Ein Mann durchstreift alleine den Wald. Er hat sich nach Wikingerart in dickes Bärenfell gekleidet und trägt Pfeil und Bogen über der Schulter. Er ist auf der Jagd und hat auch schon einmal geschossen – auf eine durch die wilde Gebirgslandschaft stolpernde Hausziege. Zwar hat er getroffen, aber nicht richtig. Die Ziege hoppelt mit dem Pfeil in der Flanke davon. Sowieso scheint dem Mann nichts wirklich zu gelingen. Er steht genauso unpassend im Gebirge wie die wahrscheinlich einem Bauern entlaufene Hausziege. Einsam, verloren und sehr hungrig fängt er an zu weinen.
Der Mann ist einer von vielen wilden Männern, die dem neuen Film von Thomas Daneskov seinen Titel geben: Wild Men. Natürlich ist der Titel, ebenso wie der ganze Film – wie überhaupt alles, was mit diesen Männern zu tun hat –, eine Parodie.
Die Suche nach dem Männlichkeitsideal
Und wie es sich für eine Parodie gehört, schlurft der Bärenfellträger nach dem verfehlten Schuss auf die Ziege und einem einsam verdrückten Tränchen zur nächsten Tankstelle: einkaufen. Der Mann heisst Martin. Er ist auf einem Selbstfindungstrip in den norwegischen Wäldern.
Er sucht nach etwas, das ihm in der Zivilisation verlorengegangen zu sein scheint und das man mit einem Begriff aus der geschlechterpolitischen Mottenkiste wohl als Männlichkeitsideal bezeichnen könnte. Ein Wort, das allein mit seiner 90er-Jahre-Muffigkeit schon weit an aktuellen Diskursen vorbeizielt, aber bestens zu diesem Film passt, der sich wenig um Augenhöhe mit dem Zeitgeist bemüht.
Auch inhaltlich hat Wild Men auf den ersten Blick nicht allzu viel Neues zu bieten. Er reiht sich ein in das Genre des skandinavischen Gangstermovies, das seit den 90ern einige gelungene Unterhaltungsfilme hervorgebracht hat. Kraftidioten zum Beispiel, mit Stellan Skarsgard und Bruno Ganz, oder natürlich die Pusher-Trilogie von Nicolas Winding Refn.
In Wild Men kommt zur Gangsterromantik noch die Ausstiegsfantasie hinzu: Martin flüchtet vor dem tristen Familienleben in die Wildnis. Dort trifft er auf den Kleinkriminellen Musa, der mit einer Tasche voll Geld vor seinen Gangsterkollegen wegrennt. Gemeinsam schlagen sie sich in den norwegischen Bergen Richtung dänischer Grenze durch, verfolgt von drei wunderbar verschrobenen Polizisten und den um ihre Einnahmen betrogenen Gangstern. Womit auch schon alle wichtigen Figuren benannt sind. FINTA-Personen treten allenfalls in kleinen Nebenrollen auf.
Simpel, aber auf den Punkt
Das Ganze ist also einfach gestrickt. Und trotzdem lohnt es sich, bei Wild Men etwas genauer hinzusehen. Denn in den Figuren, in ihren Konflikten und Fluchtversuchen finden sich Ansätze einer sehr interessanten Männlichkeitskritik.
Deutlich wird das schon in der paradigmatischen Eröffnungssequenz: Der Mann, der in den Wald ging, um zur „echten Männlichkeit“ zurückzufinden, flennt wie ein kleiner Junge. Wieder in der Zivilisation aber – an der Tankstelle – überwältigt ihn die Wut und er prügelt auf einen Angestellten ein, bis die Polizei kommt. Das ist nicht nur Parodie. Das ist ernstgemeinte Kritik an Männlichkeitsklischees.
Gleichzeitig bleibt der Film in Sprache und Ästhetik aber so klar und direkt, dass er gewisse elitäre Blasen, in denen sich viele Kritische-Männlichkeitsdiskurse immer noch bewegen, durchbrechen kann.
Entsprechend geht es nach dem ramboartigen Auftakt, der nicht zufällig an den ersten Teil von Stallones Männlichkeitsmassaker First Blood erinnert, erstmal in gleicher Machomanier weiter: Musa und seine Gangsterkollegen sind auf dem Weg, einen Drogendeal abzuschliessen. Nach einem Autounfall nutzt Musa die Gelegenheit und verdrückt sich mit der gemeinsamen Kohle. Der Selbsterfahrungswikinger Martin findet Musa, versorgt die Wunden, und gemeinsam fliehen die beiden Männer tiefer in den Wald.
Nach der One-Man-Army-Show folgt nun der Buddy-Movie: Zwei bedingungslos aufeinander angewiesene Einzelgänger schlagen sich gemeinsam durch. Auch das wird ironisch gebrochen und kann mit einigen Momenten hervorragender Situationskomik aufwarten. Dabei hilft das präzise und nie auf die Pointe pochende Spiel der beiden Hauptdarstellenden: Rasmus Bjerg als Martin und Zaki Youssef in der Rolle des Musa – beide aus hochkarätigen dänischen Fernsehproduktionen bekannt.
Fehlen noch die drei Polizisten und das Gangsterduo im Verfolgerteam. Alle porträtieren einfache Männlichkeitsklischees: Die Bullen sind softe Knallchargen, die Gangster ironiefrei harte Kerle.
So geradlinig wie die Figurenkonstellation verläuft dann auch die weitere Handlung: Die Männergruppen jagen sich gegenseitig und geraten dabei in Situationen, die ihre Beziehungen untereinander und ihre Selbstbilder in Frage stellen.
Kritische Männlichkeit für die Massen
Damit wird es aber auch tatsächlich interessant, denn Regisseur Daneskov schafft – nicht durchgehend, aber immer wieder – genau das, was man sich von der Eröffnungssequenz erhoffte: eine kritische Männlichkeitsdebatte für das Mainstreamkino.
Es gelingt ihm, weil sich sein Ansatz nicht in der Blossstellung bestimmter Männlichkeitsklischees erschöpft. Das machen auch die immer noch wie Pilze aus dem Boden schiessenden Superheldenfilme, die damit gerade das Gegenteil einer kritischen Auseinandersetzung erreichen: Das Publikum darf über sich selbst lachen, um danach umso befreiter die ätzarchaische Gewaltorgie geniessen zu können. Heuchlerische Hollywood-Politik auf dem Boden stabiler Doppelmoral.
Das Lachen in Wild Men geht dagegen tiefer, weil es Männlichkeit in einer Art Prismareflexion unendlich aufspaltet. Hinter jedem Männlichkeitsklischee lauert immer schon das nächste. Hinter Martins Sehnsucht nach altbackener Survivalfreiheit steht Musa mit seiner kindischen Gangsterromantik, hinter Musa kommt der Bulle, der gerne starke Vaterfigur wäre und so weiter.
Man lacht die überkommene Männlichkeit nicht aus, um sich danach – zufrieden mit der eigenen Kritikfähigkeit – in eben dieser zu suhlen. Das wäre ein klassisches Muster des ironisierten Superheldenkinos.
In Wild Men steckt die Pointe gerade in der sich immer wiederholenden Erkenntnis, dass die einfache Kritik einfacher Männerbilder nicht ausreicht. Oder anders: Kritische Männlichkeit ist zumindest heute noch nicht abschliessbar. Sie ist ein Prozess, der gerade erst in Gang kommt und in dem hinter jedem scheinbar bewältigten Männlichkeitsklischee unbedingt das nächste vermutet werden sollte.
Dem Kriegsfürsten ist es peinlich
Eine Szene im Wald ist dafür besonders aufschlussreich. Martin und Musa landen in einem Überlebenscamp für gestresste Grossstädter. Auch hier sind alle als Wikinger verkleidet – das scheint in skandinavischen Ländern eine ernsthafte Ausstiegsfantasie zu sein – und auch hier versuchen die Männer, ihre Klischees wirklich zu leben. Weshalb sich die Neuankömmlinge anfangs auch hervorragend in die selbstisolierte Männergesellschaft einfügen, die archaischen Rituale und Sprachcodes adaptieren und – ja – beinahe glücklich sind.
Leider kommt bald die dreiköpfige Polizeitruppe angetrabt. Musa und Martin verstecken sich und der Oberwikinger vom Camp muss Papiere zeigen und zu Protokoll geben, was er hier macht.
Es hätte beinahe funktioniert: Die Survivalhorde, zusammengeschweisst durch die harschen Bedingungen in rauer Natur, verschmilzt mit ihrem Klischee. Wilde Männer sind wilde Männer, sie sind Krieger, sie sind Wikinger. Ungebrochen und direkt.
Dann fragt der Polizist nach der Motivation und der Oberwikinger fängt an rumzudrucksen, weil es ihm doch ein bisschen peinlich ist. Die Kamera schwenkt über das Camp und der Bulle hält fest: „Das sieht aus wie eins von diesen Flüchtlingscamps.“ Der Wikingerboss lässt den Kopf hängen und nickt: plötzlich hilfloser Geflüchteter statt wilder Krieger.
So oszillieren in Wild Men die Männerklischees ständig zwischen den Extremen, ohne je auf den Punkt zu kommen. Wodurch eben kein zufriedenes (Männer-)Lachen entsteht, sondern eine sehr ernsthafte Verunsicherung, die bis zum Showdown, wenn alle Männer aufeinandertreffen und dann auch wirklich aufeinander schiessen dürfen, durchgehalten wird.
Wie im ironischen Superheldenfilm sind auch die Männer in Wild Men Witzfiguren. Sie behalten aber ihr beunruhigendes Potential, weil sie in der endlosen Auffächerung der Klischees tatsächlich zum kritischen Denken anregen. Damit geben sie den Blick frei auf Urformen patriarchaler Männlichkeit, ohne sie zu verharmlosen oder simpel zu ironisieren.
Klassenübergreifend gegen das Patriarchat
Man sollte Wild Men nicht überbewerten. Neben allem anderen ist der Film auch eine seichte Komödie, der das Spiel mit Männlichkeitsklischees immer wieder heftig entgleitet. Meistens dann, wenn die Dialoge ernster werden, die Inhalte aber genauso klischeehaft bleiben. Zum Beispiel, wenn Martin bei seiner schlussendlichen Verhaftung die Flucht in den Wald mit den Worten erklärt: „Ich wollte einfach nicht mehr sprechen.“
Nicht mehr ständig quasseln müssen, sondern ums Überleben kämpfen als positive Utopie: In diesem Moment durchaus ernst gemeint kommt das so plump daher, dass man am liebsten den Saal verlassen möchte.
Aus dem gleichen Grund aber lohnt sich der Film in Zeiten wie diesen auch. Wo das Patriarchat seine kriegerische Fratze wieder so unverstellt zeigt, tut die kritische Männlichkeit gut daran, den elitären Elfenbeinturm zu verlassen und sich dem Ganzen etwas direkter entgegenzustellen. Verbündete finden ausserhalb der eigenen Bubble, der eigenen Klasse. Eine Einheitsfront bilden gegen das Patriarchat. Wild Men liefert dazu ein paar interessante Denkanstösse.
Wild Men, Regie: Thomas Daneskov, mit Rasmus Bjerg, Zaki Youssef, Bjørn Sundquist und anderen, Kinostart Schweiz: 24.03.2022
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