„Stoff zum Shotdown” ist eine Print-Zine mit Texten von jetzt für jetzt. Dahinter stehen der freie Journalist Benjamin Von Wyl, der Geschäftsführer des Kulturlokals Coq d’Or Daniel Kissling sowie die freischaffenden Grafiker David Lüthi und Mirko Leuenberger. Die zweite Ausgabe wird Ende April verschickt und kann über die Crowdfunding-Seite bestellt werden.
Nach meiner Ankunft bindet mir die Rezeptionistin das silberne Hotelarmband um und rattert die inclusives und not-inclusives für den all-inclusive-Hotelaufenthalt runter, natürlich auf Deutsch. Vom Tisch schwarz-gelbe Überschrift: „Corona Krach im Kanzleramt”. Links unten meint der Chefredaktor: „Jetzt muss jeder Vorbild sein”. Das war die Bild-Zeitung vom Freitag, dem Dreizehnten (März). Im Hotel gegenüber vom Bierkönig auf Palma de Mallorca ist die COVID19-Krise surreal. Dass Europa komplett dicht macht, konnte ich immer wieder vergessen, kurz. Verkatert unter der Dusche – den nächsten Gratis-Mojito im Plastikbecher in der freien Hand.
Während auf dem spanischen Festland bereits alle Schulen, Kinos und Bars geschlossen sind, herrscht hier — 150m vom Strand entfernt, in Laufdistanz zum Bierkönig — Normalzustand der Nebensaison: Die Sonne scheint, die Meerespromenade ist sauber und im Städtchen von Palma ist es angenehm ruhig. Malle ist zwar nur einmal im Jahr, aber das ganze Jahr schön.
Kognitive Dissonanz während Corona: In der Bild bedeutet das die Suche nach Vorbildern im Umgang mit einer Pandemie. Oder Dinis, 23, aus Herisau, der in der Bar wildfremden Leuten um den Hals fällt und ruft: „Keine Angst, ich habe mich letzte Woche testen lassen!”
Aber zurück zur Rezeption – und zur Frage, wie zur Hölle ich während der wohl grössten gesellschaftlichen Herausforderung meiner Lebenszeit auf Mallorca gelandet bin.
Eigentlich bin ich im Trainingslager mit meiner 5.-Liga-Fussballmannschaft, Dorfverein. Wer sich nicht mit den Fussballligen auskennt, kann sich die fünfte Liga als ein gepflegtes Hickhack mit halsbrecherischen Grätschen und viel Bier vorstellen. Mit Sport hat das nur peripher was zu tun.
Angereist bin ich einen Tag früher als mein Team, mit Zug und Fähre. Viele mögen sich daran vielleicht gar nicht mehr erinnern, aber früher – also vor COVID-19 – war der Verzicht aufs Fliegen durch die Klimabewegung zum politischen Statement geworden. Die Sprengkraft meines Flugstreiks, sie ist verflogen, vom Markt untergraben, ausgerechnet! Jetzt fliegen schlicht keine Flugzeuge mehr.
März, im Flugstreik unterwegs. Während der Zug mit 300 Stundenkilometer von Lyon durch die Rhones des Alpes und Languedoc-Roussillon nach Spanien donnert, lese ich ‚über die wacklige Internetverbindung, vom Lockdown in Madrid, dann, dass die spanische Opposition Notfallmassnahmen à la Italien verlangt, und dann, zu guter Letzt, dass ein nationaler Notstand bald ausgerufen werde. Ein wenig nervös schreibe ich meinem Team, das ja erst morgen fliegt, und frage nach, wie es denn aussehe. Antwort: Kommt gut, unser Reisebüro gibt weiterhin grünes Licht. Ich vergleiche die Anzahl bestätigter Fälle von Schweiz (damals über 700) und Mallorca (17), diese völlig unzuverlässigen und doch beruhigenden Zahlen. „Auf Mallorca ist es sicherer als in der Schweiz” wird zu meinem Mantra.
Dennoch mache ich einen nervösen Eindruck auf meine Umgebung. Eleonora, meine mexikanische Sitznachbarin aus Luxemburg, bietet mir eines ihrer belegten Brote an: Eines mit Schinken, eines mit Ei. „Iss genug Omega Drei und trink Karotten-Orangensaft, dann kannst du den Virus nicht bekommen. Und Desinfektionsmittel brauchst du auch nicht. Ich wasche meine Hände mit Essig”. Das beruhigt mich. Nicht, weil Omega‑3 oder eine Vinaigrette vor COVID-19 schützen würden (tun sie nicht, Eleonora, ich habe nachgeschaut), sondern weil das endlich den säuerlichen Geruch im Zugabteil erklärt, der mich seit Valance plagt. In Barcelona tauschen Eleonora und ich dann noch Handynummern aus. „Komm mich besuchen in Luxemburg, und mach nicht so ein besorgtes Gesicht, du bist noch so jung”.
Die Überfahrt verläuft dann grösstenteils nachrichtenarm, lediglich beim Aussteigen erhasche ich einen Blick auf die Fernsehnachrichten: Die spanische Liga hat den Spielbetrieb eingestellt, fünf Spieler vom FC Valencia sind in Quarantäne. Profisportler*innen sind anfälliger auf virale Ansteckungen, erfahre ich in einem Podcast, wegen dem Open-Window-Effekt, der nach intensiven sportlichen Belastungen einsetzt. Da sind wir aus der fünften Liga auf der sicheren Seite, denk ich mir.
Das sieht die spanische Regierung aber anders: Alle staatlichen Fussballfelder sind geschlossen, auch für Amateure. Fussball-Shutdown für alle. Zuerst verspricht man uns zwei Trainingseinheiten auf einem privaten Feld. Einmal kaufen drei von uns einen Fussball und schleichen auf ein Kunstrasenfeld einer benachbarten Hotelanlage – natürlich mit zwei Meter Abstand voneinander. Nach fünf Minuten stürmt ein Angestellter raus und schickt uns nach Hause. Tags darauf gilt allgemeine Ausgangssperre, gar kein Fussball also.
Nun sind ja Trainingslager für 5.-Liga-Mannschaften am Ballermann immer eher fadenscheinige Vorhaben. Aber mit der Absage des letzten Trainings fällt auch der Vorwand. Jetzt sind wir 19 – sagen wir Sportler – auf Mallorca, belegt mit einer Ausgangssperre, gefangen in einer mit Billigmöbel dekorierten und Kunstholz verkleideten Quarantäneanstalt. Am ersten Tag ist das Hotel kollektiv betrunken. Das hat TUI wohl mit dem laminierten Infoblatt im Lift gemeint: „Auch mit der Ausgangssperre wird ihr Urlaub nicht beeinträchtigt.” Einige Gäste trauen der Sache aber doch nicht ganz und kaufen beim gegenüberliegenden Markt das Bierdosenregal leer.
In der all-inclusive-Quarantäne verteilt sich das Leben nun auf Pool, Hotelbar und Buffet. Dort beobachte ich beim Mittagessen, wie ein Gast seine Hände wie ein #seifenboss mit Desinfektionsmittel reinigt, bevor er sich an der Brottheke in die Hände hustet und dann seinen Toast in den Toaster schiebt.
Wir jassen nach dem Frühstück bis zum Mittagessen. Wir jassen in der Bar auf der Dachterrasse, wo man für Drinks zwar bezahlen muss, aber im Gegenzug den Mojito aus dem Glas statt aus dem Plastikbechern trinkt. Nach dem Abendbuffet jassen wir, bis dem Barkeeper Minze oder Eis ausgeht.
Überall lethargischer Dauerzustand, untermalt durch den beissenden Begleiter des Überflusses: Bauchschmerzen. Es entwickelt sich eine eigenartige Solidarität unter den Pauschalreisenden, die alle unsicher sind, was das alles für sie und ihren Urlaub bedeutet, sich aber alle mit Cocktail-Häppchen und der Gewissheit vertrösten, dass alles viel schlimmer sein könnte. Eine Gruppe Männer bestellt Sangria-Pitcher im Halbstundentakt und diskutiert mit einer jungen Familie, während das Kind über den gefliesten Boden krabbelt, die Vor- und Nachteile einer Quarantäne auf Mallorca.
Gleichzeitig bekommen aber auch alle Gäste mit, dass sich die Situation überall auf der Welt zuspitzt, erste Reisebeschränkungen werden getroffen, Ryanair streicht den Flug einer deutschen Reisegruppe. Wir hören der Pressekonferenz des Bundesrats, die im Hintergrund auf unseren Smartphones läuft, zwischen den Jassrunden zu. An der Rezeption markiert plötzlich ein rotes Klebeband die zwei Meter Abstand zur Rezeptionistin und die Bild-Auslage wird durch eine Hygienemerkblatt ersetzt. Der TUI-Verbindungsmann sitzt sichtlich überfordert in seiner Ecke und versucht verunsicherte Gäste zu trösten. Ein älteres deutsches Ehepaar hat das Memo zum social distancing nicht erhalten und kommt unserer Jassgruppe gefährlich nah. Sie gehen erst nach einem langen Gespräch über ihren Wohnort Sevelen, Nordrhein-Westfalen, die Partnergemeinde von Sevelen, Kanton St. Gallen, und über den letzten Besuch des Seveler Gemeindepräsidenten in Sevelen.
Und dann erklärt der Bundesrat in Bern die ausserordentliche Lage, und mit ihr vibrieren die Handys an den Jasstischen: Vorwurfsvolle Nachrichten von Vorgesetzten, sie hätten ja gesagt, die Reise sei eine dumme Idee (haben sie nicht) und deutlich davon abgeraten (auch nicht) und überhaupt hätte man das doch mit ein bisschen gesundem Menschenverstand vorhersehen können (vielleicht).
Natürlich sind wir jetzt schlauer, wäre dumm, wenn nicht. Wir sitzen in einem der letzten Flieger zurück. Gekommen als 5.-Liga-Fussballteam, gegangen als Jassclub. Ohne Umsteigen, Sonnenbrand oder Muskelkater, auf direktem Weg in die Selbstquarantäne.

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