Zur Drama­turgie eines Vorwurfs

Der Tages­an­zeiger druckt einen haar­sträu­benden anti­se­mi­ti­schen Artikel ab. Die darauf­fol­gende Debatte wirft Schlag­lichter auf ein linkes Problem und eine rechte Strategie. 
Die Akte dieses Dramas sind immer dieselben, eine vertiefte Auseinandersetzung bleibt aus. (Bild: Kvin Schmid/unsplash)

Man kann einen Artikel über eine Frau aus der jüdi­schen Gemeinde Zürichs kaum schlimmer beginnen als kürz­lich ein junger Jour­na­list im Tages­an­zeiger. Erst wird die porträ­tierte FDP-Poli­ti­kerin als Spar­kassen-Kunden­be­ra­terin gezeichnet, die Kredit mit „vernünf­tigem Zins“ vergibt, um sie im näch­sten Absatz ins Zentrum eines Spin­nen­netzes zu setzen. Das Vorur­teil über jüdi­sche Menschen als geschickte Geldverleiher:innen hat seinen Ursprung im Mittel­alter und lebt bis heute fort. Das eben­falls alte Bild der Spinne wiederum wurde in der Hetze der Natio­nal­so­zia­li­sten, aber auch in der anti­se­mi­ti­schen Mobi­li­sie­rung des Stali­nismus bewirtschaftet.

Das Urteil könnte eindeu­tiger nicht ausfallen: Das Porträt mit dem groben Titel „Die Frau mit dem Spin­nen­netz“ bedient auf nicht mal 5’000 Zeichen mehrere anti­se­mi­ti­sche Stereo­type. Am 24. Januar rutscht es durch die Quali­täts­kon­trolle von Tamedia, zwei Tage später veröf­fent­licht der Schwei­ze­ri­sche Israe­li­ti­sche Gemein­de­bund (SIG) eine Mittei­lung dazu. Am selben Tag entschul­digt sich die Tamedia-Chef­re­dak­tion und verspricht Mass­nahmen, damit sich so etwas nicht wieder­holt. Das Opfer, die porträ­tierte Poli­ti­kerin, meldet sich zu Wort und bedankt sich für den klärenden Kommentar. Der Jour­na­list schliess­lich bittet um Verzei­hung und versi­chert, „aus diesem Fehler zu lernen“.

Die Debatte hat sich zu diesem Zeit­punkt längst verselbst­stän­digt. Auf Twitter sind alle aufge­treten, die sich eine Rolle im Drama zuge­dacht haben: Linke und Journalist:innen vertei­digen den linken Jour­na­li­sten mit Verweis auf dessen weisse Weste. Rechte schreiben die anti­se­mi­ti­sche Verfeh­lung zur Eigen­schaft des Autors selbst hoch: Anti­semit! Ein paar Beson­nene mahnen noch zu Diffe­ren­zie­rung und Genau­ig­keit, da sind schon die beiden freie­sten Medien der Schweiz der Affäre habhaft geworden: Die Welt­woche sieht im Artikel ein „vulgär­so­zia­li­sti­sches Welt­bild“ am Werk. Der Nebel­spalter entdeckt die „Fake News der Woche“. Die berech­tigte und notwen­dige Kritik ist zum rechten Instru­ment entstellt. Das Unglück folgt nun einer Drama­turgie, die eine Debatte so unend­lich vertrackt macht.

Die Linke hat ein Problem

Am Anfang steht aber eine Krux mit der Linken. Diese bietet für Kritik immer wieder Anlass, wenn sie mit schlaf­wand­le­ri­scher Sicher­heit anti­se­mi­ti­sche Stereo­type und Fehl­lei­stungen produ­ziert: Böse­wichte mit sechs­zackigen „Sheriffsternen“, Gebilde mit welt­um­grei­fenden Kraken, Plakate mit düsteren Mario­net­ten­spie­lern. Oder wie 2016 in der Juso-Kampagne zur Speku­la­ti­ons­stopp-Initia­tive: Eine Kari­katur, in der ein Mann mit klischierter Nase, schwarzen Kote­letten und Hut als Symbol der „inter­na­tio­nalen Finanz­lobby“ fungiert. Als Medien das krasse Bild kriti­sierten, entschul­digten sich die Jung­so­zia­li­sten, entfernten die Kari­katur und schrieben: „Wir werden den Vorfall vertieft behan­deln und sicher­stellen, dass es nie wieder zu so einem Fehler kommt.“

So läuft es meist, wenn man die Linke auf den anti­se­mi­ti­schen Gehalt von Bildern, Denk­mu­stern oder Formu­lie­rungen hinweist. Bloss: Warum sich das beständig wieder­holt, wird selten disku­tiert. Auch im Falle des nun verhan­delten Porträts gab es keine redliche Debatte darüber, warum in einem kurzen Text gleich mehrere anti­se­mi­ti­sche Stereo­type bedient werden.

In den Arti­ku­la­tionen kommt zum Ausdruck, was tief in euro­päi­sche Geschichte, bürger­liche Gesell­schaft und kapi­ta­li­sti­sche Wirt­schaft einge­schrieben ist: christ­liche Tradi­tion, natio­nale Gemein­schaft und die ökono­mi­sche Spal­tung in Produk­tion und Zirku­la­tion, Profit und Zins. Die Linke als kriti­scher Teil dieser Gesell­schaft erzeugt aber beson­dere Bilder und Denk­fi­guren, mit denen sie oftmals glaubt, den Kapi­ta­lismus zu kriti­sieren. Dabei repro­du­ziert sie nicht nur aufge­la­dene Topoi, sondern produ­ziert auch kreuz­fal­sche Vorstel­lungen über den Kapi­ta­lismus. Statt das umfas­sende gesell­schaft­liche Verhältnis zu fassen, werden bestimmte – teils imagi­nierte – „Auswüchse“ darge­stellt und ange­pran­gert: Das Finanz­sy­stem, Geheim­ver­ein­ba­rungen, „Fremd­herr­schaft“ oder beson­ders mäch­tige Personen. Das ist nun kein hand­fe­ster Anti­se­mi­tismus, aber solche Vorstel­lungen erzeugen immer wieder ähnliche Bilder und sie können sich zu einem Welt­bild vermengen. Das folgt aber keinem ausge­bil­deten „Anti­ka­pi­ta­lismus“, wie ihn Chri­stoph Mörgeli in der Welt­woche am Werke sehen will, sondern Vorur­teilen, Affekten und Verein­fa­chungen der gesell­schaft­li­chen Verhältnisse.

Das beste Antidot dagegen wäre, sich syste­ma­tisch mit dem Kapi­ta­lismus, aber auch dessen ideo­lo­gi­schen Folgen ausein­an­der­zu­setzen. Es gäbe genü­gend fundierte Lite­ratur von Linken dazu: Theodor W. Adorno, Jean Améry, Detlev Claussen oder Moishe Postone sind nur einige Autoren, die zugleich aber Kritiker der Linken waren. Mit gutem Grund. Die Linke hat ihre Verstrickungen in diese Gesell­schaft und deren Tradi­tion zu wenig reflek­tiert, so bleiben ihre kriti­schen Inter­ven­tionen oftmals darin befangen. Anti­se­mi­tismus – und das ist an dieser Stelle ein analy­ti­scher Begriff – regi­striert sie vor allem dann, wenn er brachial von rechts formu­liert wird. 

Die rechte Stra­tegie ist ein Problem

Dort hat sich mitt­ler­weile eine Stra­tegie durch­ge­setzt, die man nun in der Debatte um den anti­se­mi­ti­schen Artikel im Tages­an­zeiger beob­achten kann. Die Rechte bewirt­schaftet das Versäumnis der Linken, um sich rein­zu­wa­schen und ihre Agenda zu setzen. Am laute­sten polterten in der „Diskus­sion“ Claudio Zanetti und Chri­stoph Mörgeli, beides lang­jäh­rige Mitglieder der SVP des Kantons Zürich. Diese schal­tete noch 1997 ganz­sei­tige Zeitungs­in­se­rate gegen den „sozia­li­sti­schen und goldenen Inter­na­tio­na­lismus“, ein Begriff, der in der NS-Propa­ganda für „Welt­ju­dentum“ steht. Die Sektion machte immer wieder von sich reden, etwa als Chri­stoph Blocher 2016 die SVP als die „neuen Juden“ ausgab. 2020 warb die SVP Zürich schliess­lich mit dem Berliner Holo­caust-Mahnmal für die „Begren­zungs­in­itia­tive“. Das sind keine Versehen, hier wird bewusst mit Vorur­teil und Tabu­bruch gear­beitet. Eine alte Stra­tegie der Rechten.

Eine beson­dere Stil­blüte produ­zierte die Welt­woche, in der sich nun Mörgeli als aufrechter Ritter gegen den Anti­se­mi­tismus insze­nieren kann. 2018 warnte sie auf einer Titel­seite vor einem „neuen Anti­se­mi­tismus“ in Europa und glori­fi­zierte zugleich Viktor Orban als Segen für den Konti­nent. Der unga­ri­sche Staats­chef spielte in seiner Kampagne gegen George Soros gekonnt auf der Klaviatur des Anti­se­mi­tismus, die auch Chef­re­daktor Roger Köppel einige Nummern später in einem Edito­rial anschlug, als er vom „inter­na­tio­nalen Netz­werk des ameri­ka­ni­schen Links­ak­ti­vi­sten George Soros“ schrieb.

Das soll die linken Probleme nicht klein­reden oder die Verfeh­lungen des Jour­na­li­sten in Abrede stellen, in dessen Text Bilder aus dem auch links tradierten anti­se­mi­ti­schen Fundus einge­flossen sind. Aber es zeigt eines: Mit Redlich­keit hat der rechte Furor nichts zu tun. Viel­mehr handelt es sich um eine Stra­tegie, die eine redliche, um Aufklä­rung bemühte Debatte prak­tisch verun­mög­licht und darum allen schadet – ausser den rechten Drama­turgen. Man sollte ihrem Manöver nicht auf den Leim gehen und statt­dessen die blinden Flecken und Verstrickungen der Linken aus eigener Moti­va­tion reflek­tieren, disku­tieren und zu über­winden versu­chen. Denn das linke Projekt einer Welt ohne Ausbeu­tung und Unter­drückung ist im Gegen­satz zur rechten Volks­ge­mein­schaft univer­sa­li­stisch, zielt auf allge­meine mensch­liche Eman­zi­pa­tion. Anti­se­mi­tismus ist das exakte Gegenteil.


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