Trotz der Ausgangssperren in ganz Kolumbien haben vergangene Woche täglich Millionen Kolumbianer:innen in den grösseren Städten gegen Präsident Iván Duque, sein rechtskonservatives Regime und dessen geplante Steuerreform protestiert. Sogar in den traditionell konservativen uribistischen Staaten fanden Demonstrationen statt, so auch in der Karibikregion. Und obwohl die Regierung nach Tagen des Protestes ihre Steuerreform zurückgezogen hatte und sogar der Finanzminister in der Nacht auf Dienstag zurückgetreten ist, geht der Aufstand weiter.
Alles begann mit der Weiterführung des Generalstreiks: Am 28. April wurde unter dem Slogan „Für das Leben, Frieden und die Demokratie, gegen das neue Mogelpaket Duques und die Steuerreform“ vom nationalen Streikkomitee CNP (Comité Nacional de Paro) zum Stillstand der Betriebe und zu Protesten aufgerufen. Das Streikkomitee ist ein Zusammenschluss aus zivilgesellschaftlichen Organisationen wie beispielsweise dem grössten Gewerkschaftsbund des Landes, der CUT (Central Unitaria de Trabajadores) und der Gewerkschaft CGT (Confederación Nacional del Trabajo). Sie waren es auch, die zum Streik am 21. November 2019 gegen die soziale Ungleichheit und gegen die Politik von Iván Duque aufgerufen hatten.
Wie kam es zum erneuten Protest?
April 2021: Die Pandemie wütet in Kolumbien, die Machthaber:innen sprechen von einer aggressiven dritten Welle. Die ausgewiesenen Zahlen sind die Höchsten seit Beginn der Pandemie, die Auslastung der Intensivstationen liegt in fast allen Städten bei über 90 Prozent, weshalb auf regionaler Ebene verschiedene Ausgangssperren, Wochenend- oder Tagesshutdowns und Ley seca (Alkoholverbot) verhängt werden.
Trotzdem gehen Millionen Kolumbianer:innen auf die Strasse. „Ich denke, die kollektive Erschöpfung wegen der sozialen Ungleichheit und deren vermehrte Thematisierung auf den sozialen Medien haben dazu geführt, dass so viele Menschen am diesjährigen Streik teilnahmen“, sagt Santiago*, ein Graffiti-Aktivist, der in Bogotá lebt. Er denkt, dass durch das Entstehen neuer Nachrichtenportale auf Social Media seit dem letzten Streik mehr Menschen erreicht und mobilisiert werden können. „Sie zeigen, was unsere Medien verstecken“, fügt er an.
Die vermittelte Lage ist erschreckend: Die Pandemie hat in Kolumbien fatale Folgen, rund 3,5 Millionen Menschen sind in die Armut abgerutscht und mit 42,5 Prozent lebt somit fast die Hälfte aller Kolumbianer:innen in Geldnot. Mitten in dieser humanitären und wirtschaftlichen Krise stellt der rechtskonservative Präsident Iván Duque eine Gesetzesänderung vor, die in Wirklichkeit eine Steuerreform ist – schon die dritte während seiner Amtszeit –, mit der er das Finanzloch des Staates stopfen will. Dieses ist aufgrund der Verschuldung für die Bewältigung der Pandemie noch grösser geworden: nämlich umgerechnet 21,4 Milliarden Franken. Der Gesetzesentwurf unter dem Namen „Gesetz für nachhaltige Solidarität“ soll dem Staatshaushalt jährlich insgesamt 25 Billionen kolumbianische Pesos einbringen. Dies entspricht rund 6,15 Milliarden Franken.
Die zurückgezogene Vorlage
Anstatt die Reichen höher zu besteuern oder die Dividendensteuer zu erhöhen, wie von der Opposition verlangt wird, versucht Duque auf Vorschlag von Finanzminister Alberto Carrasquilla, die Kosten der Wirtschaftskrise auf die Mittelschicht und Unterschicht abzuwälzen. So sollen Steuern auf das Einkommen von Kolumbianer:innen, die mehr als umgerechnet 590 Franken monatlich verdienen, erhoben werden. Im Jahr darauf würde dies auf diejenigen ausgeweitet, die umgerechnet 420 Franken monatlich verdienen. Gerade vonseiten der Gewerkschaften hagelte es scharfe Kritik, weil es tiefere Einkommensklassen treffen würde.
Die Gesetzesänderung sieht zudem vor, die Mehrwertsteuer auf Benzin und andere Güter von fünf auf 19 Prozent zu erhöhen. Das Ziel sei es, so die Regierung, dadurch die Subventionen für die ärmsten Haushalte Kolumbiens von sieben auf umgerechnet etwa zwölf Franken monatlich zu erhöhen.
Nach den Bestimmungen des Steuergesetzes sollen zudem mehr als 30 Produkte von der Kategorie der „befreiten“ in die Kategorie der „ausgenommenen“ Waren verschoben werden. Durch die Abschaffung von Steuerrückvergütungen im Produktionsprozess würde dies zu einer Erhöhung der Preise für Fisch, Fleisch, Eier, Milch, Käse, Reis von fünf bis zehn Prozent führen, wie Gewerkschaften kritisieren. Eine Massnahme, die direkt die ärmste Bevölkerung treffen würde.
Geld für Kriegsflugzeuge, aber nicht für die Gesundheit
Für Empörung sorgte Duque, als er einen Monat zuvor den Kauf neuer Kriegsflugzeuge ankündigte. Diese sollten etwa die Hälfte von dem kosten, was die Steuerreform einbringen soll. Darüber hinaus hat die Regierung zuzüglich zu den Kriegsflugzeugen in den letzten Monaten über umgerechnet 200 000 Schweizer Franken in die Anschaffung von Munition und Tränengas für die Anti-Riot-Polizei ESMAD (Escuadrones Móviles Antidisturbios) sowie in Panzer und Transporter für ihren eigenen Schutz investiert.
Auch bei der Beschaffung des Corona-Impfstoffes hatte sich Duque keine Freund:innen gemacht, nachdem er die sehr späte Ankunft der ersten 50 000 Impfstoffdosen wie eine Oscar-Verleihung inszeniert hatte. Dabei reichten die ersten Vakzine nicht einmal für ein Prozent der Bevölkerung. Laut Impfstatistiken vom April dieses Jahres sind von den rund 51 Millionen Kolumbianer:innen bisher nur vier Millionen geimpft.
So erstaunt es auch nicht, nimmt sich die kolumbianische Bevölkerung seit Tagen die Strassen – wenn auch mit einer traurigen Bilanz.
Die zwei Realitäten Kolumbiens
Die kolumbianische Presse spricht nach fünf Tagen Aufstand von 19 Toten und mehr als 200 Verletzten sowie 26 Ermittlungen gegen Polizeikräfte, die beim Machtmissbrauch gefilmt wurden. Die unabhängige Plattform gegen Polizeigewalt Temblores ONG zählt zwischen dem 28. April und dem 4. Mai das Fünffache an Verletzten: Insgesamt 1 443 Fälle von Polizeigewalt gegen Demonstrant:innen und mindestens 31 Tote – die Zahl wird vermutlich weiter steigen. Aufgrund der unkontrollierten Gewalt vonseiten der Sicherheitskräfte hat die Plattform am Freitag den Demonstrant:innen sogar geraten, sich in Sicherheit zu begeben und den Protest abzubrechen.
Insgesamt zu 33 Angriffen auf Medienschaffende soll es laut der Stiftung für Pressefreiheit Flip bis zum Freitag gekommen sein. Der Sender RCN wurde von der Menschenrechtsorganisation Human Rights International abgemahnt, die Presseethik zu wahren, nachdem dieser am dritten Tag des Aufstands Bilder der Proteste in Cali, der Hauptstadt des Departements Valle de Cauca, veröffentlicht hatte und sie damit kommentierte, die Menschen in den Strassen würden Präsident Duques Änderung der Steuerreform feiern. Weder das eine noch das andere ist zu diesem Zeitpunkt passiert.
Was passiert in Cali?
In Cali, der drittgrössten Stadt Kolumbiens, eskalierte die Polizeigewalt gegen die Demonstrant:innen in den letzten Tagen. Die Regierung begann früh, nach wohlbekannter Taktik wie auch schon im September von „Guerillas“ und „Vandalen“ zu sprechen, um so die angewandte Gewalt vonseiten des Staates zu legitimieren und die Proteste zu kriminalisieren.
Warum gerade Cali? „In Cali sind alle Probleme der Armut und der Marginalisierung der Pazifikküste des Landes zu finden“, meinte Luis Fernando Velasco, Senator der Liberalen Partei gegenüber der Zeitung La Semana. Damit spricht er die ganzen Binnengeflüchteten an, die aus den angrenzenden Zonen, in denen der bewaffnete Konflikt nie wirklich aufgehört hat, in die Departementshauptstadt geflüchtet sind, so wie auch die Menschen aus der Pazifikregion, die von der Regierung mehrheitlich vergessen wird. Diese ist in den letzten Jahren zudem extrem gewachsen.
In der Region des Cauca gibt es zudem eine jahrzehntelange Tradition indigener Selbstorganisation. So schloss sich der Indigene Rat mit seinen 127 Autoritäten am ersten Tag dem Aufstand an. Er kündigte an, den Widerstand in verschiedenen Regionen des Landes zu unterstützen. Am Samstag erreichten sie die Departementshauptstadt.
Ausbruch der Gewalt am Freitag
Die Organisation der Menschenrechtsschützer:innen Peace Brigades International kommunizierte an einer Pressekonferenz am vergangenen Freitag, dass im Coliseo Las Americas, einer Sportstätte in Cali, eine Art Gefangenenlager durch Polizeikräfte eingerichtet worden sei und dort mindestens 150 Personen festgehalten würden. Über die Gefangenen sei nichts bekannt, denn Handys seien ihnen abgenommen worden, um jegliche Kommunikation zu verhindern. Insgesamt 97 Organisationen haben sich am Samstag zusammengeschlossen, um die Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Vertreter:innen vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte (IACHR) vorzulegen. Internationale Menschenrechtsorganisationen schlugen während der vergangenen Tage mehrfach Alarm. Das Menschenrechtsnetzwerk Francisco Isaías bezeichnete die Vorfälle in Cali als „Kriegshandlung gegen die Demonstrant:innen“.
Im Verlauf der Aufstände haben Agent:innen der kolumbianischen Polizei sogar auf Vertreter:innen der UNO geschossen, dabei ist aber niemand verletzt worden.
Gewalt eskaliert nach Autorisation des Militärs
Der Bürgermeister von Cali wiederum hat sich am Morgen des vergangenen Montags bei seinen Bürger:innen für seine Handlungen und Kommentare der letzten Tage entschuldigt. Er versprach, für und mit den Bürger:innen zu kämpfen und am gemeinsamen Umzug zur „Reaktivierung der Stadt“ teilzunehmen. Doch nachdem Duque das Militär autorisiert hatte, Schusswaffen auf sein eigenes Volk zu richten, zeigen die sozialen Medien Schreckliches: Mütter weinen um ihre toten Kinder, die vor ihnen auf dem Boden liegen, Polizeikräfte, die auf scheinbar unbeteiligte Passanten schiessen.
Am Tag zuvor wurde einem jungen Mann während einer Instagram-Liveschaltung vor mindestens 50 000 Zuschauer:innen in den Kopf geschossen – offensichtlich durch einen ESMAD-Agenten. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass es sich dabei um den Sohn des Cousins des Bürgermeisters von Cali handelte. Doch die Liste der Menschenrechtsverletzungen kann unendlich weitergeführt werden. Sie ist so lang, das sogar unpolitische Reggaetoneros wie J Balvin auf Instagram darum gebeten haben, die Gewalt gegen die Demonstrant:innen einzustellen.
Gewalt bleibt mehrheitlich unbestraft
Die Staatsgewalt gegen Demonstrant:innen werde im Rahmen des Landesstreiks zur Normalität, schreibt Peace Brigades International auf ihrer Webseite. Alleine seit Entstehung der ESMAD wurden Hunderte Agent:innen wegen Verstössen belangt, im Jahr 2015 alleine wurden von der Generalstaatsanwaltschaft 40 000 Fälle gemeldet, von denen nur 18 zu Verurteilungen geführt haben. Bei einem Vorfall 2005, wie PBI berichtet, wurde ein junger Mann durch einen Agenten der ESMAD umgebracht. Die zwei Täter wurden dieses Jahr beide verurteilt: ein historisches Urteil, doch dafür hat es 15 Jahre gebraucht.
Die Familie von Dilan Cruz, einem weiteren Demonstranten, der während des letzten Nationalstreiks im November 2019 offenbar von einem ESMAD-Agenten erschossen worden war, wartet bis heute auf Gerechtigkeit. Der Fall wird am kolumbianischen Militärgericht behandelt. Erst kürzlich hat die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch den obersten Gerichtshof aufgefordert, ihn an die ordentliche Justiz zu verweisen.
Wie geht es weiter?
Nach dem Rückzug der Steuerreform ist klar: Es braucht eine Lösung. Die altbewährte Strategie, einen absurden Vorschlag zu präsentieren, um dann zu verhandeln, ist grundsätzlich nichts Neues. Doch die Reaktion der Bevölkerung dürfte sich in Zukunft ebenfalls in einer ähnlichen Form wiederholen.
Die Erfahrung zeigt, dass der Regierung und den angekündigten Verhandlungskommissionen nicht zu vertrauen ist. Nach dem Streik im November 2019 hatte das damalige Komitee an einem Verhandlungstisch teilgenommen. Ihre Forderungen – eine Rücknahme der Gesundheitsreform, Vermehrung der Massenimpfungen, Abschaffung der Studiengebühren und Dutzende weitere Punkte – wurden aber bis heute nicht umgesetzt. Francisco Maltés, der Präsident der Central Unitaria de Trabajadores (CUT), kündigte deshalb an, dass die Rücknahme der Reform zwar ein Triumph für die Demonstrant:innen sei, der Streik aber dennoch nicht entschärft werde.
Bei der Frage, ob aus den mehrtägigen Protesten ein nachhaltiger sozialer Aufstand werden könnte, scheiden sich die Meinungen. Die einen meinen, es würde an Kampfgeist fehlen und die Menschen würde sich zu schnell mit mittelmässigen Lösungen zufriedengeben. Andere sagen, aus Kolumbien könnte im Bezug auf die Proteste ein zweites Chile werden. „Wenn Duque nicht zurücktritt, hören wir auch nicht auf“, so der aktuelle Ton in den sozialen Medien.
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