„Wenn hesch s’erscht mal?“ Innerhalb der Incel-Community, auf den Diskussionsforen von Reddit oder Incels.me wäre diese Frage ein rotes Tuch. Denn die Männer, die sich als unfreiwillig zölibatär bezeichnen, definieren sich über genau dies: ihre Jungfräulichkeit. Jungfräulichkeit, ist das nicht ein alter Zopf? Und warum wird dieses veraltete Konzept gerade von einer Gruppe von Männern online aufgegriffen?
Von Göttinnen zu unterjochten Frauen
Jungfräulichkeit, wie wir sie heute kennen, ist ein Mythos. Am Anfang dieses Mythos steht eine Schöpfergöttin, welche in den Mythologien einiger Frühkulturen in unterschiedlicher Gestalt immer wieder auftaucht. Ohne männliche Beihilfe kreiert sie den Kosmos aus sich selbst heraus. Auf sie zurückzuführen sind etwa die göttlichen Jungfrauen der griechischen Mythologie: freie, mächtige Frauen, selbstbestimmt und Herrinnen über ihre Körper.
Die jungfräuliche Ehefrau, die unreine Nicht-Jungfer – das alles kam erst viel später hinzu und bestimmt seither mal mehr mal weniger das Narrativ. Lange war die jungfräuliche Eheschliessung eine Selbstverständlichkeit. Mehr noch: Das Recht zementierte das Konzept. Wenn die Frau in der Hochzeitsnacht nicht blutete, war das ein legitimer Grund, die Ehe wieder aufzuheben. Jungfräulichkeit als Druckmittel gegen Frauen besteht bis heute weltweit fort.
Riten, Realität und die Qualität einer Frau
Heute ist die traditionelle Vorstellung des Hymens als zu durchstechendes Häutchen vor dem Muttermund wissenschaftlich widerlegt. Das Konzept der Jungfrau hält sich jedoch fest in unserem Alltagsbewusstsein – von der schulischen Aufklärung bis zur Pornokategorie. Auffällig bei dieser Tradierung: Jungfräulichkeit ist ein exklusiv weibliches Konzept. Im Diskurs um die „Entjungferung“ scheinen Objekt und Subjekt klar gesetzt: Die Frau wird entjungfert, penetriert. Der Mann hingegen ist das Subjekt: Er entjungfert. Was passiert, wenn sich diese Rollen wandeln, wenn ein Mann durch eine Frau entjungfert wird? Gibt es das überhaupt, die männliche Jungfrau? Eine schnelle Onlinesuche zeigt: Nicht wirklich. Abgesehen von ein paar Blogeinträgen dreht sich fast jeder Artikel, so emanzipatorisch und aufgeklärt er auch daherkommt, um die jungfräuliche Frau.
„Bei Männern fehlt schon rein historisch der Ritus“, sagt die Psychiaterin und Psychotherapeutin D.D., welche ihren vollen Namen aus Respekt vor ihren PatientInnen, mit denen sie solch heikle Themen diskutiert, zurückhalten möchte. „Der erste Samenerguss ist nicht mit dem bisschen Blut gleichzusetzen, das beim ersten unbeholfenen Sex eventuell auf dem Laken landet.“ Jungfrau kann ein Mann laut gesellschaftlichem Bewusstsein nur dann sein, wenn er zwischen dem 24. August und dem 23. September geboren wurde. Der Mann, der noch keinen Sex hatte, ist aufgrund des Mangels einer Bezeichnung und einer Konzeptualisierung dagegen unsichtbar.
„Ich erlebe Jungfräulichkeit als ein grosses Thema, aber es wird ausschliesslich auf Frauen bezogen. Es ist dann quasi ein Qualitätsmerkmal“, erzählt die Sozialpädagogin J.O, die ebenfalls nicht mit ihrem vollen Namen zitiert werden möchte. „Viele junge Männer, mit denen ich arbeite, fällen eine Unterscheidung zwischen Frauen, mit denen sie Sex haben, und solchen, mit denen sie eine Beziehung führen möchten. Letztere sollten dann Jungfrau sein.“ Sexualpädagoge Fedor Spirig von S&X Luzern, der Fachstelle für Sexuelle Gesundheit Zentralschweiz, teilt diese Erfahrung: „Wenn das Thema aufkommt, dann ist es weiblich konnotiert. Es geht fast exklusiv um Frauen und oft um Unberührtheit, Besitz und Wert.“
Schäme dich, Jungfrau! Oder rede wenigstens nicht darüber.
Die Onlinesuche zeigt auch: Wird von männlichen Jungfrauen gesprochen, dann nur mit dem Ziel, diesen ‚Zustand‘ möglichst schnell zu beheben. Eine echte Diskussion findet nicht statt. Stattdessen gibt es Tipps, Tricks – und ein bisschen Mitleid.

Das Konzept Jungfrau ist ein Konzept der Scham und der Ab- oder Ausgrenzung. Für Frauen ist es schamvoll, die Jungfräulichkeit zu früh oder an den Falschen/die Falsche zu verlieren. Für Männer ist es schamvoll, sie nicht abzulegen. „Beim Thema Jungfräulichkeit erlebe ich besonders bei jungen Männern eine doppelte Scham“, erzählt Psychotherapeutin D.D.: „Die Scham, über keine sexuellen Erfahrungen zu verfügen, und die Scham, über diese fehlenden Erfahrungen zu reden.“ Sexualpädagoge Spirig relativiert: „Bei Jugendlichen ist die Scham prinzipiell natürlich stärker, aber generell gilt doch in unserer Gesellschaft: Keinen Sex oder keine Beziehung zu haben, ist ein schwieriges Thema – auch für Erwachsene. Abweichungen von dieser Norm werden eher negativ bewertet. Das kriegen dann natürlich auch junge Erwachsene mit.“
„Jungfräulichkeit ist bei jungen Männern kaum ein Thema“, sagt der Jugendpsychologe Armin Kunz. „Es geht vor allem darum, wer sein erstes Mal schon hatte und wer nicht. Eine sorgfältige persönliche Auseinandersetzung mit der Thematik erlebe ich sehr selten.“ Sexualpädagoge Spirig teilt diese Erfahrung: „Männliche Jungfräulichkeit ist in Gesprächen eigentlich inexistent. Fragen dazu, ob Jungs entjungfert werden können, habe ich in 10 Jahren Tätigkeit maximal fünfmal gehört.“
Die fehlende Auseinandersetzung erlebt auch Sozialpädagogin J.O.: „Ganz junge Männer reden manchmal offen über Unsicherheiten und stellen Fragen dazu, aber ab 15 wird das Thema eigentlich nicht mehr angesprochen.“ Weil das Durchschnittsalter für den ersten Sex in der Schweiz bei 17 Jahren liegt und die Varianz naturgemäss gross ist, entsteht ein Vakuum. Wohin mit der Verunsicherung, wenn nicht darüber gesprochen werden kann?
Dass der Stellenwert der ersten sexuellen Erfahrung so hoch ist, sei ein Abbild unserer Gesellschaft, meint Sexualpädagoge Spirig: „Der erfolgreiche Mensch hat früh und viel Sex, Sex ist ein Statussymbol.“ Da sich eine aktive Sexualität jedoch auch mit fortschreitendem Alter nicht von alleine ergibt und kein gesichertes Anrecht darauf besteht, wie es in manchen Incel-Foren verlangt wird, entsteht eine Diskrepanz, die letztendlich in Neid umschlagen kann.
Jungfräulichkeit, Macht und eine grosse Klappe
Wenn Sex ein Gut und sexuelle Aktivität beneidenswert ist, dann ist der Diskurs um die Jungfräulichkeit auch ein Diskurs um Macht. Um die Macht eines (Hetero-)Mannes über eine Frau – und um die Verteilung der Macht unter den (Hetero-)Männern. Letzteres ist vor allem bei Pubertierenden ein Problem: „Sexuell bereits aktive Männer werden in der Regel beneidet“, resümiert Kunz. „Dabei spielt es keine Rolle, ob die Geschichten, die herumerzählt werden, wahr sind.“ Bei vielen Jungs merke man, dass sie einfach eine grosse Klappe haben und den anderen nacheifern wollen, sagt der Jugendpsychologe.
Diese Angeberei ist nicht so harmlos, wie sie den Anschein macht. „Normierte Vorstellungen in Kombination mit gegenseitigem Bluffen führen zu schwierigen Dynamiken“, weiss Psychotherapeutin D.D. . Das Problem liegt also eigentlich bei den anderen Männern und nicht bei den Frauen, möchte man irgendwie in die Incel-Community hineinrufen. „Diese Foren sind die Essenz und Ausdruck einer maskulinen Kultur, die problematisch ist“, hält Spirig fest.
Dann seid doch wenigstens nicht scheisse zueinander
Bedienen sich die Incels mit Verweis auf ihre unfreiwillige Jungfräulichkeit also eines Stellvertreterkonzepts für etwas ganz anderes? Oder ist ihre Aggressivität und ihr Hass mitunter eben auch Ausdruck der Tatsache, dass sie einer gesellschaftlich totgeschwiegenen, aber realen Gruppe angehören? Wieso begibt sich diese Gruppe dann nicht in einen offenen Dialog über toxische Männlichkeit und den Druck, sexuell aktiv zu werden, statt online zu hassen und einander von der Minderwertigkeit der eigenen Gruppe zu überzeugen?

„Eine Studie aus Deutschland zeigt, dass der Wunsch von Jugendlichen nach Sexualaufklärung durch Eltern oder Schule eher abgenommen hat, eine Mehrheit der Jungen möchte den Informationsbedarf zu Sexualität am liebsten via Internet decken,“ sagt Spirig. Der Austausch mit Gleichgesinnten online könnte im besten Fall Informationen und Zuspruch bieten. Doch statt sich gegenseitig aufzubauen, trampeln die Incels aufeinander herum. Sie bewerten ihr Aussehen und ihre Penislängen mit dem einzigen Ziel, eine möglichst einfache Erklärung für ihre Jungfräulichkeit zu finden. Das Konzept per se, der Druck an sich, die Problematik des Stigmas wird nicht thematisiert.
Ein fehlerhaftes Konzept ist keine Entschuldigung
Jungfräulichkeit ist ein Konzept, welches seit Jahrtausenden dazu verwendet wird, Frauen zu unterdrücken und ihre Körper zu kontrollieren. Wenn dieses Konzept von einer Männergruppe dahingehend verklärt wird, dass es sich wiederum in Misogynie und Gewalt entlädt, dann verdeutlicht dies eine Problematik, die das unvollständige Konzept der Jungfräulichkeit übersteigt. Dass dieses Konzept von der Incel-Community als Alleinstellungsmerkmal begriffen wird, verweist auf den konservativen und unaufgeklärten Grundton, der sich in diesen Foren findet.
Die Annahme liegt nahe, dass die meisten Incels mit weit mehr zu kämpfen haben als mit ihrer Jungfräulichkeit. Diese dient bloss als Deckmantel für etwas, was mit keinem Mass an sexueller Erfahrung wett gemacht werden könnte. Trotzdem sollten wir uns alle von der Jungfräulichkeit als Konzept verabschieden und so als Gesellschaft diesem kruden Weltbild nicht in die Hände spielen. Jungfrauen sind Wesen aus der Mythologie. Sie gehören, wenn überhaupt, in Horoskope und Sternbilder – nicht in die Mitte des gesellschaftlichen Diskurses über Sexualität, nicht in eine Waagschale menschlicher Werte und Tugenden. Und erst recht nicht in einen gesellschaftlichen Graubereich zwischen extremistischer Misogynie und Selbstmitleid.
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