Inhaltswarnung: rassistische Gewalt und Folter
New York, 1971. Am Morgen des 9. Septembers gehen im Hochsicherheitsgefängnis in Attica, einer Stadt westlich von New York, die Lichter an. Die Insassen werden zum Frühstück in den Essenssaal geführt. Plötzlich steckt ein Wärter mit einer Gruppe Gefangener in einem Durchgang fest. Unter den Insassen bricht Panik aus; sie treten Türen ein und greifen die Wärter an. Die Situation führt zu einem der bekanntesten Gefängnisaufstände der jüngeren Geschichte der USA: Über mehrere Tage kontrollieren gut 1’500 Gefangene einen Teil des Gefängnisses und nehmen Geiseln.
Die spontan entstandene Revolte sollte zu einem einschneidenden Ereignis in der Geschichte des antirassistischen Widerstands in den USA werden. Gleichzeitig steht der Attica-Aufstand am Anfang einer Krise, die bis heute andauert: die Masseninhaftierung. Über 9 Millionen Menschen – etwa ein Viertel aller Inhaftierten weltweit – sitzen momentan in den USA im Gefängnis oder sind auf Bewährung. Die Zahl hat sich seit den 1970er-Jahren vervierfacht.
Der Begriff der Masseninhaftierung bezeichnet allerdings nicht nur die horrende Anzahl an inhaftierten Menschen, sondern das gesamte strafrechtliche System. Überproportional oft sitzen Black, Indigenous and People of Color (BIPoC) und von Armut betroffene Menschen hinter Gittern, oft unter miserablen Lebensbedingungen. Hinzu kommt, dass die Ex-Gefangenen nach der Haft Stigmatisierung erwartet: Nachteile bei der Wohnungs- und Jobsuche, Schulden und übertriebene Bewährungsauflagen. Auch können sie weder wählen noch Sozialleistungen beziehen. Viele Ex-Inhaftierte werden durch diesen Ausschluss aus der Gesellschaft rückfällig.
Historiker*innen sind sich mittlerweile einig darüber, dass in den USA eine Krise der Masseninhaftierung existiert. Gleichzeitig weisen sie die weitverbreiteten Erklärungsansätze dafür – die herrschende Gewaltkultur und das besonders strenge Strafverständnis in den USA, die vermeintlich speziell hohen Kriminalitätsraten, die „Ghettoisierung“ der Städte oder die Profitgier von Privatunternehmen, die mit Gefängnisbau und Ausbeutung von Gefängnisarbeit Geld machen – vom Tisch.
Wie aber konnte ein solch schreckliches System entstehen? Und was hat der Attica-Aufstand damit zu tun? Die Forschung der Historikerin Heather Ann Thompson zeigt auf, wie die öffentliche Berichterstattung über den Attica-Fall die Entwicklung dieses rassifizierten Systems begünstigte und was der „war on drugs“ damit zu tun hat.
Miserable Haftbedingungen
Obwohl der Gefängnisaufstand von 1971 spontan entstand: Gründe für die Wut der Inhaftierten gab es genug. Das Männergefängnis von Attica war stark überfüllt. Auf einen – oft schlecht ausgebildeten – Wärter kamen durchschnittlich 80 Insassen. Hauptsächlich sassen BIPoC aus den südlichen Vierteln New Yorks ein – viele jung und ungebildet, alle von Armut betroffen. Mehr als zwei Drittel waren vor ihrer Haft in Attica schon einmal im Gefängnis – und längst nicht alle wegen schweren Delikten. L. D. Barkley, einer der wichtigsten Redner unter den Aufständischen, wurde beispielsweise wegen einer Autofahrt ohne gültigen Fahrausweis inhaftiert.
Die Lebensbedingungen der Insassen waren miserabel: Die tägliche Essensration sowie die medizinische Versorgung lagen unter den gesetzlichen Standards. Der Insasse Frank Smith, „Big Black“ genannt, verlor im Verlauf seiner Haftzeit fast alle seine Zähne. Jeder Häftling erhielt pro Monat nur ein Stück Seife und eine Rolle Toilettenpapier. Im Winter froren viele Gefangene, weil sie nicht genug Kleider und Decken bekamen.
Rassistische Diskriminierung war im Gefängniswesen institutionalisiert. Obwohl 63 Prozent der Gefangenen of Color waren, führten mehrheitlich weisse Insassen die besser bezahlte und anerkannte Gefängnisarbeit aus. Zudem stellen die Wärter willkürliche Regeln auf, viele anhand rassistischer Kriterien: Waren beispielsweise Briefe, Bücher und Zeitschriften nicht auf Englisch verfasst, wurden sie konfisziert.
Blutige Niederschlagung
Nach der Gefängnisübernahme stellten die Insassen Forderungen zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen. Doch die Verhandlungen mit der Gefängnisleitung und Nelson Rockefeller, dem damaligen Präsidenten des Bundesstaats New York, scheiterten und nach vier Tagen stürmten rund 300 Soldaten mit Tränengas und Gewehren das Gefängnis – ohne zuvor ein Ultimatum gestellt zu haben. 128 Menschen wurden angeschossenen. Es gab 39 Tote.
Für die Gefangenen ging die Gewalt nach der Niederschlagung der Revolte weiter: Die Soldaten zwangen die Insassen, sich nackt auszuziehen und durch Schlamm und Glasscherben zu kriechen. Die Gefangenen wurden gefoltert, geschlagen und gequält. Die Soldaten beschimpften die Insassen als „Affen“ oder mit dem N‑Wort. Der Redner L.D. Barkley wurde weggeführt und erschossen.
Die Historikerin Heather Ann Thompson benennt die Gewalt, mit der die Soldaten den Aufstand niederschlugen, als rassistischen Hass: „It wasn’t just any hatred – it was racial hatred.“ (frei übersetzt: „Es war nicht irgendein Hass – es war rassistischer Hass.“) Thompson ist Spezialistin für afroamerikanische Geschichte an der University of Michigan und gilt als Pionierin in der historischen Forschung zu Masseninhaftierung. 2016 erschien ihr Buch „Blood in the Water“, in dem sie den Attica-Aufstand historisch aufarbeitete.
13 Jahre lang recherchierte Thompson für ihr Buch und stützte sich dabei nebst Interviews mit Zeitzeug*innen vor allem auf Gerichts- und Polizeiakten, die sie in kleineren nicht-staatlichen Archiven fand. Denn die wichtigsten Aktenbestände vom FBI, der nationalen Rechtsabteilung und vom Bundesstaat New York sind bis heute versiegelt. Nichtsdestotrotz deckte Thompson auf: Die Rockefeller-Regierung versuchte die Gewalt beim Beenden des Aufstands aktiv zu vertuschen.
Wer aufbegehrt, wird kriminalisiert
Direkt nach der Rückeroberung des Gefängnisses gaben die Behörden bekannt, dass zehn Geiseln von den Insassen getötet worden seien. Und zwar indem sie die Kehlen der Geiseln aufgeschlitzt hätten. Eine der Geiseln sei gar kastriert worden. Eine frappante Lüge, wie sich später herausstellte. Spätestens nach der Autopsie bestand kein Zweifel mehr, dass die Geiseln durch Kugeln getötet wurden. Es wurde klar: Die Soldaten waren für den Tod der Geiseln und der Insassen verantwortlich.
Die Konsequenzen der Lüge waren fatal. Der Aufstand lockte die wichtigsten Medien des Landes zum Gefängnis. Viele US-Amerikaner*innen sahen via Livefernsehen zum ersten Mal hinter die Knastmauern. Folglich verbreiteten die Medien im ganzen Land die Mitteilung, dass die Gefangenen für die Geiselmorde verantwortlich waren. Die Schlagzeilen waren voll: „Cold-blooded killings by revolutionary militants“, „wild animals“ oder „evil, vicious enemies of society“ (frei übersetzt: „Kaltblütige Morde durch revolutionäre Militante“, „wilde Tiere“ oder „boshaft, teuflische Feinde der Gesellschaft“).
Zur selben Zeit rief der damalige US-Präsident Richard Nixon den „war on drugs“ aus. Darauf folgte eine zwanzig Jahre andauernde, äusserst restriktive Drogenpolitik. Milliarden flossen in die Aufrüstung der Polizei und in den Gefängnisbau. Indes wurden die Budgets für Suchtprävention und ‑behandlung massiv gekürzt. Die neue Drogenpolitik war verheerend: Waren es 1970 noch 322’000 Verhaftungen – von überwiegend BIPoC – wegen Drogendelikten, waren es 30 Jahre später bereits 1.3 Millionen.
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Die Historikerin Thompson versteht den „war on drugs“ als Reaktion auf das Erstarken der Bürgerrechtsbewegung in den 1960er-Jahren. Und diese Logik zieht sich bis heute durch. Nach jedem Erfolg der antirassistischen Bewegung wird die soziale Kontrolle durch das Strafjustizsystem erhöht. Wer aufbegehrt, wird kriminalisiert. Von Politik und Gesetzgebung über Polizeiarbeit bis zum Gericht – Thompson zeigt in ihrem Buch auf: Das gesamte Strafjustizwesen ist zutiefst rassistisch.
Der Motor der Masseninhaftierung
Der Attica-Aufstand hat die Masseninhaftierung nicht verursacht, aber sie hat deren Entwicklung stark befeuert. Zwar setzte die Rockefeller-Regierung 1972 alle Forderungen der Insassen in Attica selbst und im ganzen Bundesstaat um. Doch nur ein Jahr später machte die gleiche Regierung die Reformen zunichte, indem sie eine Reihe von rigorosen Drogengesetzen verabschiedete.
Viele der zuvor als leicht klassifizierte Delikte wurden ab 1973 als schwer geahndet. Gewisse spezifische Vergehen – etwa Drogenbesitz – führten bei drittem Wiederholen automatisch zu lebenslänglichem Freiheitsentzug. Die Gefängnisse wurden in der Folge mehr und mehr überfüllt, was die Lebensbedingungen der Gefangenen erneut verschlechterte. Die Gesetze verbreiteten sich im ganzen Land und wurden immer strenger ausgelegt, bis sich im neuen Jahrtausend ein Justizsystem mit drakonischen Strafen etablierte.
Die behördlichen Akten zum Aufstand sind bis heute versiegelt. Und die Forscherin Thompson bezweifelt, dass die Akten demnächst veröffentlicht werden, denn die Todesfälle könnten noch immer rechtliche Konsequenzen haben. So aber wurde bis heute kein einziger Soldat verurteilt. Die im Aufstand involvierten Wärter sowie Insassen und deren Angehörigen haben zwar eine Abfindung erhalten, eine öffentliche Entschuldigung steht aber nach wie vor aus.
Die USA ist also keineswegs ein strafrechtlicher Sonderfall, sondern ein Blick in die Vertuschung der Behörden und die restriktive Drogenpolitik zeigt auf, wie das Land rassifizierte Menschen systematisch ausgrenzt, indem es sie kriminalisiert.
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