Hallo, liebe Freund*innen, es ist endlich Sommer, besser bekannt als: die Zeit, in der endlich auch alteingesessene Journis, denen man das Korrektorat weggespart hat, sich in einer Zeitung über Körpernormen auslassen dürfen. So geschehen in der Berner Zeitung am 7. Juli, deren Sommerserie sich mit den dringlichsten Stilfragen der Saison auseinandersetzt. Im ersten Teil schreiben zwei Männer und eine Frau darüber, ob man seine Muskeln präsentieren, ein Bauchnabelpiercing tragen oder als Frau mit unrasierten Beinen herumlaufen darf. Spoiler: Ja, darf man. Puh, Glück gehabt.
Einfach als kurze Erinnerung: Diskriminierungen jeglicher Art funktionieren nach einem Pyramidenschema. Auch 2020 ist Catcalling noch völlig in Ordnung. Dass man Frauen* bitte nicht unterm Rock fotografieren soll, muss per Gesetz verboten werden, und ich persönlich kenne keine einzige Frau, die im Ausgang noch nie eine fremde Hand unerwünscht zwischen die Beine geschoben bekommen hat. Dass wir all diese Dinge kleinreden, bildet die unterste Stufe einer solchen Pyramide. Und es führt dazu, dass rape culture noch immer gesellschaftlich akzeptiert wird. Es führt des Weiteren zu einem frauenfeindlichen Umfeld und schliesslich unter anderem dazu, dass in der Schweiz gegen Gewalt an Frauen und Femizide noch immer eine national geregelte Strategie fehlt.
Derweil schreibt Birgit Schmid in der NZZ ebenfalls über Frauenkörper. In ihrer Kolumne geht’s aber um Brüste. Beziehungsweise darum, dass sich viele Frauen während des Lockdowns von ihren BHs verabschiedet hätten und nun auch im Alltag ausserhalb des Homeoffice braless unterwegs sein möchten. Das Ende des BH scheint ihr aber fern, schreibt sie: „Und zwar allein darum, weil Frauen die Blicke nicht ertrügen, wenn sie sich wieder unter die Leute mischten.“ Immerhin: Frauen sollen selbstverständlich anziehen oder weglassen, was sie wollen, „ohne mögliche Reaktionen von Männern vorwegzunehmen und sich anzupassen“. Schmid kommt aber dennoch zum Schluss, dass sich „Blicke nicht erziehen“ und sich die „Symbolik des Busens“ nicht neutralisieren liesse. Sie schliesst ihre Kolumne mit der Erkenntnis: „Wer sich zeigt, muss das Begehren der anderen aushalten.“
Zurück zu den unrasierten Beinen. Die Berner Zeitung fühlte sich ob des Shitstorms, den der Artikel auf Social Media auslöste, etwas in die Ecke gedrängt und legte nach: Im Artikel „Darf man diese Frage überhaupt stellen?“ versteckt man sich hinter der Aussage, es sei doch super, dass die Frage eine Debatte ausgelöst habe. Es wird erklärt, dass es sich „noch vor 20 Jahren“ für Frauen nicht schickte, mit unrasierten Beinen herumzulaufen. Und dass es durchaus eine berechtigte Frage sei, solange das Bild eines unrasierten Beines „ein politisches Statement“ sei und nicht „bloss eine Laune“.
Falsch. Eine solche Rechtfertigung ist schlichtweg fauler Journalismus.
Dass die Beurteilung des Körpers im öffentlichen Raum – spezifisch des Frauenkörpers – noch immer gang und gäbe ist, wird von solchen Artikeln und ihren jährlichen Wiederholungen genährt. Worüber wir Journalist*innen auf welche Art und Weise schreiben, prägt die Sichtweise der Öffentlichkeit. Elegant und vor allem spannend wäre etwa gewesen, wenn die Berner Zeitung für ihren zweiten Artikel einen progressiven Zugang gewählt hätte: Man hätte etwa die Frage aufwerfen können, welche Beinhaare mittlerweile gesellschaftlich akzeptierter sind. Nochmals Spoiler: die von weissen Frauen mit eher heller Körperbehaarung. Oder für wen es gesellschaftlich noch immer nicht in Ordnung ist, ein Bauchnabelpiercing zu tragen: für dicke Menschen.
Das wäre Journalismus, der sich 2020 sehen lassen kann. Und den übrigens etwa eine Teen Vogue schon seit Jahren praktiziert – und sich damit die junge Leser*innenschaft sichert. Denn dass klassische Zeitungen junge Menschen schon lange nicht mehr erreichen, hat eventuell auch damit zu tun, dass darin die ewiggleichen veralteten Ansichten repetiert werden – und dass man sich dann selber abfeiert, wenn man sich traut, über so etwas Krasses wie weibliche Beinhaare zu schreiben.
Solche Sommerserien sind ein beliebtes Mittel, um das thematische Loch zu stopfen, das ab Anfang Juli auf vielen Schweizer Redaktionen Einzug hält. Die Berichterstattung über wirklich relevante Themen – etwa über die Black-Lives-Matter-Bewegung oder über Polizeigewalt in den USA und der Schweiz – findet währenddessen weiterhin an einem anderen Ort statt: auf Instagram. Dort, wo sich diejenigen jungen Menschen hin verzogen haben, die vom klassischen Journalismus nicht mehr abgeholt werden. Wo ganz nebenbei ein sehr viel breiter gefächertes Verständnis von Körperformen und ‑normen herrscht. Und wo man für eine Berichterstattung wie die Sommerserie der Berner Zeitung nur das übrig hat, was sie verdient: ein müdes Lächeln.
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