem „mensch­li­chen Leben im Sinne eines mora­lisch in beson­derer Weise schüt­zens­werten Seins“ nicht nach Belieben verfahren werden dürfe, wie die Philo­so­phin Minou Friele gegen­über der Zeit­schrift bild der wissen­schaft meint.

Der Start des mora­li­schen Schutz­an­spru­ches wird von den verschie­denen Rich­tungen mit unter­schied­li­chen Stadien während der Schwan­ger­schaft in Verbin­dung gebracht. Die Ethi­kerin und Titu­lar­pro­fes­sorin an der Univer­sität Basel Dagmar Fenner beschreibt dies im Kapitel Medi­zin­ethik in ihrer „Einfüh­rung in die Ange­wandte Ethik“.

Während von Abtreibungsbefürworter*innen entweder auf die Ausprä­gung des Hirn­le­bens, die Empfin­dungs­fä­hig­keit oder der Lebens­fä­hig­keit ausser­halb des Körpers der schwan­geren Person verwiesen wird, insi­stieren Abtreibungsgegner*innen meistens auf die Verschmel­zung von Ei- und Samen­zelle. Hier handle es sich – so die konser­va­tive Posi­tion – „um die einzige ‘will­kürfreie’ und klar fest­stell­bare Zäsur“, wie Fenner schreibt.

Laut Fenner sollte die Frage nach dem Zeit­punkt des Lebens­be­ginns gar nicht erst mit jener nach dem Start der Schutz­wür­dig­keit einher­gehen: „Grund­sätz­lich muss man in der Diskus­sion um den Schwan­ger­schafts­ab­bruch folgende zwei Frage­stel­lungen ausein­an­der­halten: die Frage nach dem Beginn des mensch­li­chen Lebens einer­seits und die Frage nach dem Beginn der mora­li­schen Schutz­wür­dig­keit mensch­li­chen Lebens andererseits.“

Die beiden Fragen würden, so Fenner, verschie­dene Antworten verlangen. So seien für die Frage nach dem Lebens­be­ginn empi­risch beob­acht­bare und biolo­gi­sche Aspekte zentral, für die Frage nach der mora­li­schen Schutz­wür­dig­keit jedoch ratio­nale Begrün­dungen über das Formu­lieren ethi­scher Argu­mente. „Eine Antwort auf die Frage nach dem Beginn mensch­li­chen Lebens reicht also prin­zi­piell nicht aus für die Beant­wor­tung der Frage nach der Schutz­wür­dig­keit von Embryonen oder Föten und damit für die ethi­sche Bewer­tung des Schwangerschaftsabbruchs.“

Argu­mente wie jenes von Lila Rose zielen darauf ab, auf Basis der biolo­gi­schen These, dass mensch­li­ches Leben mit der Befruch­tung einer Eizelle beginnt, die norma­tive These zu schliessen, dass jedem mensch­li­chen Leben abso­lute Schutz­wür­dig­keit zukommt. Daraus entsteht die Forde­rung nach einem abso­luten Verbot der Abtrei­bung. Indem Rose vom fertig­ge­stellten DNA-Code nach der Befruch­tung auf ein erwach­senes, indi­vi­du­elles und mensch­li­ches Leben schliesst, bedient sie sich einem Ausdeh­nungs­ar­gu­ment, das neben den theo­lo­gi­schen auch in konser­vativ-christ­li­chen Argu­menten oft zur Hand gezogen wird.

Das Haupt­pro­blem dieser konser­va­tiven Argu­mente liegt im direkten Schluss aus der Biologie auf die konkrete Hand­lungs­an­wei­sung, wie Dagmar Fenner schreibt. Wenn Lila Rose sagt, dass in der DNA schon alles ange­legt sei für ein mensch­li­ches Wesen, verkennt sie, dass ein auto­nomes Indi­vi­duum viel mehr ist als sein gene­ti­sches Programm.

Ausserdem gibt es sowohl mit der Geburt und der Ausbil­dung der Empfin­dungs- als auch mit der Vernunft­fä­hig­keit tief­grei­fende Verän­de­rungen in einem mensch­li­chen Leben, weshalb man nicht von einer rein konti­nu­ier­li­chen Entwick­lung des Lebens spre­chen kann, das bloss „Zeit und Nahrung“ brauche, „um zu wachsen“, wie Lila Rose gegen­über Ben Shapiro behauptet.

Gerichts­ent­scheide ohne klare Definitionen

Sowohl in der Medizin als auch in der Bioethik ist die Frage nach dem Lebens­be­ginn ein schwer zu konsta­tie­render Moment. Wenn man sich nun die recht­li­chen Verhält­nisse in der Schweiz und Deutsch­land genauer anschaut, bleibt die Vagheit der Einord­nung bestehen.

Der Jurist Kurt Seel­mann beschreibt es in einem Vortrag im Rahmen einer Tagung von Medizinrechtslehrer*innen wie folgt: „Gerade weil es sich hier, zum Beispiel beim Rechts­status des Embryos in vitro, um heisse Eisen handelt, sind Gesetz­geber oft gegen­über einer klaren Rege­lung etwas zurückhaltend.“

In der Schweizer Rechts­lage gebe das Zivil­recht eine klare Rege­lung darüber vor, denn dort beginne das Leben des Menschen prin­zi­piell mit der Geburt. Im Straf­recht hingegen – worüber der Schwan­ger­schafts­ab­bruch gere­gelt ist –, reicht der Schutz­status bis zur Einni­stung der befruch­teten Eizelle in die Gebär­mutter zurück.

Seit die Bevöl­ke­rung 2002 mit 72 Prozent zuge­stimmt hat, gilt in der Schweiz die Fristen­lö­sung. Diese Rege­lung erin­nere aber eher an eine Indi­ka­ti­ons­lö­sung, die Frei­gabe des Schwan­ger­schafts­ab­bruchs unter bestimmten Voraus­set­zungen, so Seelmann.

Im Onlin­ein­ter­view mit der Fabrik­zei­tung sagt die Juri­stin Marlene Wagner aus Berlin: „Inner­halb der ersten zwölf Wochen bedarf es für die schwan­gere Person in der Schweiz gar keinen Recht­fer­ti­gungs­grund für den Abbruch.“ Wagner ist Mitglied im Legal Team von „Doctors for Choice Germany e.V.“. Gemeinsam mit der Dokto­randin Valen­tina Chio­falo der Freien Univer­sität Berlin hat Wagner den Artikel „Der Schwan­ger­schafts­ab­bruch in Deutsch­land und der Schweiz. Ein Rechts­ver­gleich anhand der Auto­no­mie­frage der unge­wollt schwan­geren Person“ verfasst.

„Sie selbst kann sich in dieser Zeit mit einem Abbruch nicht strafbar machen“, sagt Wagner. Im straf­recht­li­chen Sinne erfülle die schwan­gere Person, die in dieser Zeit einen Abbruch der Schwan­ger­schaft vornehme, den Tatbe­stand nicht. Ärzt*innen, die Abbrüche durch­führen, erfüllen zwar den Straf­tat­be­stand, seien in diesem Zeit­raum jedoch unter bestimmten, leicht erfüll­baren Voraus­set­zungen gerecht­fer­tigt, handeln also nicht rechtswidrig.

Auch in Deutsch­land, wo eben­falls ein grund­le­gendes Verbot des Schwan­ger­schafts­ab­bruchs mit Ausnahmen gilt, besteht eine Fristen­lö­sung. Diese hänge jedoch im Unter­schied zur Schweiz an einer Bera­tungs­pflicht. Nachdem der Bundestag 1992 ein Gesetz verab­schie­dete, das Schwan­ger­schafts­ab­brüche inner­halb einer 12-Wochen-Frist und nach einer Pflicht­be­ra­tung als gerecht­fer­tigt ansah, erklärte es das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt für verfas­sungs­widrig. Dieses entschied 1993, dass die Bera­tungs­lö­sung keinen Recht­fer­ti­gungs­grund darstellen dürfe, da der grund­sätz­liche Unrechts­ge­halt des Abbruchs durch dessen Rechts­wid­rig­keit zum Ausdruck kommen müsse.

„Das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt leitete die Schutz­be­dürf­tig­keit des Embryo und Fötus in diesem Urteil aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 des Grund­ge­setzes ab – dem Recht auf Leben und körper­liche Unver­sehrt­heit“, sagt Wagner. „In diesem Urteil wurde aber dennoch eine Fristen­lö­sung mit Bera­tungs­pflicht als zuläs­siges Mittel für den Staat ange­sehen, seiner Schutz­pflicht nach­zu­kommen. In solchen Fällen sei die Tatbe­stands­lö­sung ausge­schlossen, der Abbruch müsse aller­dings dennoch rechts­widrig bleiben.“

Dieses Mittel der Einfluss­nahme auf die schwan­gere Person sei als – dogma­tisch frag­wür­dige – Lösung einge­führt worden, damit der Abbruch immer noch als rechts­widrig gelte, der Staat aber – indem er aner­kennt, dass schwan­gere Personen auch illegal abtreiben würden – für sich in Anspruch nehmen kann, über die Bera­tungs­pflicht Abtrei­bungen entgegenzuwirken.

Und wie äussert sich das Urteil über den Beginn des mensch­li­chen Lebens?

„Das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt sieht schon das unge­bo­rene
Leben als schutz­würdig“, antwortet Wagner. „Aller­dings trifft es keine eindeu­tige Wertung darüber, ab wann mensch­li­ches Leben entstehe. Jeden­falls wohl aber ab dem Zeit­punkt der Schwan­ger­schaft, also ab Einnistung.“

Vom Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt sei im Urteil keine Abstu­fung vorge­sehen. „Man könnte die heutige Rege­lung so verstehen, dass das Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt in den ersten 12 Wochen eine gerin­gere Schutz­be­dürf­tig­keit des Embryos zugun­sten des Selbst­be­stim­mungs­rechts der schwan­geren Person annehme. Doch laut Gericht ist ein Embryo von Beginn an schutz­be­dürftig. Auch die Bera­tungs­lö­sung müsse daher dem Schutz des soge­nannten unge­bo­renen Lebens dienen, indem es die posi­tive Einfluss­nahme auf die schwan­gere Person ermögliche.“

So offen also die Frage nach dem Lebens­be­ginn schon 1973 beim Entscheid „Roe v. Wade“ des Ober­sten Gerichts­hofes der USA gehalten wurde, so unkon­kret bleibt die Rechts­aus­le­gung in Deutsch­land und der Schweiz. Dies, obschon im Urteil des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts eine gewisse Wertung dennoch durch­zu­schim­mern scheint.

Das mag damit zusam­men­hängen, dass sich das Recht in dieser Debatte stets auf den Diskurs inner­halb der Medizin, mehr noch auf jenen in der Bioethik bezieht – und dort die Debatte über den Lebens­be­ginn immer noch unge­klärt ist.

Dieser Artikel wurde zuerst in der Fabrik­zei­tung veröffentlicht.


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