Viele Deutschschweizer Schulen etwa nutzen schabi.ch (kurz für ‚Schule am Bildschirm‘). Entwickelt wurde die Plattform vor fünf Jahren von einem Winterthurer Lehrer, der für seine Schüler*innen Online-Angebote erstellen wollte. Die Seite bietet Lehrpersonen und Schüler*innen die Möglichkeit, bequem miteinander zu kommunizieren, Agenden zu erstellen, aber auch Inhalte hochzuladen und zu verlinken.
Wie auf den meisten Plattformen ist auch auf schabi.ch eine breite Palette weiterführender Links zu finden. Sie führen zu Seiten mit Quizfragen zu Büchern, Lern-Apps, Foto-Editoren usw. Die verlinkten Seiten werden von den unterschiedlichsten Akteuren betrieben. Bei einer willkürlichen Auswahl von drei Seiten finden sich als Betreiber oder Supporter: die solothurnische Stiftung Bibliomedia, die Unterrichtsmaterial-Firmen Raabe und Edulo, Swisscom, die Post, die Design- und Fotofirmen Inmagine, 123RF, Designs.ai und Pixlr. Auch Stiftungen wie die Bill & Melinda Gates Foundation und die Valhalla Charitable Foundation mischen mit.
Ausser Bibliomedia, die Leseförderung im Auftrag des Bundes betreibt, sind alle diese Unternehmen zu hundert Prozent privat. Das Problem dabei ist nicht mal der Einfluss, den die Firmen auf die Seiten nehmen könnten, sondern generell, dass sie so Zugang zum Bildungswesen erhalten.
In einer sozialen Grauzone
Es ist nichts Neues, dass Konzerne und Lobbyist*innen Material und Hilfestellungen für Schulen und Lehrpersonen anbieten. Das geht vom Kräuterdossier von Ricola bis zur Unterrichtssequenz „Kernenergie und Kernkraftwerke“ inklusive AKW-Besuch, powered by swissnuclear. Viele Lehrpersonen nehmen solche Angebote dankend an. Dennoch hatten die Lobbys bisher zum lehrplanbezogenen Unterricht mit den obligatorischen Lehrmitteln nur beschränkten Zugang.
Das ändert sich gerade. Dank der Corona-Quarantäne wittert die Homeschooling-Industrie Morgenluft. In einem Gastkommentar im Tages-Anzeiger schreibt Vincenzo Zinnà, Gründer von LearnEasy24.com: „Das Lernen im und mit dem Internet wird Standard.“ Und: „Das Lernen mit digitalen Medien entspricht der Lebenswirklichkeit der Jugendlichen.“
Doch die Schule hat nicht den Auftrag, ihre Lernformen an das anzupassen, was aktuell als Lebenswirklichkeit der Jugendlichen gilt. Die Schule hat vielmehr den Auftrag, sozialen Austausch zu ermöglichen und verschiedene Zugänge zu Wissen zu vermitteln. Strenggenommen ist mit ‚Homeschooling‘ das Beschulen von Kindern durch deren Eltern oder andere Personen des Haushalts gemeint. Und das ist explizit nicht vorgesehen.
Der Fernunterricht spielt sich in einer sozialen Grauzone ab. Benachteiligt werden diejenigen, deren Umfeld zuhause dem Lernen nicht zuträglich ist; sei es, weil die Eltern nicht helfen können oder weil kein Arbeitsplatz zur Verfügung steht. Auf solche Unterschiede wirkt der Unterricht im Klassenzimmer ausgleichend.
Das fällt besonders da ins Gewicht, wo – Stichwort Individualisierung – der Lernstoff an den Lernstand, die Interessen und das Leistungsvermögen eines Kindes angepasst wird. Im Extremfall arbeiten alle „auf ihrem Niveau“ an ihrem Projekt. Alle tun etwas Sinnhaftes, ohne dauerhaft unter- oder überfordert zu sein. Im besten Fall wirft das reichere Ergebnisse und Lernerfolge ab als die Frontalvermittlung von Einheitsstoff. Das Einheitliche, Gemeinschaftliche, Soziale geht allerdings schlimmstenfalls über Bord. Diesen Aspekt der Vereinzelung, der Individualisierung eben auch bedeutet, spitzt das Fernlernen ebenso zu wie die Privatisierung, also das Ausgliedern immer grösserer Bereiche an (private) Drittakteure oder das Elternhaus.
Wollen wir Staatsbürger*innen oder Kund*innen?
Spätestens seit in der 5. Klasse alle ein eigenes Tablet bekommen – zusätzlich zum meist eh schon vorhandenen Smartphone – wird in Schulen expliziter diskutiert, was Digitalisierung eigentlich ist und zu welchem Ende sie geschieht. Eine Einsicht, die sich verbreitet: Nicht zuletzt fungieren Auf- und Umrüstungen im Zeichen der Digitalisierung als Trojanische Pferde der werbetreibenden Industrie. Das beginnt bei den Werbespots vor Youtube-Tutorials, die kaum eine Lehrperson den Schüler*innen vorenthält, und endet noch lange nicht beim Zugriff auf die jungen Leute als potenzielle Kund*innen. Es stellen sich grundsätzliche Fragen: Wollen wir unsere Kinder und Jugendlichen eher zu Staatsbürger*innen oder zu Kund*innen erziehen? Lockdown und Fernlernen dürften eher einen Schritt hin zu Letzterem bedeuten.
Übrigens: Klar gibt es tolle Lernseiten im Netz! Und es lohnt sich auch, die besten davon herauszufischen und zu benutzen. Ihr Einsatz sollte so dosiert wie reflektiert erfolgen. Andernfalls werden Lernende zur leichten Beute im kommerziellen Datenmeer.
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