Die Nacht des 7. März ist erfüllt von Lichtern. Im Zentrum von Santiago, auf der Plaza Dignidad, rund um die Statue des chilenischen Generals Baquedano, sind Silhouetten auf den Boden projiziert. Es sind die Silhouetten von Frauen, die von Männern getötet wurden. Die Zahl der Femizide hat sich während der Pandemie in Chile fast verdoppelt. Das Studio Delight Lab organisierte die Lichtinstallation, um am internationalen feministischen Kampftag darauf aufmerksam zu machen.
Der Platz, ursprünglich Plaza Italia, war Treffpunkt bei der Protestwelle von Oktober 2019. Er ist aber auch der Ort, an dem Siege der Fussballnationalmannschaft gefeiert werden — und der Tod von Diktator Augusto Pinochet. Zum 8. März hat sich die feministische Bewegung den historischen Ort genommen.
Die feministische Bewgung ist eine der zurzeit wichtigsten politischen Kräfte in Chile. Sie ist mitverantwortlich für wichtige politische Fortschritte der vergangenen Jahre in dem immer noch katholisch-konservativen Land. Auch an den politischen Umbrüchen im Oktober 2019 war sie massgebend beteiligt. Am 8. März, dem internationalen feministischen Kampftag organisierten verschiedene Gruppen im ganzen Land Aktionen, um auf feministische Kämpfe aufmerksam zu machen.
„Unsere Stimmen, einst stumm, schreien jetzt mit Kraft und Wut“ klingen am Abend des 8. März die Rufe des Kollektivs Las Tesis auf der anderen Seite der chilenischen Hauptstadt, in der Gemeinde Renca. Das Kollektiv wurde mit der Aktion „Ein Vergewaltiger auf deinem Weg“ weltbekannt. In Zürich stellte das feministische Streikkollektiv im Jahr 2020 eine abgewandelte deutschsprachige Version vor. Dieses Jahr hat Las Tesis eine neue Präsentation mit dem Namen „Widerstand oder die Forderung eines kollektiven Rechts“ vorgeführt. Mehr als 40 Künstlerinnen präsentierten eine Installation mit Lichtspielen und Synthesizern.

Die Macht der feministischen Bewegung im sozialen Aufstand
Eineinhalb Jahre zuvor, Valparaiso: Der Oktoberaufstand war bereits in seiner sechsten Woche, als am 20. November 2019 eine Gruppe von Frauen den Verkehr für eine Aufführung lahmlegte. Es war ein Frühlingstag in der Innenstadt. Die Aktivistinnen trugen schwarze Augenbinden und an jeweils einem Handgelenk hatten sie einen grünen Schal gebunden – das internationale Symbol des feministischen Kampfes für das Recht auf Abtreibung. Dann bildeten sie eine Reihe und skandierten gemeinsam: „Das Patriarchat ist ein Richter, der uns bei unserer Geburt verurteilt. Und unsere Strafe ist die Gewalt, die du nicht siehst.“

Das Kollektiv Las Tesis ahnte nicht, dass ihre Aktion an diesem Tag einen Meilenstein für die chilenische und internationale feministische Bewegung markieren würde. Laut der Politikwissenschaftlerin Javiera Arce-Riffo gab die Aktion dem Oktoberaufstand neue Energie und „installierte feministische Forderungen im Kontext der Protestbewegung als einen weiteren Teil des Rufs nach Gleichheit und Gerechtigkeit“.
Die Performance des Kollektivs Las Tesis stellte die Forderungen der Frauen und Dissidenten in die Mitte der Strasse und motivierte Tausende, die Aktion „Ein Vergewaltiger auf deinem Weg“ vor den Polizeistationen durchzuführen. Das Ziel war es, Übergriffe anzuprangern, die sie durch die Polizei erlitten hatten, etwa Entkleidung oder sexualisierte Gewalt.
Feministische Organisationen sind ein wichtiger Teil eines jeden 8. März in Chile. Sie rufen Tausende Frauen zusammen, um gegen ein System zu marschieren, das geschaffen wurde, um sie zu unterdrücken. So ändert zum Beispiel die Coordinadora Feminista 8M jedes Jahr am 8. März die Namen der Metrostationen in Santiago. Im Jahr 2019 wurden die Bahnhöfe nach Frauen benannt, die Opfer eines Femizids wurden. 2021 trugen die Stationen als Aufschriften Parolen von Petitionen, die seit dem Oktoberaufstand an Kraft gewonnen haben. So prangert nun an den Eingängen „Kein:e Migrant:in ist illegal“ und „Anständiger Wohnraum“.

Nuriluz Hermosilla Osorio, eine der Sprecherinnen der Coordinadora Feminista 8M, wies für diesen 8. März auf das Ziel der Organisation hin. „Wir werden die Strasse nicht hergeben, denn das ist die Art und Weise, wie sich dieses Volk auf friedliche Art und Weise erhoben hat. Die Gewalt kommt nicht von uns, sondern von einer Regierung, die auf brutale Weise unterdrückt.“
Eine feministische Verfassung
Eine Errungenschaft der feministischen Bewegung zeigt sich darin, dass sie nach dem Abkommen für eine neue Verfassung mehrere nachträgliche Veränderungen herbeiführen konnte. Das Abkommen für sozialen Frieden und eine neue Verfassung wurde von Regierungs- und Oppositionsparteien in den frühen Morgenstunden des 15. November 2019 unterzeichnet. Kurz nach Beginn des Oktoberaufstands und drei Tage nach einem Generalstreik, der den Präsidenten Sebastián Piñera vor die Wahl stellte: militärische Repression oder Abdanken.

Das Abkommen rettete die Regierung und eröffnete gleichzeitig den aktuellen verfassungsgebenden Prozess. Die feministische Bewegung erreichte daraufhin eine Quotenregelung bei der Ausarbeitung der neuen Verfassung. Am 24. März 2020 veröffentlichte das Amtsblatt den Nachtrag, welcher bewirkt, dass nun gleich viele Männer und Frauen die Verfassung schreiben werden.
Das Interesse der Feministinnen, am verfassungsgebenden Prozess teilzunehmen, zeigt sich heute in der Vielfalt der Kandidatinnen, die sich auf einen der 155 Sitze für Frauen beworben haben, um am Verfassungskonvent teilzunehmen – dem Gremium, das für die Ausarbeitung der neuen Magna Carta verantwortlich ist –, das von den Chilen:innen am 11. April gewählt wird.
Eine von ihnen ist die Trans-Aktivistin und feministische Anwältin Constanza Valdés, die einen wichtigen Weg in der Verteidigung der Frauenrechte und der Trans-Gemeinschaft eingeschlagen hat. „Die neue Verfassung muss eine feministische Perspektive haben. Sie soll einen viel robusteren Schutz von Frauenrechten garantieren und wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von Frauen sichern können“, erklärt sie.
Die Schulden des Staates
Die feministische Bewegung in Chile ist so alt wie das Land selbst. Die Forderungen und Ansprüche haben sich im Laufe der Zeit verändert und in jeder Epoche wurden andere grundlegende und wesentliche Rechte durchgesetzt.
Dennoch hinkt Chile hinsichtlich der Übernahme von wichtigen Themen der feministischen Bewegung internationalen Entwicklungen hinterher. Die Schreie nach Gerechtigkeit sind mittlerweile so laut, dass der Staat nachziehen muss und regelmässig neue Gesetze zum Schutz von Frauen verabschiedet.
Ein konkretes Beispiel: Im Laufe des Jahres 2018 wurde der Fall von Gabriela Alcaíno bekannt, einem 17-jährigen Mädchen, das von ihrem Ex-Partner ermordet und vergewaltigt wurde. Anschliessend ermordete er ihre Mutter, Carolina Donso. Doch das Gesetz wertet einen Mord nur als Femizid, wenn der Täter ein Ehepartner, Ex-Ehepartner oder aktueller Partner des Opfers ist. Der Mord an Gabrielas Mutter Fall war in den Augen des Gesetzes also kein Femizid. Der Schock über den Tod von Gabriela und ihrer Mutter sowie die Hunderte von Frauen, die Gerechtigkeit forderten, haben mittlerweile dazu geführt, dass der chilenische Kongress Änderungen des Femizidgesetzes verabschiedete, die neu auch solche Fälle als Femizide werten. Zudem wurden die Strafen erhöht.

Ein Jahr zuvor wurde in Chile das Abtreibungsgesetz geändert. Im Fall von Vergewaltigung, Lebensgefahr für die Mutter oder bei einem Fötus ohne realistische Überlebenschancen darf seither abgetrieben werden, was vorher noch nicht möglich gewesen ist. Chile ist damit eines der letzten Länder in Lateinamerika, dass den therapeutischen Schwangerschaftsabbruch als reproduktives Recht anerkennt. Der erste Schritt in Richtung Entkriminalisierung des freiwilligen Schwangerschaftsabbruchs wurde zum grossen Sieg der Frauen mit den grünen Schälern in Lateinamerika, obwohl das weit hinter den eigentlichen Forderungen der Bewegung zurückbleibt.
Jedes Jahr am 25. Juli verwandelt sich deshalb die Hauptschlagader Santiagos in ein Meer von Frauen, die unter dem Slogan „Drei Gründe sind nicht genug“ für eine freie, sichere und kostenlose Abtreibung demonstrieren.

Der feministische Kampf in den letzten Jahren führte laut der Anwältin Javiera Canales von der feministischen Beratungsstelle, dem Verein Miles, zu „einem grösseren Bewusstsein bei Frauen, sexuelle und reproduktive Rechte als Bestandteil der eigenen Rechte einzufordern“.
Dies geschah nicht zuletzt auch dank Studentinnen. Im Mai 2018 besetzten diese ihre Studienhäuser, um Räume für nicht-sexistische Bildung und frei von sexistischer Gewalt zu fordern. Sie erreichten, dass die Universitäten Massnahmenprotokolle einführten, um Beschwerdeführer:innen von geschlechtsspezifischer Gewalt zu schützen. Studentinnen verschiedener Universitäten schlossen sich zusammen, bildeten Gruppen, organisierten Interventionen an ihren Universitäten und stellten vor allem den Institutionalismus infrage, der sie unterdrückt.
Ein langer Weg
Am 8. März 2021, vier Jahre nach der Legalisierung der Abtreibung in drei Fällen, gingen die Chileninnen ein weiteres Mal auf die Strasse. Es war ein Fest der Freude und Wut gegen eine Gesellschaft, die sie nicht schützt, sondern unterdrückt und angreift. Am Ende des Tages tat der Staat genau dies: Der friedliche Protest auf dem Platz der Würde wurde von mehreren Hundertschaften angegriffen, Wasserwerfer fuhren auf und Tränengasgranaten wurden in die Menge geschossen. Auf der Alameda, der Hauptstrasse Santiagos, ritten die Carabineros auf Pferden und schlugen mit Schlagstöcken auf die Anwesenden ein. Die Gewalt, die von Las Tesis mehr als ein Jahr zuvor angeklagt wurde, zeigte sich abermals in aller Pracht.

Aus dem Spanischen von Malte Seiwerth.
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