„Wir sind keine Opfer, sondern Kämpfer*innen“

Die bei das Lamm publi­zierte Rezen­sion zum Film „Die Anhö­rung“ hat hohe Wellen geschlagen. Wir haben uns insbe­son­dere die Kritik der Protagonist*innen des Films zu Herzen genommen. Sie fühlten sich vom Artikel entmün­digt und falsch darge­stellt. In diesem Beitrag kommen sie selbst zu Wort. 
Die drei Protagonist*innen, Victoria Innocent, Pascal Onana und Living Smile Vidya (v.l.n.r.), spielen im preisgekrönten Dokumentarfilm "Die Anhörung" ihre eigenen Erlebnisse im Schweizer Asylsystem nach. (Bearbeitete Screenshots: Luca Mondgenast)

An einem Sonntag Nach­mittag treffen sich Pascal Onana und Victoria Inno­cent mit zwei Redak­teu­rinnen von das Lamm in unserem Büro in Zürich. Living Smile Vidya schaltet sich per Video zu. Sie sind drei der vier Protagonist*innen des Films „Die Anhö­rung“, in dem sie ihre eigenen Anhö­rungen im Asyl­ver­fahren nach­spielen und dabei trau­ma­ti­sche Ereig­nisse aufs Neue durchleben.

Mit der kriti­schen Rezen­sion einer freien Autorin, die bei das Lamm erschien, waren sie nicht einver­standen – ganz und gar nicht. Sie meldeten sich bei der Redak­tion und forderten eine Rich­tig­stel­lung, weil die Rezen­sion ein Bild von dem Film­pro­jekt und der Regis­seurin zeichnen würde, das nicht der Wahr­heit entspräche. Insbe­son­dere die Art und Weise, in der sie selbst darge­stellt wurden, war für die Protagonist*innen inakzeptabel.

Hier erklären sie ihre Wut über den Artikel und schil­dern die Beweg­gründe, aufgrund derer sie beim Film­pro­jekt mitmachten.

Pascal Onana

Als ich vom bei euch erschie­nenen Artikel hörte, freute ich mich zunächst darüber, dass der Film eine Debatte auslöste. Das war der Grund, aus dem ich mich – in voller Kenntnis der Risiken und auf Kosten meiner Zukunft – dazu entschieden hatte, der Gesell­schaft einen Teil meines Leids zu präsentieren.

Als ich ihn dann aber las, wurde ich sehr, sehr wütend. In diesem Text werde ich als eine schwache Person darge­stellt – als ein Opfer. Ich bin aber kein Opfer, ich bin ein Kämpfer. Ich war als Asyl­su­chender in einer schreck­li­chen Situa­tion, ja, aber ich bin kein willen­loser Sklave. Mich und die anderen Protagonist*innen als arm und hilflos darzu­stellen, betrachte ich als einen Versuch, dem Film seine Kraft zu nehmen.

Pascal Onana (Bild: zVg)

Auch wenn Menschen sich in einer Situa­tion wie meiner befinden, können sie sich dazu entscheiden, etwas zu tun. Sogar Menschen, die sich in einer eigent­lich macht­losen Situa­tion befinden, haben doch die Fähig­keit, ihre Stimme zu erheben. Das ist das, was wir getan haben und was wir mit diesem Film vermit­teln wollten: Denn wer wird für uns kämpfen, wenn nicht wir selbst?

Meine Parti­zi­pa­tion im Film war nicht das erste Mal, dass ich für mich einge­treten bin. Meine Erfah­rungen im Asyl­sy­stem hatte ich zuvor bereits in einem Buch verar­beitet. Und zwar auf Deutsch, einer Fremd­sprache. Darüber hinaus arbeite ich ehren­amt­lich als Sozi­al­ar­beiter in Zürich, unter­richte – eben­falls ehren­amt­lich – Deutsch in Winter­thur, habe einen Master­ab­schluss und bin Mitglied eines Orato­ri­en­chors. Trotz all dem hat das Migra­ti­onsamt Zürich mein Härte­fall­ge­such mit der Begrün­dung abge­lehnt, ich sei nicht genü­gend inte­griert – weil es unmög­lich sei, sich in fünf Jahren ausrei­chend zu integrieren.

„Wir haben uns bereit erklärt, diesen Film zu machen, um der Öffent­lich­keit endlich die Augen für die Unge­rech­tig­keiten des Asyl­sy­stems zu öffnen.“

Pascal Onana, Autor, Akti­vist und Sozialarbeiter

Als Asyl­su­chende, als Menschen und als Protagonist*innen dieses Films sind wir so unter­schied­lich, dass man uns nicht einfach in eine Schub­lade stecken kann. Menschen zu stig­ma­ti­sieren und zu kate­go­ri­sieren, das ist nicht richtig. Unser Enga­ge­ment darf nicht instru­men­ta­li­siert werden, unser Schmerz darf nicht gegen uns oder gegen das Film­team gewendet werden.

Wir haben uns bereit erklärt, diesen Film zu machen, um der Öffent­lich­keit endlich die Augen für die Unge­rech­tig­keiten des Asyl­sy­stems zu öffnen.

Hätten wir statt­dessen schweigen sollen? Hätten wir die Bevöl­ke­rung weiterhin im Glauben lassen sollen, dass wir bloss faule Krimi­nelle sind? Sollten die Menschen weiterhin denken, dass in diesen Asyl­ver­fahren alles in Ordnung ist?

Ich respek­tiere Personen, die, um ihr Trauma zu verar­beiten, zu Psycholog*innen gehen, und ich respek­tiere und verstehe auch dieje­nigen, die sich für das Schweigen entscheiden. Alle sollten die für sie beste Stra­tegie zur Verar­bei­tung ihrer Trau­mata finden können, und niemand sollte dafür kriti­siert werden.

Die für mich rich­tige Stra­tegie ist es, für mich einzustehen.

Das Buch „Das Laby­rinth. Der Weg eines Asyl­su­chenden in der Schweiz“ von Yves Pascal Honla ist 2021 im Eigen­verlag erschienen und kann unter teamdaslabyrinth@gmail.com bestellt werden.

Living Smile Vidya

Die Regis­seurin hatte mich vorge­warnt. Bevor ich den Artikel las, dachte ich, ich sei vorbe­reitet auf das, was kommen würde. Was mich dann aber trotzdem schockierte, war die Macht­lo­sig­keit, mit der ich darge­stellt wurde.

Im von euch publi­zierten Artikel wirkt es so, als wären wir Protagonist*innen quasi gezwungen worden, beim Film mitzu­ma­chen. Als hätten wir das nicht selbst entscheiden können. Und das hat mich genau wie Pascal extrem wütend gemacht. Diese Darstel­lungs­weise habe ich sehr persön­lich genommen.

Niemand, der mich kennt, würde es je wagen, zu denken, dass ich keine Kontrolle über meine Stimme, meinen Körper, meine Geschichte habe. Denn ich bin die Art von Mensch, die immer wieder aufsteht, die immer weiter kämpft.

„Wird es mir Spass machen? Nein. Werde ich ein mentales Trauma erleiden? Verdammt ja! Aber werde ich es trotzdem tun? Auf jeden Fall.“

Living Smile Vidya über die Teil­nahme im Dokumentarfilm

Durch die Entschei­dung, bei diesem Film mitzu­ma­chen, habe ich mich bewusst in eine verletz­liche Lage gebracht, weil ich mich nicht nur als Asyl­be­wer­berin, sondern auch als Akti­vi­stin sehe. Und als Akti­vi­stin nimmt man Verant­wor­tung auf sich, man tut etwas. Deswegen erzählte ich meine Geschichte. Auch weil ich nicht nur Asyl­be­wer­berin bin, sondern eine queere Asyl­be­wer­berin, fand ich es wichtig, dabei zu sein. Und um meine Geschichte zu erzählen, nehme ich jede Platt­form, die ich kriegen kann. Als mich die Regis­seurin also fragte, ob ich beim Film mitma­chen will, war absolut klar, dass ich diese Chance wahr­nehmen würde.

Ich über­legte mir: Wird es mir Spass machen? Nein. Werde ich ein mentales Trauma erleiden? Verdammt ja! Aber werde ich es trotzdem tun? Auf jeden Fall.

Obwohl ich grund­sätz­lich keine Energie und keine Geduld mehr habe, entschloss ich mich dazu, bei diesem Film mitzu­ma­chen. Weil es für eine Akti­vi­stin wie mich nichts Wich­ti­geres gibt, als die eigene Geschichte zu erzählen.

Living Smile Vidya (Foto: Miguel Bueno)

Und natür­lich war dieser Film­dreh über­haupt nicht frei von Trau­mata, im Gegen­teil. Aber ich habe mich wie die anderen dazu entschieden, das noch mal zu durch­leben, damit die Zuschauer*innen ein Gefühl dafür bekommen, was wir durch­ma­chen. Nicht jede und jeder bekommt eine solche Gele­gen­heit. Für uns waren es ein paar Tage Arbeit und Schmerz, ja, aber dafür gibt es jetzt diesen Film. Für immer. Nun kann er hundertmal in allen Kantonen der Schweiz gezeigt werden – in anderen Ländern, in Europa, in Amerika. Jetzt muss ich das nicht mehr erzählen.

Gleich­zeitig fand ich schlimm, dass es im Artikel so darge­stellt wurde, als ob wir von der Film­crew benutzt worden wären, als hätten wir keine Stimme gehabt, als wären wir Opfer einer weissen Retterin gewesen. Das war eine falsche Wahr­neh­mung. Ich hätte mir gewünscht, dass die Autorin des Arti­kels auf mich zuge­kommen wäre und mich gefragt hätte, wie ich mich fühlte, wie es mir ging, was meine Absichten und Über­le­gungen waren. Anstatt Annahmen darüber zu treffen.

Über mein Verhältnis zur Regis­seurin Lisa Gerig möchte ich sagen, dass wir eine starke Bindung aufge­baut haben, und zwar über Jahre hinweg. Sie hat mich besucht, als ich mich in einer schweren psychi­schen Krise befand und in einer Klinik einge­wiesen war, und sie hat meine Wünsche in Bezug auf den Film stets respektiert.

Living Smile Vidya ist Künst­lerin, Schau­spie­lerin und Akti­vi­stin für die Rechte von Queers, Dalit und Asyl­su­chenden. Zur Zeit tourt sie mit ihrem Solo­per­for­mance-Stück “Intro­du­cing Living Smile Vidya”.

Victoria Inno­cent

Die Autorin dieses Textes, bei dem es um uns geht – sie kennt mich nicht. Sie kennt meine Geschichte nicht. Sie kam an ein Podium, wo sie mich weinen sah, und beschloss dann, mein Sprach­rohr sein zu wollen, für mich zu sprechen.

Sie machte mich zum Opfer.

Wenn sie sich wirk­lich für mich inter­es­sierte, warum ist sie dann nicht aufge­standen, hat mich gesucht, hat sich darum bemüht, meinen Kontakt zu kriegen? Hätte sie nicht besser versucht, mich kennen­zu­lernen, anstatt mich bloss­zu­stellen – anstatt den Gefühls­aus­bruch, den ich auf einem Podium hatte, zu inter­pre­tieren? Ich habe geweint, ja – und ich werde es viel­leicht wieder tun.

„Meine Geschichte ist so schlimm, dass man nicht glauben könnte, dass so etwas in der Schweiz passieren kann.“

Victoria Inno­cent

Sie weiss nicht, was ich durch­ge­macht habe. Es waren die Regis­seurin Lisa Gerig und ihre Schwe­ster, die mich in schwie­rigen Situa­tionen begleitet haben. Ich weiss gar nicht, wie ich ohne sie über­lebt hätte. Und trotzdem habe ich nicht wegen ihnen bei diesem Film mitge­macht, nicht, weil die beiden wie eine Familie für mich sind.

Ich habe mitge­macht, weil ich meine Stimme erheben wollte.

Als der Film gedreht wurde, war mein Asyl­ver­fahren bereits abge­schlossen. Meinem Antrag wurde schluss­end­lich statt­ge­geben. Aber der Weg dorthin…

Meine Geschichte ist so schlimm, dass man nicht glauben könnte, dass so etwas in der Schweiz passieren kann. Ich habe Dinge erlebt, die so schreck­lich waren, dass ich in einer Klinik war, fast ein ganzes Jahr lang. Ich habe ein Kind, es war erst zwei­ein­halb Jahre alt und ich schal­tete selbst die KESB (Kindes- und Erwach­se­nen­schutz­be­hörde) ein, weil ich wollte, dass es ihm gut geht, während ich in Behand­lung bin. Dass es in einem Haus lebt, in einer Familie mit einer Mutter, mit einem Vater, dass es sich beschützt fühlt und glück­lich ist. Der Arzt hat mich unter­stützt und meinte, wenn ich wieder gesund bin, werde ich mein Kind zurück­be­kommen. Doch als ich am Ende die Klinik verlassen durfte, sagte man mir, ich könne nicht in der Schweiz bleiben.

Ich wollte aufgeben, aber ich habe gekämpft. Ich habe mehr gekämpft, als jede und jeder andere es könnte. Und ja, es war schmerz­haft, sehr schmerz­haft. Die Regis­seurin des Films fragte mich, ob ich beim Projekt mitma­chen wollte. Sie sagte: „Victoria, wir wissen, was du durch­ge­macht hast“. Ich beschloss, dass meine Geschichte raus muss. Die Leute müssen verstehen. Sie müssen wenig­stens eine kleine Vorstel­lung davon haben, was in diesem Land vor sich geht. Und die Behörden müssen verstehen, dass wir, auch wenn wir Asylbewerber*innen sind, Menschen sind. Dass wir mit Sorg­falt behan­delt werden sollten.

Deshalb habe ich bei diesem Film mitge­macht. Niemand hat mich über­redet. Ich hätte mir gewünscht, dass ich in diesem Film meine ganze Geschichte hätte erzählen können. In der Vergan­gen­heit hatte ich bereits mit Journalist*innen über meine Erfah­rungen gespro­chen. Weil ich aufdecken will, was vor sich geht, was die unschul­digen Schweizer*innen nicht wissen.

Aber ich spreche nicht nur für sie, sondern für die Menschen, die in diesem System feststecken.

Es gibt eine Frau, die meine Stimme hören will.

Es gibt einen Mann, der meine Stimme hören will.

Da ist ein Asyl­be­werber, der sich umbringen will.

Es gibt Menschen, die denken, dass alles vorbei sei.

„So etwas wie diese Rezen­sion sollte nicht passieren. Denn so etwas entmu­tigt die Menschen, die ihre Stimme erheben wollen.“ 

Victoria Inno­cent, Prot­ago­ni­stin im Film „Die Anhörung“

Ich wollte, dass die Leute nicht nur den Film sehen, sondern auch an die Film­vor­füh­rungen kommen, an denen ich dabei bin. Ich wollte, dass Asyl­su­chende kommen, zuschauen und zuhören. Wenn sie die Diskus­sion hörten, würden sie viel­leicht nach Hause gehen und nicht mehr so nieder­ge­schlagen sein – weil ich auch von ihnen erzähle.

Ich bin ein sehr starkes mensch­li­ches Wesen. Ich über­lebe. Und dann kommt dieser Artikel. Wer zum Teufel könnte denken, dass Lisa Gerig mich trau­ma­ti­sierte? Wenn es in ihrer Hand läge, würde sie mich vor allem beschützen – aber ich will nicht beschützt werden.

Als ich den Artikel las, fragte ich mich: Hielt mich die Autorin, nachdem sie unseren Film gesehen hatte, für eine schwache Person? Ich bin zusam­men­ge­bro­chen, ja – aber hat irgendwer das Recht, so etwas über mich zu schreiben? Mich so darzu­stellen, als schwache Person; ausge­rechnet mich? Ohne mich zu fragen, ohne mein Einver­ständnis? Was sollen die Leute bei meiner Arbeit denken, einer Arbeit, bei der ich ster­bende Menschen betreue, bei der ich stark sein muss? Den Gedanken, dass sie Mitleid mit mir haben könnten, finde ich unerträglich.

So etwas, wie hier passiert ist, sollte nicht passieren. Denn so etwas entmu­tigt die Menschen, die ihre Stimme erheben wollen. Ich möchte, dass ihr Journalist*innen euch das nächste Mal, bevor ihr über jemanden schreibt, bevor ihr als Redak­tion so etwas publi­ziert, euch in die Person rein­ver­setzt und euch fragt, ob das, was ihr tut, richtig ist.

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