Im Nachhinein ist es meist relativ klar, wie eine spezifische Aktion im Sinne zivilen Ungehorsams zu beurteilen ist: Gerade feiert der Ungehorsam der Kieler Matrosen sein hundertstes Jubiläum. Diese weigerten sich gegen Ende des Ersten Weltkriegs, in eine aussichtslose Schlacht zu fahren, unter anderem weil Waffenstillstandsverhandlungen bereits absehbar waren. Damit trugen sie zum Niedergang der deutschen Monarchie bei und ebneten den Weg für Friedensverhandlungen, die zum Ende des Ersten Weltkrieges führen sollten. Mehrere dieser Matrosen wurden damals verhaftet. Viele betrachteten die Matrosen als Gesetzesbrecher, Verräter und illegales Gesindel. Dass die Verweigerung der Matrosen aber vielmehr mutig und klug war, würde im Nachhinein betrachtet wohl kaum jemand bestreiten.
Weniger einfach ist es hingegen, im Moment der Geschehnisse selbst darüber zu urteilen, ob ein solcher militärischer oder – wie im Fall der Kohlegegner*innen vom Aktionsbündnis Ende Gelände – ziviler Ungehorsam gerechtfertigt ist oder nicht. Es braucht schon ziemlich triftige Gründe, um auf eine legitime Weise zu einer solch starken Form des Protestes zu greifen. Denn grundsätzlich sind wir ja alle froh, wenn sich unsere Mitmenschen an die Gesetze halten, mit denen wir unser Zusammenleben regeln.
Was sagt RWE dazu?
Nachdem wir die ungehorsamen Kohlegegner*innen bereits in einem vergangenen Artikel gefragt haben, wie sie ihre illegalen Handlungen rechtfertigen, wollte das Lamm nun auch die Meinung der Gegenseite hören. Das Management des Energieriesen RWE hat sich bereits klar gegen die Proteste von Ende Gelände positioniert. Die Frage, ob man das Blockieren der eigenen Gleise legitim fände oder nicht, erübrigt sich also. Aber: Was bräuchte es dann, damit man bei RWE sagen würde, „0k, die Proteste richten sich zwar gegen uns, aber so ganz unrecht haben die nicht, vielleicht lassen wir das mit der Braunkohle doch besser bleiben, und zwar schnell“? Wir haben bei RWE nachgefragt:
Guten Tag
[…] Ich bin an einem Artikel über zivilen Ungehorsam dran. Unter anderem im Zusammenhang mit den Ende Gelände-Aktionen. Gerne würde ich von Ihnen wissen, wie Sie über solche Aktionen des zivilen Ungehorsams denken. Die Geschichte ist ja voll mit Leuten, die man zuerst als Gesetzesbrecher verurteilte und später dann aber trotzdem als Helden für ihren Mut zum zivilen Ungehorsam feierte. Zum Beispiel die afroamerikanische Bürgerrechtlerin Rosa Parks, die sich weigerte, ihren Sitzplatz für einen hellhäutigen Passagier freizugeben und damit die Bürgerrechtsbewegung in den USA mitauslöste.Ich selber finde es jedoch sehr schwierig abzuschätzen, wann und wieso es angebracht ist, das Gesetz in seltenen Fällen zu brechen. Meistens ist es ja schon besser, wenn man sich an das Gesetz hält. Es müssen ja schon sehr spezielle Umstände sein, die eine gesetzeswidrige Tat rechtfertigen. Aber welche Umstände sind das genau? Wann, wie und wieso ist ziviler Ungehorsam manchmal gerechtfertigt? Und wann ist es eben gar kein ziviler Ungehorsam, sondern lediglich eine illegale Tat?
Sehr gerne würde ich hierzu auch die Stimme von RWE in die Diskussion einbringen. Deshalb wäre es super, wenn Sie mir erklären könnten, was es für Sie braucht, damit ziviler Ungehorsam gerechtfertigt ist.
Vielen Dank und freundliche Grüsse,
das Lamm
Die Antwort von RWE ist kurz, aber vielsagend:
Sehr geehrtes Lamm,
ich war letzte Woche ausser Haus, daher komme ich erst jetzt dazu, Ihnen zu antworten. Sie stellen hier eine rechtsphilosophische Frage, die ich als Pressesprecherin eines Wirtschaftsunternehmens leider nicht beantworten kann.
Mit freundlichen Grüßen/Kind regards
Die Pressestelle von RWE
Ja, da hat die Pressestelle von RWE Recht. Das ist tatsächlich eine rechtsphilosophische Frage. Eine ziemlich komplizierte obendrein. Und wahrscheinlich fehlt der Pressesprecherin von RWE auch einfach das nötige Know-how, um uns darauf eine qualifizierte Antwort zu geben. Sie ist ja auch Kommunikationsfachfrau und nicht Philosophin.
Haben wir unsere Frage an die falsche Mailadresse geschickt? Kann man überhaupt erwarten, dass ein Konzern sich auf einer solch abstrakten Ebene mit philosophischen Fragen herumschlägt? Bei Überlegungen wie diesen müsste sich die Konzernleitung ja ernsthaft darüber Gedanken machen, ob es gerechtfertigt sein könnte, bei den eigenen Interessen ein wenig zurückzutreten zum Wohle aller – sprich, einen schnellen Kohleausstieg zu unterstützen.
Spontan ist man versucht zu sagen: Nein, das geht eindeutig zu weit. Dabei vergisst man aber, dass von vielen anderen genau solche philosophischen Kompetenzen bereits selbstverständlich eingefordert werden: von den Konsument*innen.
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Ein Stimmungsbild vom Klimacamp von Ende Gelände: „Uns bleibt nur der Körper zum Widerstand.“
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Bericht über den Aktionstag: „Hast du Kinder? Wir tun das nicht nur für uns, wir tun das auch für deine Kinder!“
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Bilder sagen mehr als Worte: Fotoserie zu einem langen Wochenende des Widerstands
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Der Blick hinter die AktivistInnen-Stirn: Der zivile Ungehorsam ist eine Protestform, bei welcher das Gesetz bewusst gebrochen wird. Wie kann man das ok finden? Das Lamm hat die Ungehorsamen gefragt.
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Die Frage nach dem entscheidenden Moment: Was treibt Menschen dazu an, sich trotz Repression, Kälte und Regen aktivistisch für ein politisches Anliegen einzusetzen?
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Wann ist ziviler Ungehorsam angebracht und wann nicht? Das haben wir auch den Energieriesen RWE gefragt, der sein Geld auf Kosten des Klimas verdient. Die Antwort ist kurz aber vielsagend.
Was den Konsument*innen zugemutet wird, sollte auch ein Grosskonzern hinkriegen
Von ihnen nämlich wird diese philosophische Betrachtung ihres eigenen Handelns aus einer Metaperspektive bereits seit langem gefordert. Und auch, dass sie die damit einhergehenden Verzichte und Mehrkosten zum Wohle aller hinnehmen. Sie sollen die Heizung runterdrehen, auf das Fliegen verzichten und vegetarisch essen. Weil damit CO2 eingespart werden kann. Und das ist ok. Denn der Verzicht der Konsument*innen auf einen winterlichen Wohnzimmerabend im T‑Shirt, eine weitere Urlaubsreise nach Neuseeland oder den Schweinebraten auf dem Mittagstisch steht in keinem Verhältnis dazu, was andere ertragen müssen, wenn sie es nicht täten: Hurrikane, Überschwemmungen, Hitzesommer und Umsiedlungen.
Wenn solche Reflexionsleistungen jedoch dem/der Einzelnen zugemutet werden können, sollte ein Unternehmen wie RWE das auch hinkriegen. Denn so, wie jede*r Einzelne mit seinen Konsumentscheiden die Nachfrage steuern kann, beeinflusst RWE mit seinen Produktionsentscheiden das Angebot. Verantwortung für eine nachhaltige Zukunft tragen also beide.
Deshalb wäre es nicht zu viel verlangt, wenn sich auch die RWE-Leitung ein paar philosophische Überlegungen aus der Vogelperspektive leisten würde. Und sich jenseits jeglicher Partikularinteressen überlegen würde, wie schwerwiegend die Folgen des eigenen Handelns sein müssten, damit man bei RWE die Proteste als gerechtfertigt anschauen, Konsequenzen für sein eigenes Handeln daraus ziehen und die damit verbundenen Verzichte oder Mehrkosten hinnehmen würde. Allenfalls müsste man hierzu das RWE-Personal um einen philosophisch ausgebildeten Menschen ergänzen. Der hätte dann auch unsere Frage beantworten können.
Und was ist jetzt die Antwort auf diese rechtsphilosophische Frage?
War der zivile Ungehorsam von Ende Gelände nun legitim oder nicht? Wendet man den Kriterienkatalog (siehe Infobox) des politischen Philosophen Francis Cheneval der Universität Zürich zur Beurteilung des zivilem Ungehorsams von Ende Gelände an, kann man davon ausgehen, dass es den Gleisbesetzer*innen im Tagebau Hambach irgendwann wahrscheinlich einmal so gehen wird wie den Kieler Matrosen.
Denn die Verstromung der Braunkohle durch den Energiekonzern RWE und der dadurch befeuerte Klimawandel bedroht vielerorts die Menschenrechte und schafft schwerwiegende Ungerechtigkeiten. Deshalb fordern die Aktivist*innen den sofortigen Kohleausstieg und mehr Klimagerechtigkeit für alle. Sie kämpfen nicht primär für ihre eigenen Interessen, sondern setzen sich für das Wohl aller ein. Und da die legalen Mittel des Protestes für viele Betroffene sehr begrenzt sind, ist es nachvollziehbar, dass sie dafür die Protestform des zivilen Ungehorsams gewählt haben. Andererseits erfüllt auch die Art und Weise, wie der Ungehorsam umgesetzt wurde, die Kriterien von Cheneval: Die Kohlegegner*innen stellten nicht die Verfassungsordnung als Ganzes in Frage, der Protest wurde öffentlich angekündigt, die Aktionen waren grösstenteils kontrollierbar für Polizei und Aktivist*innen und die eingesetzte Form der Nötigung, also die Besetzung der Gleise, war verhältnismässig.
Wer tatsächlich die Legitimität auf seiner Seite hat, wird uns dennoch erst die Geschichte vollends aufzeigen. Die Mitarbeiter*innen, Manager*innen und Aktionär*innen von RWE wären trotzdem gut beraten, sich bereits jetzt damit zu beschäftigen. Es ist begreiflich, dass es einem schwer fällt, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass die eigenen Partikularinteressen dem globalen Gemeinwohl zuwiderlaufen. Aber wenn man so offensiv darauf hingewiesen wird wie bei den Aktionen von Ende Gelände, wäre es angebracht, einen Moment innezuhalten, einen Schritt zurückzutreten und darüber nachzudenken, was lediglich gut für einen selbst ist und was gut für alle zusammen wäre.
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