Houston, Texas, August 1992. George H. W. Bush befindet sich mitten im Wahlkampf für seine Wiederwahl als 41. Präsident der Vereinigten Staaten. Für die Eröffnungsrede der Vollversammlung der republikanischen Partei betritt Pat Buchanan die Bühne. In den Monaten zuvor war er als möglicher Kandidat an Georg H. W. Bush in den parteiinternen Vorwahlen gescheitert. Buchanan wird sich in seiner halbstündigen Brandrede über Abtreibungen auf Bestellung [sic!], über die Rechte von Homosexuellen und über Frauen im Militär echauffieren. Er wird sich über die DemokratInnen und über radikale Liberale aufregen. Und er wird einen Krieg ausrufen, der sich an den Fronten der sexuellen Orientierung, der Identität und der Populärkultur abspielen soll.
Pat Buchanan gibt am 17. August 1992 den gesellschaftlichen Verwerfungen, die bereits in den 60er-Jahren von Vizepräsident Sprio Agnew ausformuliert wurden, den Namen „Kulturkrieg“. Es ist ein Krieg, der bis heute die politische Realität in den Vereinigten Staaten massgeblich bestimmt – und in dessen Schützengräben heute eine obskure Gruppe von männlichen Online-Usern Stimmung gegen Frauen, Männer und Multikulturalismus macht. Die Gruppe gibt sich den Namen „Incel“ – ein Begriff, der eigentlich einmal Ausdruck der Interneteuphorie der 90er-Jahre war und nichts mit den heute ausufernden Diskriminierungen am Hut hatte.
Unfreiwillig im Zölibat
Es sind nämlich nur wenige Jahre seit Buchanans Brandrede vergangen, als sich eine kanadische College-Studentin entscheidet, ihren Mangel an sexuellen Erfahrungen auf einer Homepage zu thematisieren. Sie gründet 1997 eine Mailingliste mit dem Titel „Alana’s Involuntary Celibacy Project“, welche Menschen mit unbefriedigendem Sexleben eine Plattform für Austausch und Trost bieten soll. Wir befinden uns mitten in der Phase des Cyber-Utopismus. Es herrscht der Glaube vor, dass Internetcommunities einen emanzipatorischen Einfluss auf die Gesellschaft haben werden, dass hierarchische Strukturen zu einem Ding der Antike werden und durch den Cyberspace die demokratische Partizipation und Gleichheit aller mit Internetzugang gestärkt werden kann.
Diesem naiven Optimismus verfällt auch Alana: Das Internet hatte ihr geholfen, ihre eigene Sexualität zu finden. Durch den Internetzugang erfuhr sie, dass sie sich nicht nur von Männern, sondern auch von Frauen angezogen fühlt. Warum also sollte das Internet nicht auch andere befreien?
Gegen die zweite Welle des Feminismus
Doch Alana fällt bald auf: Obwohl die Seite seit ihrem Launch 1997 von Männern und Frauen gleichermassen besucht wird, sind es vor allem die Männer, die sich ständig über ihre fehlenden romantischen Erfahrungen beklagen und betont feindlich auftreten. 2004 gibt Alana ihre Homepage an eine unbekannte Person weiter – erst zehn Jahre später wird ihr die Sprengkraft der Incel-Community bewusst werden. Längst hatte sich die Gruppe auf Foren wie Reddit, 4chan, 8chan und incel.me ausgebreitet. Inzwischen ist sie zu einer Gruppierung geworden, die sich Alanas Wortschöpfung nicht nur angeeignet und exklusiv vermännlicht, sondern auch pervertiert hat.
Das passte zur allgemeinen Stimmung, die sich gegenüber dem sogenannten Second-Wave-Feminismus in den 1990er-Jahren breit macht. Hatte sich die Männerrechtsbewegung am Anfang noch parallel zum Feminismus entwickelt, identifizierten Feministinnen und Journalistinnen wie Susan Faludi in den 90er-Jahren eine zunehmend heftige Reaktion der Medien und Männer gegen feministische Forderungen. Als ob sie sich anschickten, die These von Faludi’s Buch Backlash: The Undeclared War Against American Women aus dem Jahr 1991 zu bestätigen, schrieben männliche Autoren wie Warren Farrell (1993) oder Neil Lyndon (1992) gegen den „Mythos von männlichem Privileg“ und „das Versagen des Feminismus“ an und fanden bei einer wachsenden Leserschaft Anklang.
Die Frauenbewegung wurde von den Medien, Politikern und Männerrechtsbewegungen zum wahren Feind der Frauen erklärt. Diese antagonistische Haltung gegenüber den fundamentalsten Forderungen der Frauenbewegung hat sich bis heute gehalten. In den anonymisierten Foren der modernen Incel-Community wird der Antifeminismus mit Memes und erratischen Diskussionen ausgelebt. Getrieben wird das ganze durch die zweite Cyber-Utopie, welche die freie Meinungsäusserung und die Community ins Zentrum stellt. JedeR soll sagen können, was er oder sie will – anonym und mit grosser Reichweite.
Incels: Zwischen Verzweiflung, Hass und Selbstmitleid
Spätestens aber die Amokfahrt von Toronto vom 23. April 2018 verdeutlichte, dass sich die Incel-Community zu einer potenziell gefährlichen, dezentralen Bewegung entwickelt hat. Der 25-jährige Amokfahrer Alek Minassian, der mit seinem Lieferwagen 10 Menschen tötete und 15 weiter verletzte, hinterliess ein Bekennerschreiben, welches sich wie ein Shout-out an die Internetgemeinde liest: „Die Incel-Rebellion hat bereits begonnen! Wir werden die Chads und Stacys stürzen!“
Wie so oft im Internet, bedient sich auch die Incel-Community einer eigenen Sprache. Männer, die sexuell aktiv sind, werden „Chads“ genannt. Attraktive, ‚hyperfeminine‘ Frauen gelten als „Stacys“. Durchschnittliche Frauen erhalten hingegen die Bezeichnung „Beckys“. In der inneren Logik der Community monopolisieren Chads das sexuelle Spielfeld, indem sie einen Harem von Stacys und Beckys um sich scharen – mit der Konsequenz, dass die „Dickcels“ (Incels mit einem kleinen Penis), „Mentalcels“ (Incels mit einer psychischen Krankheit) und „Currycels“ (Indische Incels) dieser Welt zu einem Leben ohne Geschlechtsverkehr verdammt sind. Wer das realisiert, der hat – in Anlehnung an die berühmte Matrix-Metapher – die „Blackpill“ geschluckt. Schon die Alt-Right-Bewegung bediente sich mit dem red pilling derselben Popkulturreferenz.
Viele in der Incel-Community sind auch in Suizid- oder Drogenforen aktiv, einige stehen offen zu ihren psychischen Krankheiten. Das passt durchaus zur inneren Logik: Entweder akzeptiere man dann sein Schicksal („cope“) oder man beendet sein Leben („rope“).
Alex Minassian rief in seinem Manifest zu einer Revolution gegen die Chads und Stacys auf – und widmete seine Bluttat gleichzeitig Elliot Rodger, der 2014 sechs Menschen an der University of California tötete. Wie schnell bekannt wurde, war Rodger Teil verschiedener Onlinecommunities der „Manosphere“ – dem losen Internetnetzwerk, welches neben Blogs rund um Männer- und Vaterrechtsanliegen auch die Incels und Pickup-Artists beheimatet. Aus seinen Beiträgen wurde klar, dass die Gründe für sein Massaker in einem tiefgreifenden Hass gegenüber Frauen verwurzelt sind.
Von den amerikanischen Leitmedien wurde sein Internetleben als Symbol einer neuen Art von Frauenhasses diskutiert – in der Welt der Incels wurde er zum Märtyrer hochstilisiert. Aber auch in der Schweiz wurde im Nachzug des Toronto-Attentats das Phänomen durchdekliniert. Der Tages-Anzeiger diskutierte den „Terror aus Frauenhass“ und Watson titelte stilvoll: „Die Rebellion der ungefickten Männer kommt aus dem Internet! Ein Experte erklärt ‚Incel‘“ .
Mehr als Frauenhass
Gerade letzteres Beispiel steht stellvertretend für die oberflächliche Betrachtung des Phänomens. Klar, der Fokus auf die frauenverachtende Ideologie der Incels ist wichtig – und nur verständlich, wenn man auf Reddit, 4chan, incels.me und lookism.net Posts wie diesen liest: „My fantasy is a sexually repressed virgin wife. We would fuck like there’s no tomorrow to get all that sexual repression out, and virgin brides have been shown to be extremely loyal because she doesn’t have anyone else to compare you with sexually.“
Doch so berechtigt die Kritik und Empörung über solche Posts auch ist, darf nicht vergessen werden, dass Frauenhass im Internet keine Eigenheit der Incel-Community ist. Vielmehr ist er eine Realität, mit der alle Frauen, die in irgendeiner Form online eine Meinung äussern, konfrontiert sind. Als Anita Sarkeesian, eine Feministin und selbsterklärte Videospieleliebhaberin, ein Projekt zur feministischen Analyse der Game-Industrie startete, wurde sie monatelang mit Morddrohungen und Hackangriffen bombardiert. Die Kontroverse ging als #Gamegate in die Internetgeschichte ein. Eine Studie der Internetsicherheitsfirma Norton aus dem Jahr 2016 zeigt, dass 76% aller Frauen unter 30 Jahren Belästigungen im Internet erlebt haben. Unsere Gesellschaft laufe Gefahr, dass die Schikanierung von Frauen im Internet zur Norm werde, so das Fazit der Studie.
Die einseitige Konzentration auf den Frauenhass in der Incel-Community lässt den Sexismus als Phänomen einer dunklen Ecke des Internets erscheinen. Dabei gehören frauenverachtende Kommentare zur leidigen Realität von Kommentarspalten, Blogeinträgen und Internetforen.
Die Ideologie der Incels ist intersektional – sie verbindet wahlweise rassistische und sexistische Ansichten, verbreitet Verschwörungstheorien und untergräbt die politische Korrektheit. Was aber die meisten Leitmedien – und Incels – nicht verstanden haben, ist die Tatsache, dass im Zentrum der Community vor allem das Scheitern an Männlichkeitsidealen steht. Weil sich viele der Medienberichte ausschliesslich auf die frauenverachtenden Kommentare konzentrierten, geht oft vergessen, dass sich ein grosser Teil der Diskussionen in Tat und Wahrheit um das Aussehen und Verhalten von Männern dreht. Und das erschwert die Analyse des Phänomens.
Scheitern am Patriarchat
Während der klassische Onlinesexismus oft als eine chauvinistische Gegenreaktion auf die sensible linke Onlinekultur erklärt wird, zeichnen sich die Mitglieder der Incel-Community vor allem durch ihre ausgeprägten und öffentlich diskutierten und bebilderten Minderwertigkeitskomplexe aus. Unter dem Hashtag #amiugly laden Incels Bilder von sich hoch und lassen sich von anderen auf einer Skala von eins bis zehn bewerten. Wer in den Augen der Community zu hübsch für das Incel-Dasein ist, wird als „Volcel“ – voluntary celibate – abgestempelt. Immer wieder werden Schönheitsstandards, welche die Gesellschaft an Männer stellt, diskutiert. Incels sehen sich als Opfer einer Gesellschaft, in der starre Männlichkeitsideale und deren Vertreter – die Chads dieser Welt – das sexuelle Spielfeld dominieren. Ihnen, die angeblich aus diesem Raster fallen, werde der Zugang zu sexuellen Erfahrungen verwehrt.
Hier liegt die tragische Ironie der Incel-Community. Die Männer, die sich als Incels bezeichnen, scheitern an den Männlichkeitsbildern der patriarchalen Gesellschaft und wähnen sich in einem sozialen Abseits, fern von Sex und Vergnügen, aber auch fern von Liebe, Zärtlichkeit, Treue und Beziehungen. Gepaart mit der Anonymität eines Reddit-Forums und weit verbreitetem Frauenhass und Rassismus im Internet verwandelt sich diese begründbare Frustration in latenten Hass gegen Frauen und ethnische Minoritäten – ironischerweise also genau gegen jene Menschen, die ihrerseits unter dem Patriarchat und gesellschaftlicher Normierung leiden. Anstatt sich etwa mit Trans*menschen, afro-amerikanischen Frauen oder körperlich Behinderten zu solidarisieren, stimmen die Incels in den patriarchalen Kanon ein.
Die Berichterstattung nach dem Attentat in Toronto ignoriert diese zentrale Dimension der Ideologie – und feuert mit den simplifizierten Schlagzeilen den Frust und das Gefühl der Einsamkeit der Incels weiter an.
27 Jahre Kulturkrieg – und es gibt nur VerliererInnen
Am 17. August 1992 rief Pat Buchanan den Kulturkrieg aus. Er dauert bis heute an und ist toxischer und gefährlicher denn je. Der Tenor ist schärfer, die Fronten sind verhärtet, und die Schützengräben liegen im dezentralen Internet. Heute nehmen die kulturellen Verwerfungen eine zentrale Rolle ein in der Politik. Stimmung gegen angeblichen Genderwahn und politische Korrektheit gehören längst auch in der Schweiz zum politischen Alltag.
Zumindest für viele Frauen hat das Internet seine Versprechen nicht gehalten. Es wurde zu einem feindlichen Ort. Wer seine Stimme erhebt, wird meist mit wüsten Beschimpfungen abgekanzelt. Der Frauenhass scheint spätesten seit #Gamergate zur DNA des Internets zu gehören. Gleichzeitig hat die Distanzierung der Männerrechtsbewegung vom Feminismus Ende der 90er-Jahre dazu geführt, dass viele verzweifelte Männer ihre Sorgen nicht mehr in einer strukturellen Kritik, sondern als Gegenposition zur Frauenrechtsbewegung äussern. Wenn überhaupt jemand davon profitiert, dann vielleicht selbsternannte Pickup-Artisten — mit ihren kostenpflichtigen Strategien für mehr Sex — und die alternative Rechte.
Die Incel-Community ist ohne Zweifel rassistisch, sexistisch und für jedeN, der nicht bereit ist mitzumischen, ein Minenfeld aus Beleidigungen und Gewaltdrohungen. Gleichzeitig beschränkt sich die Gewalt in den allermeisten Fällen auf die (fast ausschliesslich männlichen) Foren. Wer sich intensiver mit dem Phänomen auseinandersetzt, wird merken, dass eine Vereinfachung der Community und deren diskussionslose Verurteilung den Kulturkrieg weiter anfeuern wird. Damit man die Ängste und Probleme der Incel-Community verstehen kann, muss man über die Kriegsgräben hinausschauen. Und genau das haben wir gemacht. Wir haben mit einem Schweizer Incel gesprochen und ihn porträtiert.
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