An einem Sonntag Nachmittag treffen sich Pascal Onana und Victoria Innocent mit zwei Redakteurinnen von das Lamm in unserem Büro in Zürich. Living Smile Vidya schaltet sich per Video zu. Sie sind drei der vier Protagonist*innen des Films „Die Anhörung“, in dem sie ihre eigenen Anhörungen im Asylverfahren nachspielen und dabei traumatische Ereignisse aufs Neue durchleben.
Mit der kritischen Rezension einer freien Autorin, die bei das Lamm erschien, waren sie nicht einverstanden – ganz und gar nicht. Sie meldeten sich bei der Redaktion und forderten eine Richtigstellung, weil die Rezension ein Bild von dem Filmprojekt und der Regisseurin zeichnen würde, das nicht der Wahrheit entspräche. Insbesondere die Art und Weise, in der sie selbst dargestellt wurden, war für die Protagonist*innen inakzeptabel.
Hier erklären sie ihre Wut über den Artikel und schildern die Beweggründe, aufgrund derer sie beim Filmprojekt mitmachten.
Pascal Onana
Als ich vom bei euch erschienenen Artikel hörte, freute ich mich zunächst darüber, dass der Film eine Debatte auslöste. Das war der Grund, aus dem ich mich – in voller Kenntnis der Risiken und auf Kosten meiner Zukunft – dazu entschieden hatte, der Gesellschaft einen Teil meines Leids zu präsentieren.
Als ich ihn dann aber las, wurde ich sehr, sehr wütend. In diesem Text werde ich als eine schwache Person dargestellt – als ein Opfer. Ich bin aber kein Opfer, ich bin ein Kämpfer. Ich war als Asylsuchender in einer schrecklichen Situation, ja, aber ich bin kein willenloser Sklave. Mich und die anderen Protagonist*innen als arm und hilflos darzustellen, betrachte ich als einen Versuch, dem Film seine Kraft zu nehmen.
Auch wenn Menschen sich in einer Situation wie meiner befinden, können sie sich dazu entscheiden, etwas zu tun. Sogar Menschen, die sich in einer eigentlich machtlosen Situation befinden, haben doch die Fähigkeit, ihre Stimme zu erheben. Das ist das, was wir getan haben und was wir mit diesem Film vermitteln wollten: Denn wer wird für uns kämpfen, wenn nicht wir selbst?
Meine Partizipation im Film war nicht das erste Mal, dass ich für mich eingetreten bin. Meine Erfahrungen im Asylsystem hatte ich zuvor bereits in einem Buch verarbeitet. Und zwar auf Deutsch, einer Fremdsprache. Darüber hinaus arbeite ich ehrenamtlich als Sozialarbeiter in Zürich, unterrichte – ebenfalls ehrenamtlich – Deutsch in Winterthur, habe einen Masterabschluss und bin Mitglied eines Oratorienchors. Trotz all dem hat das Migrationsamt Zürich mein Härtefallgesuch mit der Begründung abgelehnt, ich sei nicht genügend integriert – weil es unmöglich sei, sich in fünf Jahren ausreichend zu integrieren.
Als Asylsuchende, als Menschen und als Protagonist*innen dieses Films sind wir so unterschiedlich, dass man uns nicht einfach in eine Schublade stecken kann. Menschen zu stigmatisieren und zu kategorisieren, das ist nicht richtig. Unser Engagement darf nicht instrumentalisiert werden, unser Schmerz darf nicht gegen uns oder gegen das Filmteam gewendet werden.
Wir haben uns bereit erklärt, diesen Film zu machen, um der Öffentlichkeit endlich die Augen für die Ungerechtigkeiten des Asylsystems zu öffnen.
Hätten wir stattdessen schweigen sollen? Hätten wir die Bevölkerung weiterhin im Glauben lassen sollen, dass wir bloss faule Kriminelle sind? Sollten die Menschen weiterhin denken, dass in diesen Asylverfahren alles in Ordnung ist?
Ich respektiere Personen, die, um ihr Trauma zu verarbeiten, zu Psycholog*innen gehen, und ich respektiere und verstehe auch diejenigen, die sich für das Schweigen entscheiden. Alle sollten die für sie beste Strategie zur Verarbeitung ihrer Traumata finden können, und niemand sollte dafür kritisiert werden.
Die für mich richtige Strategie ist es, für mich einzustehen.
Das Buch „Das Labyrinth. Der Weg eines Asylsuchenden in der Schweiz“ von Yves Pascal Honla ist 2021 im Eigenverlag erschienen und kann unter teamdaslabyrinth@gmail.com bestellt werden.
Living Smile Vidya
Die Regisseurin hatte mich vorgewarnt. Bevor ich den Artikel las, dachte ich, ich sei vorbereitet auf das, was kommen würde. Was mich dann aber trotzdem schockierte, war die Machtlosigkeit, mit der ich dargestellt wurde.
Im von euch publizierten Artikel wirkt es so, als wären wir Protagonist*innen quasi gezwungen worden, beim Film mitzumachen. Als hätten wir das nicht selbst entscheiden können. Und das hat mich genau wie Pascal extrem wütend gemacht. Diese Darstellungsweise habe ich sehr persönlich genommen.
Niemand, der mich kennt, würde es je wagen, zu denken, dass ich keine Kontrolle über meine Stimme, meinen Körper, meine Geschichte habe. Denn ich bin die Art von Mensch, die immer wieder aufsteht, die immer weiter kämpft.
Durch die Entscheidung, bei diesem Film mitzumachen, habe ich mich bewusst in eine verletzliche Lage gebracht, weil ich mich nicht nur als Asylbewerberin, sondern auch als Aktivistin sehe. Und als Aktivistin nimmt man Verantwortung auf sich, man tut etwas. Deswegen erzählte ich meine Geschichte. Auch weil ich nicht nur Asylbewerberin bin, sondern eine queere Asylbewerberin, fand ich es wichtig, dabei zu sein. Und um meine Geschichte zu erzählen, nehme ich jede Plattform, die ich kriegen kann. Als mich die Regisseurin also fragte, ob ich beim Film mitmachen will, war absolut klar, dass ich diese Chance wahrnehmen würde.
Ich überlegte mir: Wird es mir Spass machen? Nein. Werde ich ein mentales Trauma erleiden? Verdammt ja! Aber werde ich es trotzdem tun? Auf jeden Fall.
Obwohl ich grundsätzlich keine Energie und keine Geduld mehr habe, entschloss ich mich dazu, bei diesem Film mitzumachen. Weil es für eine Aktivistin wie mich nichts Wichtigeres gibt, als die eigene Geschichte zu erzählen.
Und natürlich war dieser Filmdreh überhaupt nicht frei von Traumata, im Gegenteil. Aber ich habe mich wie die anderen dazu entschieden, das noch mal zu durchleben, damit die Zuschauer*innen ein Gefühl dafür bekommen, was wir durchmachen. Nicht jede und jeder bekommt eine solche Gelegenheit. Für uns waren es ein paar Tage Arbeit und Schmerz, ja, aber dafür gibt es jetzt diesen Film. Für immer. Nun kann er hundertmal in allen Kantonen der Schweiz gezeigt werden – in anderen Ländern, in Europa, in Amerika. Jetzt muss ich das nicht mehr erzählen.
Gleichzeitig fand ich schlimm, dass es im Artikel so dargestellt wurde, als ob wir von der Filmcrew benutzt worden wären, als hätten wir keine Stimme gehabt, als wären wir Opfer einer weissen Retterin gewesen. Das war eine falsche Wahrnehmung. Ich hätte mir gewünscht, dass die Autorin des Artikels auf mich zugekommen wäre und mich gefragt hätte, wie ich mich fühlte, wie es mir ging, was meine Absichten und Überlegungen waren. Anstatt Annahmen darüber zu treffen.
Über mein Verhältnis zur Regisseurin Lisa Gerig möchte ich sagen, dass wir eine starke Bindung aufgebaut haben, und zwar über Jahre hinweg. Sie hat mich besucht, als ich mich in einer schweren psychischen Krise befand und in einer Klinik eingewiesen war, und sie hat meine Wünsche in Bezug auf den Film stets respektiert.
Living Smile Vidya ist Künstlerin, Schauspielerin und Aktivistin für die Rechte von Queers, Dalit und Asylsuchenden. Zur Zeit tourt sie mit ihrem Soloperformance-Stück “Introducing Living Smile Vidya”.
Victoria Innocent
Die Autorin dieses Textes, bei dem es um uns geht – sie kennt mich nicht. Sie kennt meine Geschichte nicht. Sie kam an ein Podium, wo sie mich weinen sah, und beschloss dann, mein Sprachrohr sein zu wollen, für mich zu sprechen.
Sie machte mich zum Opfer.
Wenn sie sich wirklich für mich interessierte, warum ist sie dann nicht aufgestanden, hat mich gesucht, hat sich darum bemüht, meinen Kontakt zu kriegen? Hätte sie nicht besser versucht, mich kennenzulernen, anstatt mich blosszustellen – anstatt den Gefühlsausbruch, den ich auf einem Podium hatte, zu interpretieren? Ich habe geweint, ja – und ich werde es vielleicht wieder tun.
Sie weiss nicht, was ich durchgemacht habe. Es waren die Regisseurin Lisa Gerig und ihre Schwester, die mich in schwierigen Situationen begleitet haben. Ich weiss gar nicht, wie ich ohne sie überlebt hätte. Und trotzdem habe ich nicht wegen ihnen bei diesem Film mitgemacht, nicht, weil die beiden wie eine Familie für mich sind.
Ich habe mitgemacht, weil ich meine Stimme erheben wollte.
Als der Film gedreht wurde, war mein Asylverfahren bereits abgeschlossen. Meinem Antrag wurde schlussendlich stattgegeben. Aber der Weg dorthin…
Meine Geschichte ist so schlimm, dass man nicht glauben könnte, dass so etwas in der Schweiz passieren kann. Ich habe Dinge erlebt, die so schrecklich waren, dass ich in einer Klinik war, fast ein ganzes Jahr lang. Ich habe ein Kind, es war erst zweieinhalb Jahre alt und ich schaltete selbst die KESB (Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde) ein, weil ich wollte, dass es ihm gut geht, während ich in Behandlung bin. Dass es in einem Haus lebt, in einer Familie mit einer Mutter, mit einem Vater, dass es sich beschützt fühlt und glücklich ist. Der Arzt hat mich unterstützt und meinte, wenn ich wieder gesund bin, werde ich mein Kind zurückbekommen. Doch als ich am Ende die Klinik verlassen durfte, sagte man mir, ich könne nicht in der Schweiz bleiben.
Ich wollte aufgeben, aber ich habe gekämpft. Ich habe mehr gekämpft, als jede und jeder andere es könnte. Und ja, es war schmerzhaft, sehr schmerzhaft. Die Regisseurin des Films fragte mich, ob ich beim Projekt mitmachen wollte. Sie sagte: „Victoria, wir wissen, was du durchgemacht hast“. Ich beschloss, dass meine Geschichte raus muss. Die Leute müssen verstehen. Sie müssen wenigstens eine kleine Vorstellung davon haben, was in diesem Land vor sich geht. Und die Behörden müssen verstehen, dass wir, auch wenn wir Asylbewerber*innen sind, Menschen sind. Dass wir mit Sorgfalt behandelt werden sollten.
Deshalb habe ich bei diesem Film mitgemacht. Niemand hat mich überredet. Ich hätte mir gewünscht, dass ich in diesem Film meine ganze Geschichte hätte erzählen können. In der Vergangenheit hatte ich bereits mit Journalist*innen über meine Erfahrungen gesprochen. Weil ich aufdecken will, was vor sich geht, was die unschuldigen Schweizer*innen nicht wissen.
Aber ich spreche nicht nur für sie, sondern für die Menschen, die in diesem System feststecken.
Es gibt eine Frau, die meine Stimme hören will.
Es gibt einen Mann, der meine Stimme hören will.
Da ist ein Asylbewerber, der sich umbringen will.
Es gibt Menschen, die denken, dass alles vorbei sei.
Ich wollte, dass die Leute nicht nur den Film sehen, sondern auch an die Filmvorführungen kommen, an denen ich dabei bin. Ich wollte, dass Asylsuchende kommen, zuschauen und zuhören. Wenn sie die Diskussion hörten, würden sie vielleicht nach Hause gehen und nicht mehr so niedergeschlagen sein – weil ich auch von ihnen erzähle.
Ich bin ein sehr starkes menschliches Wesen. Ich überlebe. Und dann kommt dieser Artikel. Wer zum Teufel könnte denken, dass Lisa Gerig mich traumatisierte? Wenn es in ihrer Hand läge, würde sie mich vor allem beschützen – aber ich will nicht beschützt werden.
Als ich den Artikel las, fragte ich mich: Hielt mich die Autorin, nachdem sie unseren Film gesehen hatte, für eine schwache Person? Ich bin zusammengebrochen, ja – aber hat irgendwer das Recht, so etwas über mich zu schreiben? Mich so darzustellen, als schwache Person; ausgerechnet mich? Ohne mich zu fragen, ohne mein Einverständnis? Was sollen die Leute bei meiner Arbeit denken, einer Arbeit, bei der ich sterbende Menschen betreue, bei der ich stark sein muss? Den Gedanken, dass sie Mitleid mit mir haben könnten, finde ich unerträglich.
So etwas, wie hier passiert ist, sollte nicht passieren. Denn so etwas entmutigt die Menschen, die ihre Stimme erheben wollen. Ich möchte, dass ihr Journalist*innen euch das nächste Mal, bevor ihr über jemanden schreibt, bevor ihr als Redaktion so etwas publiziert, euch in die Person reinversetzt und euch fragt, ob das, was ihr tut, richtig ist.