Rote Fahnen flattern in der Luft am Nachmittag des 10. Juli auf dem Dornacherplatz in Solothurn. Rufe tönen über den Platz. Rund 80 Demonstrant:innen haben sich vor der Innenstadt versammelt, um ihre Solidarität mit den Reiniger:innen der Enzler Reinigungen AG kundzutun. Die Enzler-Reiniger:innen arbeiten beim Standort des Biotechnologiekonzerns Biogen in Luterbach. Sie tun dies unter miserablen Bedingungen, wie Berichte der Basisgewerkschaften FAU (Freie Arbeiter:innen-Union) und IWW (Industrial Workers of the World) behaupten.
Es sind vor allem junge Menschen und Mitglieder der Basisgewerkschaften, die Flyer an Passant:innen verteilen und Reden halten, um auf die Situation der Reiniger:innen aufmerksam zu machen, von denen ebenfalls einige anwesend sind. Zwischen den Reden hallen Parolen durch die heisse Samstagnachmittagsluft:
„Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr unsere Gesundheit klaut!“
Vor der Demonstration trifft das Lamm drei der Reiniger:innen zum Gespräch in der Solothurner Innenstadt. „Enzler ist das Hauptproblem, nicht Biogen“, insistieren die Arbeiter:innen. Einer der Hauptgründe dafür sei der mangelnde gesundheitliche Schutz der Reiniger:innen. „Du kannst deinen Job verlieren, wenn du wegen der starken Chemikalien oder wegen eines Unfalls zum Arzt gehst“, sagt eine der drei Personen, die es vorzieht, anonym zu bleiben. „Wenn du sagst, dass dies bei der Arbeit für Enzler passiert ist, dann sieht es schlecht aus für dich.“ Enzler wolle solche Vorfälle nicht bei Biogen melden – aus Angst, den Vertrag gekündigt zu erhalten.
Während der Arbeit für Enzler am Standort von Biogen in Luterbach, deren Innenräume aufgrund der Erforschung und Produktion von Medikamenten auf sterile Bedingungen und somit auf Spezialreinigung angewiesen ist, kommen die Arbeiter:innen mit starken Reinigungsmitteln in Kontakt. „Solche, die es sonst nur in Amerika gibt“, meint eine Reinigungsperson. Dabei sei schon vorgekommen, dass die dafür benötigten Reinigungsfilter für die Schutzmasken nicht vorhanden gewesen seien. „Die Verantwortlichen von Enzler haben uns gesagt, wir sollten einfach die anderen Filter nehmen, die noch da seien. Doch diese nützen bei solch starken Mittel überhaupt nicht!“ Folge davon: Verätzungen auf der Haut und im Gesicht bei einer Person. Enzler versuche den Vorfall unter den Tisch zu wischen, sagen die Reiniger:innen.
Des Weiteren sei mehrmals vorgekommen, dass Reiniger:innen auf dem feuchten Boden ausgerutscht seien und sich verletzt hätten. In solchen Fällen und bei Unfällen mit chemischen Substanzen werde ihnen stets untersagt, sich beim Ärzt:innenposten und dem medizinischen Personal von Biogen zu melden. Sie würden dann von Enzler-Vorgesetzten zu einem Hausarzt oder ins Spital gefahren.
Ein beim Treffen anwesender Gewerkschafter der IWW, der ebenfalls anonym bleiben will, meint im Gespräch mit das Lamm: „Beim Biogen-Standort in Luterbach herrscht eine Zweiklassengesellschaft.“ Offizielle Erklärungen zu den Unfällen gebe es nicht, meint er weiter.
In einer Stellungnahme reagiert das schweizweit tätige Unternehmen auf die Vorwürfe. Ein gerechter Lohn sowie der Arbeitsschutz von Mitarbeitenden seien der Firma sehr wichtig: „Die Enzler Reinigungen AG setzt sich stets bedingungslos für die Einhaltung von GAV, Arbeitsgesetz und Arbeitssicherheit ein.“
„Unsere Gewerkschaft ist unser Recht – Hände weg, Hände weg!“
Unter anderem wegen solcher Vorfälle – und weil Zeitpläne nicht beachtet werden und die Reiniger:innen quasi auf Abruf arbeiten – schlossen sich die FAU und die IWW mit den Enzler-Angestellten vor einigen Monaten zusammen und meldeten die Situation Mitte Juni beim Arbeitsinspektorat des Kantons Solothurn. Dieses hat den Eingang der Beschwerde inzwischen bestätigt.
Neben der bemängelten Arbeitssicherheit ist vor allem die Suspendierung des Gewerkschaftsvertreters der Auslöser für die Demonstration. Der Vorwurf des union bustings, der Sabotage der Arbeitnehmer:innenvertretung, steht im Raum. Der Gewerkschaftsvertreter hatte sich Ende Juni an die Medien gewandt, als ein homophober Angriff auf einen Enzler-Arbeiter bekannt wurde. Der Täter wurde inzwischen zwar entlassen, der Gewerkschaftsvertreter aber bei vollem Lohn „bis auf Weiteres“ suspendiert. Er kann sich somit nicht auf dem Firmengelände bewegen und sich mit anderen Arbeiter:innen austauschen. Ausserdem kann er nicht auf problematische Vorgänge hinweisen, wenn das kantonale Arbeitsinspektorat und die Suva vor Ort die Lage überprüfen werden.
„Wir sind nicht die Unia, die alles tut, um dir zu gefallen!“
Dass die Demonstration auf dem Dornacherplatz startet, ist zwar ein Zufall, doch kommt er den Gewerkschafter:innen gelegen. Dort nämlich hat die Unia Solothurn ihr Sekretariat. „Die Mobilisierung hier ist auch ein Zeichen an die Unia“, sagt ein FAU-Gewerkschafter.
Die Gewerkschaft ist bei einem Teil der Belegschaft in Ungnade gefallen. Ein Reiniger erzählt, dass er und seine Kolleg:innen mehrmals bei der Unia mit potentiellen Arbeitsrechtsverletzungen vorstellig geworden seien – ohne Erfolg. Als Mitunterzeichnerin des Gesamtarbeitsvertrages ist die Unia eigentlich die designierte Arbeitnehmervertreterin. Doch das Reiniger:innenkollektiv mandatierte die FAU und die IWW. Die Enzler Reinigungen AG hält weiterhin daran fest, mit der Sozialpartnerin Unia zu verhandeln.
Der Konflikt zwischen den Gewerkschaften ist verworren. Gegenüber der Solothurner Zeitung reagiert die Unia auf die Vorwürfe und die Forderungen des Reinigungskollektivs. „Kein Kommentar“, meint der Leiter der Unia-Sektion Solothurn dazu. Bei einer Aussprache mit der Enzler-Belegschaft sei die Unia „von fast allen der rund 75 anwesenden Personen“ für die Interessenvertretung mandatiert worden.
Eine Textnachricht sowie eine Aufnahme von der Aussprache, die das Lamm vorliegen, stellen diese Erzählung zumindest infrage. Die Einladung, die die Enzler-Arbeiter:innen via WhatsApp erhielten, haben einige Arbeiter:innen so verstanden, dass das Treffen mit der Unia obligatorisch sei: In der Nachricht steht, dass sich alle zur gegebenen Zeit in der Cafeteria einfinden müssen. Eine Arbeitgeberin, die zu einem obligatorischen Treffen mit einer Gewerkschaft aufruft? Das wäre ungewöhnlich.
Eine Aufnahme des Treffens mit der Unia lässt zudem Zweifel aufkommen, ob wirklich fast alle Anwesenden die Unia mandatiert haben. In den rund fünf Minuten Sprachnachricht enerviert sich ein Arbeiter lautstark über die anwesenden Unia-Vertreter:innen, die ein paar Mal vergebens versuchen, das Wort zu ergreifen. Als der Arbeiter fertig gesprochen hat, ertönt Applaus.
„Die Situation mit der Unia hat sich in den letzten Wochen verkompliziert“, sagt der IWW-Gewerkschafter. Die Konkurrenzsituation mit der Unia schwäche die Verhandlungsposition. Trotzdem werden in den Reden und Parolen an der Kundgebung immer wieder Spitzen Richtung Dornacherplatz geschickt.
„Es wird sich nichts verändern ohne Streik!“
Beim Gespräch mit den Reiniger:innen vor der Demonstration wird nicht nur ihre Ablehnung des von der Unia ausgehandelten Gesamtarbeitsvertrages deutlich. Klar wird auch, dass sie selbst diejenigen sein wollen, die mitbestimmen, was sich konkret verändern soll.
13 Forderungen haben die Reiniger:innen zusammen mit den Basisgewerkschaften ausgearbeitet, die sie an Enzler und Biogen richten. Dazu gehören neben einer Erhöhung der Monatslöhne, dem Zugang zum betriebsärztlichen Dienst von Biogen und besserer Schutzausrüstung auch der Zugang zur Cafeteria, den Toiletten und Wasserstellen sowie eine Direktanstellung bei Biogen.
Auch ist klar, dass die Reiniger:innen entschlossen sind, sich wenn nötig auch über einen Streik für die Erfüllung ihrer Forderungen einzusetzen. „Wenn wir nicht reinigen, können keine Medikamente hergestellt werden. Wir wissen um unsere Stärke“, sagt einer von ihnen kurz bevor die Reiniger:innen zusammen mit solidarischen Menschen und den roten Fahnen zur Demonstration am Dornacherplatz aufbrechen.
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 14 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 988 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 490 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 238 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?