"Wenn jeder Rappen umgedreht werden muss, macht das die Menschen krank." - Thomas Näf von der KABBA.

Sozi­al­hilfe: Wenn das „menschen­wür­dige Dasein“ zur Diskus­sion steht

Es war knapp: Rund 53% der Berner*innen lehnten die Kürzungen in der Sozi­al­hilfe ab. Doch der bürger­liche Angriff auf das letzte Siche­rungs­netz der Schweiz geht weiter. Dabei bedeuten Kürzungen beim Grund­be­darf nicht nur weniger Geld für Armuts­be­trof­fene, sondern auch mehr Arbeit für Kirchen und Hilfs­werke. Es stellt sich die Frage: Wozu das Ganze? 

Wenn man erleben will, wie sehr Armuts­be­trof­fene schon heute von zivil­ge­sell­schaft­li­chem Enga­ge­ment abhängig sind, muss man ins Power­point-Inter­net­café nach Bern. „Wissen Sie, was eine Katze ist?”, fragt Thomas Näf die junge Eritreerin, die ihm gegen­über­sitzt. Er hält sich die Hände an die Ohren und mimt einen Kater. „Miau!” Dasselbe wieder­holt er mit einem Hund. Die junge Frau lacht: Ja, sie wisse, was eine Katze ist und nein, sie habe keine Haus­tiere. Weiter gehts, nächste Frage auf dem Bewer­bungs­for­mular. Die Eritreerin ist auf der Suche nach einer Wohnung für sich und ihre Kinder. Thomas Näf, Leiter des Inter­net­cafés Power­point und des Komi­tees der Arbeits­losen und Armuts­be­trof­fenen (KABBA) an der Monbi­jou­strasse in Bern, unter­stützt sie dabei. Das Inter­net­café befindet sich in einem Keller; die Laptops sind auf vier Tischen verteilt. „Alle auf dem neusten Stand!”

Das Komitee für Armutsbetroffene KABBA bekämpfte die Kürzungen der Sozialhilfe. Das Sujet der Flyer stammt von einem armutsbetroffenen Designer.
Das KABBA bekämpfte die Kürzungen der Sozi­al­hilfe. Das Sujet der Flyer stammt von einem armuts­be­trof­fenen Designer.

Die Idee für ein Inter­net­café sei ihm gekommen, als er 2005 selber ausge­steuert wurde. „Fast zeit­gleich ging mein Laptop kaputt. Da ich in der Politik aktiv war, war ich aber auf einen Computer ange­wiesen.” Dank eines Zufalls sei er dann an ein wenig Geld gekommen, das er sogleich in die ersten Laptops für das Inter­net­café inve­stierte. Gleich­zeitig habe er zusammen mit anderen Sozialhilfebezüger*innen begonnen, zu sozi­al­po­li­ti­schen Themen Stel­lung zu beziehen. Die anderen Grün­dungs­mit­glieder sind längst weiter­ge­zogen, aber Thomas Näf ist noch heute an vorder­ster Front aktiv.

Auch wieder in den vergan­genen Monaten, gegen die Geset­zes­re­vi­sion über die Sozi­al­hilfe im Kanton Bern.

Von der Armen­pflege zur Sozialhilfe

Doch zuerst ein Schritt zurück: Die Sozi­al­hilfe in der heutigen Form ist ein Kind des Zweiten Welt­krieges. In den Nach­kriegs­jahren wurden die kanto­nalen Fürsor­ge­ge­setze refor­miert und ausge­baut; aus der ehema­ligen Armen­pflege wurde die Fürsorge. Im Gegen­satz zu den anderen Sozi­al­werken, die in dieser Zeit entstehen, wird die Sozi­al­hilfe aber als rein kanto­nales Leistungs­feld gestaltet. Sie ist als eine Art letztes Siche­rungs­netz aufge­baut. Das Stich­wort ist Subsi­dia­rität: Erst wenn jemand durch alle anderen sozialen Sicher­heits­netze durch­ge­fallen ist, kommt die Sozi­al­hilfe zum Zug.

Eine andere Beson­der­heit: Im Gegen­satz zur Alters­vor­sorge oder zur Inva­li­den­rente wird die Sozi­al­hilfe alleine durch Steu­er­ein­nahmen finan­ziert. Während also bei der Alters­vor­sorge nur dieje­nigen eine Rente beziehen können, die durch ihre Lohn­ab­züge in die Kasse einge­zahlt haben, steht die Sozi­al­hilfe allen zu. Das bedeutet, dass in der Sozi­al­hilfe eine Umver­tei­lung im grös­seren Masse statt­findet als in der Alters­vor­sorge. Zwar ist die AHV gedeckelt, was durchaus zu einer Umver­tei­lung führt. Aber insge­samt werden bei der Finan­zie­rung der Sozi­al­hilfe höhere Einkommen durch die progres­siven Einkom­mens­steuern stärker zur Kasse gebeten. Das wiederum heisst aber auch, dass Sozialhilfebezüger*innen für die Stim­mungs­mache gegen die hohe Steu­er­be­la­stung des Mittel­stands instru­men­ta­li­siert werden können. Dazu aber später mehr.

Der Entscheid, ob und wieviel Sozi­al­hilfe einer Person zusteht, berechnet sich aus der Diffe­renz zwischen Einkommen, Leistungen aus anderen Sozi­al­werken und den verschie­denen mone­tären Leistungen, die der Staat für als notwendig befun­dene Ausgaben ausrichtet. Die Sozi­al­hilfe folgt dem Prinzip der Fina­lität: Die Ursa­chen, die dazu geführt haben, dass jemand Sozi­al­hilfe benö­tigt, spielen keine Rolle. Dieser Grund­satz ist auch als Grund­recht für die Hilfe in Notlagen in der Bundes­ver­fas­sung nieder­ge­schrieben – jeder Mensch in der Schweiz hat ein Recht auf ein menschen­wür­diges Dasein.

Da kein natio­nales Rahmen­ge­setz für die Sozi­al­hilfe besteht, rechnet die Schwei­ze­ri­sche Konfe­renz für Sozi­al­hilfe (SKOS) in ihren Richt­li­nien aus, was dieser Grund­satz des menschen­wür­digen Daseins in Schweizer Franken bedeutet. Ihre Antwort: 986 Franken. Zusammen mit den Beiträgen an Wohn- und Gesund­heits­ko­sten soll dieser Beitrag — der Grund­be­darf — das Existenz­mi­n­umum sichern. Doch genau um diese 986 Franken dreht sich momentan die sozi­al­po­li­ti­sche Diskus­sion in der Schweiz.

Durch Kürzungen motivieren

Denn wenn es nach den Verfechter*innen der akti­vie­renden Sozi­al­hilfe geht, sind 986 Franken zu viel. Den Grund­ge­danken dahinter hat der Ökonom Chri­stof Schalt­egger anfangs Jahr in einem Inter­view so zusam­men­ge­fasst: „Sozi­al­hilfe sollte nicht bedin­gungslos sein.“ Auch wenn die Aussage der Grund­idee der Sozi­al­hilfe wider­spricht, können die Kantone tatsäch­lich selber über die Höhe des Grund­be­darfs entscheiden, denn: Die SKOS-Richt­li­nien sind zwar auf wissen­schaft­li­cher Grund­lage berechnet, für die Kantone aber nicht bindend. Oder anders gesagt: Was genau das „menschen­wür­dige Dasein“ bedeutet, wird dem Kantön­li­geist überlassen.

In Bern wollte Gesund­heits- und Fürsor­ge­di­rektor Pierre-Alain Schnegg (SVP) deshalb den Grund­be­darf im Kanton auf 900 Franken kürzen. Wenig Geld für Nahrungs­mittel, ÖV-Tickets und „soziale Teil­habe”. Für soge­nannt „unko­ope­ra­tive” Sozialhilfebezüger*innen wäre der Grund­be­darf zudem auf bis zu 800 Franken gedrückt worden. Ein guter Teil hätte an Gegen­lei­stungen, wie etwa die Teil­nahme an Inte­gra­ti­ons­pro­grammen, geknüpft werden sollen. Wo heute auf den bedin­gungs­losen Grund­be­darf Zulagen gewährt werden können, hätten neu Kürzungen die Sozialhilfebezüger*innen zur aktiven Wieder­ein­glie­de­rung moti­vieren sollen.

Die SKOS warnte hingegen unlängst vor solchen Kürzungen. Diese könnten unter anderem die Entwick­lungs­mög­lich­keiten und die beruf­liche und soziale Inte­gra­tion erschweren, beson­ders bei Kindern. In anderen Worten: Beim Grund­be­darf besteht kein Spiel­raum für Kürzungen, wenn der Grund­satz des menschen­wür­digen Daseins gewahrt werden soll.

Auch Anbieter dieser Inte­gra­ti­ons­lei­stungen, etwa das Schwei­ze­ri­sche Arbei­ter­hilfs­werk SAH Bern, stellen sich entschieden gegen die Idee der akti­vie­renden Sozi­al­hilfe. Sie beruhe auf einem falschen Grund­ge­danken: dass drasti­sche Kürzungen den Druck auf Sozi­al­hilfe bezie­hende Personen erhöhen und dann die Reinte­gra­tion in den Arbeits­markt wie von alleine klappt. „Aber das funk­tio­niert so nicht. Die Teil­re­vi­sion in Bern hätte alle Verant­wor­tung auf den Einzelnen abge­schoben und die struk­tu­rellen Ursa­chen für Armut und Erwerbs­lo­sig­keit verkannt“, sagt SAH-Vorstand Pascal Coullery.

Im Endef­fekt obsiegten die Kritiker*innen der Berner Teil­re­vi­sion, vor allem auch dank den links-grünen Zentren. „Das müssen wir so akzep­tieren“, hiess es konster­niert von Pierre-Alain Schnegg. Doch in anderen Kantonen hat seine Partei bereits den Ball aufge­nommen: Im Aargau, in Solo­thurn und in Basel-Land­schaft haben SVP-Politiker*innen radi­kale Kürzungen beim Grund­be­darf von bis zu 30% einge­reicht – auch im Wissen darum, dass diese Kantone keine link-grünen Zentren haben, die das Ruder im letzten Moment rumreissen können.

„Ein perfider Mechanismus“

Auch die Caritas lehnt Kürzungen des Grund­be­darfs ab — und warnt davor, dass Kürzungen in der Sozi­al­hilfe eine Kosten­ver­schie­bung hin zu privater Wohl­tä­tig­keit zur Folge hätte. Der Aufwand von Kirchen und Hilfs­werken wäre mit der geplanten Teil­re­vi­sion noch grösser geworden, ist auch der Co-Präsi­dent der Berner Konfe­renz für Sozi­al­hilfe (BKSE) Thomas Michel über­zeugt. „Durch die Teil­re­vi­sion wäre dank eines kleinen, perfiden Mecha­nismus die Eintritts­schwelle für die Sozi­al­hilfe erhöht worden.“ Was meint Michel damit?

Mit der Senkung des Grund­be­darfs wird der errech­nete Bedarf für die Siche­rung des Existenz­mi­ni­mums für alle sinken; viele werden die Hürde für Leistungen der Sozi­al­hilfe nicht mehr über­treten können. Ein einfa­ches Rechen­bei­spiel zeigt den Effekt eindrück­lich: Für eine betrof­fene Person berechnet der Sozi­al­dienst einen Bedarf von rund 1900 CHF. Da sie mit ihrem Nebenjob als Kell­nerin rund 1500 CHF verdient und Ergän­zungs­lei­stungen in der Höhe von 300 Franken erhält, würde sie heute 100 CHF Sozi­al­hilfe erhalten. Mit der Kürzung des Grund­be­darfs sinkt der Bedarf, den der Sozi­al­dienst ihrem Einkommen gegen­über­ge­stellt, aber auf 1704 CHF. Neu ist ihr Einkommen somit 96 CHF über dem Existenz­mi­nimum; ihr Anspruch auf Sozi­al­hilfe verfällt. Sie befindet sich somit im vorge­la­gerten Bereich der Sozi­al­hilfe — und sie verliert den Zugang zu Bera­tungs­an­ge­boten und Beschäf­ti­gungs­pro­grammen. „Preka­rität zu verhin­dern, ist nicht die Aufgabe des Staates“, sagt Thomas Michel von der BKSE.

Dafür sei die private Wohl­tä­tig­keit zuständig. Ihre Kosten betragen bereits heute rund einen Drittel der Sozi­al­hil­fe­ko­sten, die Kanton und Gemeinde aufbringen. Kirchen und Hilfs­werke springen in diesem vorge­la­gerten Bereich in die Bresche, bieten Bera­tungs­an­ge­bote, Weiter­bil­dungs­kurse, aber auch vergün­stigte Lebens­mittel an — wie auch das KABBA in Bern. Es bietet neben dem Inter­net­zu­gang auch einfache Compu­ter­kurse an. „Aber am meisten Aufwand bereitet die Unter­stüt­zung bei der Wohnungs­suche”, sagt Thomas Näf.

Wie in Zürich steigen auch in der Stadt Bern die Mieten ständig. Gerade für Armuts­be­trof­fene verschärft das die Situa­tion weiter. Vergli­chen mit ihrem Einkommen zahlen sie zu hohe Mieten und sind stärker gefährdet, ihr Obdach im umkämpften Wohnungs­markt der Stadt Bern zu verlieren. Hier bietet das KABBA Abhilfe: Mit der Unter­stüt­zung der Stadt bietet es einmal pro Woche Hilfe bei der Wohnungs­suche an. Für sein Enga­ge­ment zahlt ihm der Verein einen Lohn von rund 2000 CHF aus. Ob er damit nicht Anrecht auf Sozi­al­hilfe hätte? „Das habe ich nie mehr abklären lassen”, meint Näf lakonisch.

Leistungs­diktat auch in der Sozialhilfe

Weniger Geld für Armuts­be­trof­fene, mehr Druck auf Kirchen und Hilfs­werke. Warum das alles? Thomas Michel von der BKSE sagt: „Die Sozi­al­hilfe leidet nicht unter einem Ausga­ben­pro­blem, sondern unter einem Einnah­men­pro­blem. Die Kürzung des Grund­be­darfs im Kanton Bern ist eine der direkten Konse­quenzen des Steu­er­wett­be­werbs.“ Nach der Annahme der AHV-Steu­er­vor­lage müssen die Kantone die inter­na­tional geäch­teten Steu­er­pri­vi­le­gien für Unter­nehmen abschaffen. Die ersten beiden Versuche des Kantons Bern wurden abge­lehnt; am letzten Abstim­mungs­wo­chen­ende schei­terte zudem der Versuch im Kanton Solo­thurn. Zu krass hätte die Senkung der Unter­neh­mens­steuern den Mittel­stand getroffen, zu gross wäre das Loch in der Staats­kasse gewesen. Die Kehr­seite: Die Kantone stehen weiterhin unter Druck, ihre Unter­neh­mens­steuern zu senken.

Die Spar­übungen bei der Sozi­al­hilfe sind also unter diesem Eindruck zu verstehen: Da die Einnahmen der Kantone in naher Zukunft durch eine Unter­neh­mens­steu­er­re­form einbre­chen werden, muss bei den Ausgaben geschraubt werden. Und da die bishe­rigen Reformen an der Angst des Mittel­standes vor Steu­er­erhö­hungen geschei­tert sind, soll voraus­sicht­lich dort gespart werden, wo am wenig­sten Gegen­wehr zu erwarten ist: bei den Schwächsten.

Zuge­spitzt gesagt, sollen die Sozi­al­hil­fe­kür­zungen dem Mittel­stand die Senkungen bei den Unter­neh­mens­steuern schmack­haft machen. Dafür wird in Kauf genommen, dass die Sozi­al­hilfe neu eine Art Klas­sen­ge­sell­schaft inner­halb der Klas­sen­ge­sell­schaft wird, mit den Schwäch­sten der Gesell­schaft noch näher am Elend und noch tiefer in der finan­zi­ellen Notlage. Die einsei­tige Konzen­tra­tion auf den einzelnen Betrof­fenen igno­riert struk­tu­relle Probleme für Armut wie stei­gende Kran­ken­kas­sen­prä­mien, explo­die­rende Fixko­sten und stagnie­rende Löhne, gerade für die working poor. Thomas Näf zeigt dafür wenig Verständnis: „Das ist neoli­be­rale Politik, welche Steuern redu­ziert, während Leistungen für die Schwäch­sten gekürzt werden.”

Als unser Gespräch zu Ende ist, springt Thomas Näf sofort auf und marschiert zum benach­barten Tisch. Die junge Eritreerin soll sich auf den Weg zur Caritas am Eiger­platz machen. Ein Anmel­de­for­mular, welches sie für die Bewer­bung für die Wohnung braucht, ist zu unklar formu­liert. Die Caritas soll es möglichst schnell umformulieren.

 


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 24 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1508 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Soli­da­ri­sches Abo

Nur durch Abos erhalten wir finan­zi­elle Sicher­heit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unter­stützt du uns nach­haltig und machst Jour­na­lismus demo­kra­tisch zugäng­lich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.

Ihr unter­stützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorg­fältig recher­chierte Infor­ma­tionen, kritisch aufbe­reitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unab­hängig von ihren finan­zi­ellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Jour­na­lismus abseits von schnellen News und Click­bait erhalten.

In der kriselnden Medi­en­welt ist es ohnehin fast unmög­lich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkom­mer­ziell ausge­richtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugäng­lich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure soli­da­ri­schen Abos ange­wiesen. Unser Lohn ist unmit­telbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kriti­schen Jour­na­lismus für alle.

Ähnliche Artikel