So klingt das Leben in der ZAD – Ein Audiobeitrag von Malauke / kollektiv eigenklang
Es hämmert und klirrt an diesem lauen Sonntagnachmittag auf dem Mormont-Hügel. Vor dem besetzten Haus bereiten sich die Aktivist:innen der „Zone à Défendre“ (ZAD), Zadist:innen genannt, auf die bevorstehende Räumung vor. Aus alten Holzlatten und Fensterrahmen werden Barrikaden gebaut, die den Zugang zum Gelände und Haus versperren sollen. Parolen wie „Der Staat hat das legitime Gewaltmonopol!“ zieren die bunte Festung.
Der Aufbau der Barrikaden, Bretterbuden und Baumhäuser ist nur ein Teil des Widerstands auf dem Mormont. In einer umfunktionierten Metalltonne werden Pizzas gebacken, eine Gruppe Musizierender bereitet sich auf einen Workshop vor, andere arbeiten an ihren mit Solarpanels aufgeladenen Laptops an der nächsten Medienmitteilung.
Viel Zeit bleibt den meist jungen Zadist:innen jedoch nicht mehr. Die Räumung der ZAD durch die Polizei steht kurz bevor. Das Gebiet, auf dem mehrere Dutzend Aktivist:innen im Oktober 2020 ihre Zelte aufgeschlagen hatten, wurde schon vor Jahren von der Firma LafargeHolcim aufgekauft – inklusive dem Grundstück und dem Haus, das nun zur Zentrale der Besetzer:innen geworden ist.
Der negative Entscheid des Bundesgerichts auf den Einspruch zur Räumung hat den Weg frei gemacht, dass die Polizei ab dem 31. März auf dem Mormont-Hügel auffahren kann. Wann genau sie kommen wird, weiss niemand von den Aktivist:innen. Doch für sie ist klar, dass sie nicht freiwillig fortgehen werden.
Die Zadist:innen
Aus einer soeben aufgebauten Holztüre treten zwei Zadist:innen und setzen sich zu uns an den Tisch, an dem wir uns zum Gespräch verabredet haben. Für sie ist die ZAD mehr als ein Raum, den es zu schützen gilt. Für Ame und Balou, wie ihre Aktionsnamen lauten, ist die ZAD vor allem ein Ort, an dem neue Gesellschaftsformen erprobt werden – eine „Zone a Décrire“, ein Ort, der neu beschrieben wird.
„Die Utopie, die hier entstanden ist, und das, was sie mit uns gemacht hat, werden wir alle weitertragen. Auch wenn das Areal geräumt wird“, sagt Balou.
Die beiden sind überzeugt vom Wert der kleinen Gesellschaft, die sich hier gebildet hat und die sich egalitär organisiert. Jeden Morgen um neun Uhr treffen sich die Anwesenden zur „Flash-Info“, einem Plenum, in welchem die anstehenden Aufgaben verteilt werden. Zu tun gibt es genug: Essen kochen, Komposttoiletten sauber halten, Morgenweckrufdienst, Awareness-Arbeit und etliche Bauarbeiten.
Dabei ist es gar nicht so einfach, die bunt gemischte Truppe zusammenzuhalten: Die Menschen kommen nicht nur aus verschiedenen Ländern, sprechen Französisch, Deutsch oder Schweizerdeutsch, sondern haben auch unterschiedliche politische Standpunkte: Unter den Zadist:innen, die sich auch das Orchideenkollektiv nennen, gibt es antikapitalistische Gruppen, darunter einige Zadist:innen aus Frankreich, genauso wie Vertreter:innen von Fridays for Future und Extinction Rebellion.
Ame hat neben der Politik auch persönliche Gründe, sich für den Erhalt des Mormont einzusetzen: „Im Alltag in der Stadt fühle ich mich oft gestresst, kann mich nicht mitteilen“, erklärt die junge Kunstschaffende. „Hier habe ich begonnen, mich zu öffnen. Ich kann hier sprechen, singen – alles tun, was ich will.“
Für die ehemalige Sozialarbeiterin Balou ist das Thema Gender zentral, das hier tagtäglich aktiv thematisiert und gelebt wird: „Wir haben ein Manifest dazu verfasst, fragen jeweils in den Plenen, mit welchem Pronomen mensch angesprochen werden will, und haben FLINT-Tage ohne Cis-Männer organisiert, an denen beispielsweise Baumhäuser gebaut wurden.“
Die Organisation und Struktur des Camps lässt zu, dass alle ihre Ideen einbringen und verwirklichen können. In den Plenen wird nach Mitstreiter:innen für einen feministischen Zirkel gesucht, es werden Workshop-Ideen vorgestellt und immer wieder neue Arbeitsgruppen gebildet. Was alle eint, egal ob Studierende aus der Westschweiz oder erfahrene Zadist:innen aus Frankreich, ist ihr Kampf für den Erhalt der Umwelt und der Natur.
„Wenn man hier eine Weile lebt und den Lärm der Mine mitbekommt, die Gämsen und die verschiedenen Vogelarten im Wald sieht, dann weckt das automatisch ein Interesse an der Natur“, erzählt Balou. Während sie sich anfangs eher dafür interessierte, wie man Utopien für die Zukunft gestalten kann, ist der Schutz der Umwelt mittlerweile für sie der Hauptgrund, hier zu sein.
Darauf angesprochen, ob die Bewohner:innen der neben dem Mormont liegenden Dörfer La Sarraz und Éclépens Verständnis für den Kampf gegen die Ausweitung des Steinbruchs hätten, meint Balou: „Für Éclépens spielt der finanzielle Aspekt natürlich eine grosse Rolle. Die Mine ist für die Gemeinde sehr lukrativ.“
In Éclépens kippte die Stimmung spätestens, als die Gemeinde einen offiziellen sechsseitigen Brief an alle Einwohner:innen versandte. Darin sei scharfe Kritik an den Zadist:innen geübt worden. Als diese von dem kritischen Schreiben der Gemeinde erfuhren, reagierten sie mit einer Einladung: Sie organisierten den „Dimanche des Orchidées“, den Sonntag der Orchideen, druckten Flyer und luden alle Bewohner:innen von Éclépens und La Sarraz zu einem Treffen ein.
Leider sei die Einladung nur von wenigen angenommen worden, sodass der Konflikt mit den Interessen der Arbeiter:innen und den finanziellen Sorgen der Gemeinde Éclépens weiter bestehen bleibt.
Nichtsdestotrotz strahlt die Stimmung der ZAD de la Colline über ihre Grenzen hinaus und zieht Menschen aus der gesamten Umgebung an: Am Wochenende kommen Spaziergänger:innen, oft Familien mit Kindern, und schauen neugierig bei den vielfältigen Bau- und Dekoarbeiten zu oder helfen gleich selbst mit. Andere bringen Wasser in Kanistern oder selbstgemachte Kürbissuppe vorbei.
Mithilfe ihrer Unterstützer:innen wollen die Zadist:innen die Räumung hinauszögern oder sogar verhindern. Trotzdem bereiten sie sich auch schon auf den drohenden Polizeieinsatz vor: „Wir führen interne Diskussionen, wie wir vorgehen werden“, sagt Ame. Einige würden das Gebiet verteidigen und nicht fortgehen, bis sie weggetragen werden, andere würden sich auf Ablenkungsmanöver und kreativen Widerstand fokussieren.
Der Naturschützer
Einer der Unterstützer:innen der Zadist:innen ist der Botaniker Alain Chanson. In grüner Windjacke und mit zerzaustem Haar kommt er mit seinem Fahrrad auf dem Hügel an, um sich mit uns zum Gespräch an der Abbruchkante der Mine zu treffen. Auf der anderen Seite des Zauns, der wenige Meter hinter dem Protestcamp den Blick auf den riesigen Steinbruch freigibt, patrouilliert ein Fahrzeug von LafargeHolcim.
„Es ist ein Mikroklima. Ein kleines Stückchen Jura, ein kleines Stück des südlichen Mittelmeergebietes“, erklärt Chanson, der die Naturmagie des Mormont-Hügels schon aus seinen Jugendjahren kennt und sich seither für den Schutz des Ortes einsetzt.
Beim Beschreiben der Artenvielfalt des Hügels kommt Chanson ins Schwärmen: „Hier befindet sich einer der grössten Vipern-Standorte der Westschweiz, einer der bedeutendsten Wildkorridore zwischen dem Jura und den Alpen, ein Mosaik von Pflanzengruppen, vielfältige Insektenpopulationen.“
Schon sein Professor habe in den frühen 1950er-Jahren gegen die Errichtung der Zementfabrik gekämpft. Trotzdem ist eine der seltenen Orchideenarten, für welche der Mormont bekannt war, heute endgültig verschwunden. Mit Mitstreiter:innen aus den umliegenden Dörfern hat Alain Chanson 2013 deshalb den Verein Association pour la Sauvegarde du Mormont (ASM) zum Schutz des Mormont-Hügels gegründet.
Auch die Zadist:innen können sich auf das umfangreiche Wissen von Chanson und seinem Verein stützen: „Wir haben ihnen gezeigt, welche Orte sie besonders schützen müssen. Etwa dort, wo sich die seltenen Orchideenarten befinden.“ Die Zadist:innen haben diese Stellen mittlerweile mit rot-weiss gepunkteten Fähnchen gekennzeichnet.
Während es den Zadist:innen um grundlegende ökologische Ziele geht, sie gegen den hohen CO2-Ausstoss des Zementriesen LafargeHolcim und die Verwendung von Beton als Baustoff kämpfen, setzt sich die ASM ausschließlich dafür ein, dass LafargeHolcim nicht noch mehr Kalkstein auf dem Mormont abbaut.
Seit bald siebzig Jahren beutet LafargeHolcim den Mormont-Hügel für die Zementgewinnung aus. Beinahe die Hälfte des Hügels ist den Baggern schon zum Opfer gefallen. Trotzdem hat LafargeHolcim die Ausweitung der Mine noch bis auf die Gipfelregion beantragt. Ein Gebiet, das mit einem Eintrag im Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler (BLN) eigentlich unter besonderem Schutz steht.
Die Zerstörung der besonders artenreichen Gipfelregion wurde der Zementfirma darum schon 2016 gerichtlich untersagt. Nur bei „Interessen von nationaler Bedeutung“, so heisst es im Artikel 6 der BLN-Verordnung, darf eine BLN angetastet werden. Während die Zementlobby in Bern auf diese Rechtfertigung hinarbeitet, liess sich LafargeHolcim nicht aufhalten und baggerte einfach in die andere Richtung weiter, bis zur sogenannten Birette, einem Hochplateau etwas unterhalb des Gipfels.
Aus Sicht von Chanson, der etliche laminierte Landkarten vor uns ausbreitet, ist das jedoch keine Lösung. Denn gerade auf der Birette wachsen Orchideenarten, die sich sonst kaum in der Schweiz finden, erklärt der Biologe. Zusammen mit Organisationen wie Pro Natura, WWF und Helvetica Nostra hat er etliche Rekurse gegen die Ausbeutung dieses Gebietes eingereicht, jedoch ohne Erfolg. Am 26. Mai 2020 wurde die Berufung abgelehnt.
Nachdem die rechtlichen Mittel ausgeschöpft waren, besetzten die Zadist:innen in einer kalten Oktobernacht vergangenen Jahres das Haus auf dem Mormont. Zu diesem Zeitpunkt wussten Chanson und seine Mitstreiter:innen noch nicht einmal, was eine ZAD überhaupt ist. Sie mussten sich im Internet informieren – und waren begeistert.
„Ich habe schon 2013 gesagt, dass ich mich an die Bäume ketten werde, wenn sie auch noch diesen Teil hier einnehmen wollen“, sagt Chanson und ergänzt: „Aber ich bin zu alt und darum froh, dass dies nun die Zadist:innen für uns machen!“
Ob die ZAD am Ende ein Erfolg sein wird, ist für Chanson jedoch nicht gesichert: Aus Prinzip sei er nur mit denjenigen Aktivist:innen in Kontakt, die sich klar von jeglicher Gewalt distanzieren. Zwar ist das bei der überwiegenden Mehrheit der Fall, doch die horizontale Organisationsstruktur ohne klare Positionen lasse Lücken. Die „professionellen Zadist:innen“, wie Chanson die aus Frankreich Angereisten nennt, seien ihm nicht ganz geheuer. Er befürchtet, dass es zu harten Auseinandersetzungen mit der Polizei kommen könnte.
Der Dorfpfarrer und die Räumung
Dass es auf dem Mormont nicht zu Ausschreitungen kommt, dafür betet Dorfpfarrer Luc Badoux in der reformierten Kirche von La Sarraz am Sonntagmorgen. In weisser Kutte steht er am Altar in der kleinen, in Orange gehaltenen Kirche und wünscht sich, dass sich LafargeHolcim und die Zadist:innen respektvoll begegnen.
Nach dem Gottesdienst erzählt er uns im Gespräch, dass die Meinungen zur ZAD im Dorf auseinandergehen: „Die Menschen hier leben mit und zum Teil von Holcim“, betont er und wiederholt einen verbreiteten Kritikpunkt: Holcim ist ein wichtiger Arbeitgeber in der Region. Obschon viele Menschen aus dem Dorf nach Lausanne zur Arbeit pendeln würden.
Er kenne eine Familie mit vier Kindern, die über lange Zeit in einer Vierzimmerwohnung gelebt habe und bis heute von der Arbeit von Holcim abhängig sei. Besonders im Nachbardorf Éclépens, wo sich das Zementwerk befindet, seien die Menschen deshalb sehr kritisch. „Sie mögen den Mormont-Hügel, gehen dort spazieren oder Velo fahren und haben trotzdem kein grosses Problem mit Holcim.“
Badoux selbst sei regelmässig auf den Mormont gegangen, um die Aktivist:innen zu treffen. „Viele kommen nicht von hier“, betont er und befürchtet, dass sie die lokalen Realitäten nicht richtig kennen. Das sei auch der Grund, weshalb sich nur wenige Bewohner:innen von La Sarraz mit den Zadist:innen solidarisierten.
Auf die Rolle der Kirche in Umwelt- und Naturfragen angesprochen, meint er, dass sie für keine Seite Partei ergreifen könne. Er selbst könnte sich aber vorstellen, auch während der Räumung auf dem Mormont zwischen Zadist:innen und Polizei zu vermitteln. „Extinction Rebellion hat mich diesbezüglich angefragt. Ich habe keine Angst, dorthin zu gehen“, meint er. Badoux schätzt das gemeinschaftliche Zusammenleben der Kommune auf dem Hügel, in der es Platz für jede und jeden hat; und gibt den doch meist Linken bis Linksradikalen seinen kirchlichen Segen.
Aber auch die Anerkennung durch den Dorfpfarrer kann die Rettung des Mormont nicht garantieren. Weitere Einsprachen beim Bundesgericht oder ein Entscheid der Waadtländer Regierung könnten die Räumung verzögern. Auch haben verschiedene Umweltorganisationen beim Bundesgericht eine Fristverlängerung bis zum 28. April beantragt. Die Waadtländer Grünen reichten im Kantonsparlament eine Motion ein.
Am Tisch vor dem Haus auf dem Hügel meint Balou dazu: „Vielleicht wird die Motion noch zu einer Verschiebung führen. Vielleicht wird die Bevölkerung noch darüber abstimmen, wer weiss.“
Nichtsdestotrotz bereiten sich die Zadist:innen auf die allfällige Räumung am 31. März vor. Dabei ziehen wieder alle an einem Strang – wortwörtlich. Ein lauter Schrei unterbricht unser Gespräch mit Balou und Ame. Die Aktivist:innen antworten mit chorischem Wolfsgeheul. Eine Gruppenkommunikation, die sich perfekt einpasst in die schroffe Hügellandschaft mit mosigen Wäldern und offenen, weiten Graslandschaften.
Auf den Ruf hin versammeln wir uns auf der grossen Wiese, auf der die Zelte stehen. Ein riesiger Baumstamm muss mithilfe von langen Seilen und einem Flaschenzug aufgestellt und in der Erde verankert werden. Später soll ein:e Aktivist:in hochklettern und sich festketten. Für die Polizei ein schwer zu räumendes Hindernis.