Es ist schon recht laut hier an der Rosengartenstrasse, die jeden Tag rund 56’000 Autos befahren. Laut und dreckig und irgendwie düster. Nur wenige hundert Meter weiter Richtung Bahnhof zeigt das Quartier ein ganz anderes Gesicht. Wipkingen ist angesagt: ein etwas verträumtes Wohnquartier mit vielen hübschen, kleinen Läden und Grünflächen, hippen Bars und Restaurants, angenehm ruhig, aber den Hotspots von Downtown Switzerland ganz nah, mit sehr hoher Lebensqualität halt – und stetig steigenden Mieten, Totalsanierungen und Massenkündigungen. Wipkingen entwickelte sich in den letzten Jahren zum Vorzeigequartier: zum Showroom der Zürcher Sozialdemokratie.
Die Rosengartenstrasse ist anders. An den Wänden der Kiosk-Bar Löwen hängen seltsame Säbel; das Bier holen wir uns selbst aus dem Kühlschrank. Die Bar ist jeden Tag bis halb fünf Uhr morgens geöffnet, am Wochenende sogar noch eine halbe Stunde länger. Wir sind am Nachmittag da und fast allein. „Laufkundschaft gibt es kaum“, sagt uns der Bruder des Inhabers. „Die meisten Leute, die zu uns kommen, sind Stammgäste aus dem Quartier.“ Weil er überzeugt ist, dass sie sowieso kommen würden, sei ihm der Tunnel ziemlich egal. Der Lärm der vorbeidonnernden Autos aber auch.
Im Rosengartenshop am unteren Teil der Verkehrsachse kaufen wir eine Autobahnvignette. Die Strasse sei viel zu laut und viel zu gefährlich, sagt der Inhaber. „Ich warte nur darauf, dass hier ein Kind verunfallt, das zu faul dafür ist, über die Überführung zu laufen.“ Vor allem aber schade sie dem Geschäft: „Potenzielle Kunden auf der anderen Strassenseite nehmen den Weg zu mir rüber nicht auf sich.“ Er spricht sich für den neuen Tunnel aus: „Ich mache hier Geschäfte, und mit weniger Verkehr liefe es besser.“ Die Mehreinnahmen würden die höheren Mieten amortisieren, ist er überzeugt.
Ado Sala führt an der Rosengartenstrasse seit 15 Jahren das AdoSala-Lederatelier. Auch er wünscht sich eigentlich eine schönere Nachbarschaft: „Es wäre schon schön, wenn die Strasse weniger stark befahren wäre, wenn es weniger Lärm gäbe und es für die Kinder sicherer wäre, die Strasse zu überqueren.“ Und es stimmt ja auch: Diese Strasse ist eine Zumutung, wie es sie in der Zürcher Innenstadt kaum mehr gibt. Sie teilt das Quartier jäh entzwei, der Pausenhof des Schulhauses Nordstrasse ist von hohen Betonmauern umgeben, um die Kinder vor der Strasse und ihrem Lärm zu schützen, und die Fassaden vieler angrenzender Gebäude sind von Abgasen angeschwärzt. Mit Lärmemissionen von rund 70 Dezibel ist die Rosengartenstrasse die lauteste Strasse der Stadt.
Wer sie bewohnt, zeigt die Sozialräumliche Studie für das Gebiet Rosengarten-Buchegg, welche die Stadt im Hinblick auf das Rosengartenprojekt anfertigen liess. „Entlang der Rosengartenstrasse finden sich deutlich höhere Ausländeranteile als in den weniger stark immissionsexponierten Lagen“, hält die Studie fest. Der Wert liegt rund 15 Prozent höher als derjenige, der für das ganze Quartier gilt und seit 1993 kontinuierlich um insgesamt 15 Prozent gesunken ist. Von den direkten Anwohner*innen der Rosengartenstrasse haben circa 45 Prozent keinen Schweizer Pass. An der Abstimmung über das Milliardenprojekt vor ihrer Haustür können sie gar nicht teilnehmen.
Wie einst an der Weststrasse
Trotz seiner Unzufriedenheit über den Status Quo ist Ado Sala gegen den neuen Tunnel. „Ich mache mir Sorgen um die Leute, die hier wohnen“, sagt er. Sie würden sich irgendwann die Wohnungen nicht mehr leisten können. Er ist sich sicher, dass viele der Anwohner*innen wegziehen müssen, falls das Projekt angenommen wird – weil sie die Mieten nicht mehr bezahlen könnten. Über die ökonomische Situation der Anwohner*innen sagt die Rosengarten-Studie zwar nichts aus, über die Eigentumsverhältnisse der Grundstücke aber schon: Zwei davon gehören Genossenschaften, einige wenige Kapitalgesellschaften. Alle anderen an den vielbefahrenen Teil der Strasse angrenzenden Grundstücke befinden sich im Eigentum von Privatpersonen.
Was das bedeutet, zeigt ein Blick auf die Zürcher Weststrasse. Die ehemalige Durchfahrtsstrasse wies einst ähnliche Lärm-Emissionswerte wie die heutige Rosengartenstrasse auf – bis sie 2010 verkehrsberuhigt wurde. Die Folgen werden in einer Studie der Zürcher Kantonalbank dargelegt: Sobald der Zeitplan für die Verkehrsberuhigung feststand, stieg die Anzahl der Baugesuche betreffend Immobilien an der Weststrasse sprunghaft in die Höhe. Vor allem Anträge auf Komplettsanierungen und Ersatzneubauten seien gestellt worden, hält die Studie fest, und weiter: „In beiden Fällen bedeutet dies die Kündigung der bestehenden Mietverhältnisse.“ Der Preis für eine Dreizimmerwohnung mit 70 Quadratmetern Wohnfläche erhöhte sich innert weniger Jahre von 1600 Franken auf 2400 Franken. Mit der Verkehrsberuhigung habe die Wohnqualität gesamthaft zugenommen. „Negativ wirkt sich der Aufwertungsprozess allerdings auf die bisherigen Mieter aus, die sich neu orientieren müssen.“
In einer Garage, von der Rosengartenstrasse etwas zurückversetzt, betreibt Herr Hemmat die Brockenstube Orientteppiche Hemmat. Zufällig komme hier kaum jemand vorbei, sagt er. Er lebe hauptsächlich von Verkäufen über Ricardo, das Geschäft laufe allerdings nicht besonders gut. Auch ihn störe die laute Strasse. Aber höhere Mieten? „Das wäre schlecht.“
Im Fall einer Annahme der Vorlage sind höhere Mieten so gut wie sicher; eine ähnliche Entwicklung wie an der Weststrasse ist zu erwarten. Die Frage drängt sich deshalb auf, für wen der Tunnel überhaupt gebaut werden soll. Diejenigen, die von den negativen Auswirkungen der Rosengartenstrasse tatsächlich betroffen sind, würden von deren Eindämmung nicht profitieren können. Das ändert freilich nichts an der Tatsache, dass die Lärm- und Schadstoffemissionen der lautesten Strasse der Stadt eigentlich unhaltbar sind. Die Anrainer*innen verlieren am kommenden Abstimmungssonntag deshalb sowieso: Entweder die Zumutung Rosengartenstrasse bleibt so bestehen, wie sie jetzt ist, – oder sie werden sie vermutlich verlassen müssen. Sie verlieren sowieso, weil ihr eigentliches Problem weder dieser Tunnel noch diese Strasse ist. Sondern die Tatsache, dass ihnen ihre Stadt nicht gehört.
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