Das Lamm: Philipp Gerber, Sie sind in Zürich aufgewachsen, leben jetzt in Mexiko und engagieren sich für die zapatistische Bewegung. Man hat in den letzten Jahren eher wenig aus Chiapas gehört. Wie ist die Situation vor Ort?
Philipp Gerber: Es war jahrelang relativ ruhig in Chiapas, deswegen die Funkstille. Die zapatistische Bewegung, die 1994 den bewaffneten Aufstand gegen die mexikanische Regierung organisierte, war in den letzten Jahren nicht mehr militärisch aktiv. Sie hat sich darauf konzentriert, die indigene Autonomie auszubauen. Gleichzeitig war die Region bislang vom Drogenkrieg in Mexiko nur am Rande betroffen. Das hat sich jetzt geändert. In den letzten zwei bis vier Jahren hat sich in Chiapas vermehrt die Organisierte Kriminalität breitgemacht und ein Klima der Angst geschaffen. Vor ein paar Wochen kam es dann zur Eskalation.
Was ist passiert?
Am 5. Juli wurde der Menschenrechtler Simón Pedro Pérez López in der Stadt Simojovel erschossen. Dieses Ereignis war der Auslöser für einen lokalen Aufstand gegen Machthaber:innen, denen enge Verbindungen zur Organisierten Kriminalität nachgesagt werden.
Wer war Simón Pedro?
Simón Pedro Pérez López war bis letztes Jahr der Präsident der Organisation Las Abejas de Acteal, auf Deutsch: die Bienen von Acteal. Die Abejas sind christlich orientiert und arbeiten eng mit den befreiungstheologisch geführten Kirchen in Chiapas zusammen. Sie verstehen sich als Pazifist:innen, stimmen aber in der politischen Ausrichtung mit den Zapatistas überein: Das heisst, sie wollen keine wirtschaftlichen Grossprojekte auf ihrem Territorium, sie wollen indigene Autonomie, sie wollen als vollwertige Mitglieder der mexikanischen Gesellschaft anerkannt werden.
Was ist nach der Ermordung von Simón Pedro passiert?
Am 6. Juli, in der Nacht nach der Beerdigung, wurde der Hauptort der Region Pantelhó, Pantelhó Stadt, von Bewaffneten angegriffen. Zuerst wusste man gar nicht, was geschah. Bald wurde klar: Das ist die organisierte Bevölkerung der 86 Gemeinden von Pantelhó, die sich erhoben hat. Die Menschen haben versucht, auf eigene Faust Gruppierungen der Organisierten Kriminalität aus dem Hauptort zu vertreiben. Aus diesem Aufstand ist eine Selbstverteidigungsorganisation hervorgegangen, die sich El Machete nennt.
Stehen die Aufständischen von El Machete in Kontakt mit den Zapatistas?
Das ist eine eigenständige Gruppe ohne engere Verbindungen zu den Zapatistas.
Wer genau soll aus Pantelhó vertrieben werden?
Es geht um die Lokalfürsten, die sogenannten Caciques, und ihre Handlanger. Caciques sind so etwas Ähnliches wie Feudalherren, sie engagieren sich politisch, lassen sich wählen und machen Familienmitglieder zu Gemeindepräsident:innen. Wenn sich jemand mit ihnen anlegt, schrecken sie auch vor Mord nicht zurück.
In Chiapas speziell kommt zu den Caciques noch das Problem der Paramilitärs hinzu. Die paramilitärischen Gruppierungen wurden in den 90ern vom Staat unterstützt, um die Zapatistas zu bekämpfen. Sie wurden nach dem Waffenstillstand aber nie entwaffnet. Mit dem Aufkommen der Drogenkriminalität in den letzten Jahren haben sich diese Gruppen reorganisiert und neue Einnahmequellen aufgetan. Heute arbeiten sie zum Teil mit den Caciques zusammen.
Das ist die politische Gemengelage, in welcher der Mord an Simón Pedro geschehen konnte.
Philipp Gerber war in den 90er-Jahren in der linken Szene der Schweiz aktiv und engagiert sich seit dem Aufstand von 1994 für die Zapatistas. Er ist Mitbegründer der Gruppe Direkte Solidarität mit Chiapas, heute Direkte Solidarität. Nach einem Ethnologiestudium, das er mit der Arbeit „Das Aroma der Rebellion“ über Café RebelDía abschloss, zog er nach Mexiko. Er lebt heute im Bundesstaat Oaxaca, wo er mexikanische Gruppen im Kampf gegen wirtschaftliche Grossprojekte wie Staudämme und Bergwerke unterstützt. Neben seiner Arbeit für die Direkte Solidarität ist er in der Länderkoordination Mexiko für Medico International.
Warum eskaliert die Situation ausgerechnet jetzt?
Es ging um Betrug bei den kürzlich abgehaltenen Gemeindewahlen. Der Vorwurf war, dass ganze Gemeinden gezwungen wurden, für bestimmte Kandidat:innen zu stimmen. Ausserdem soll die Regierung von Pantelhó mit der Organisierten Kriminalität unter einer Decke stecken. Dorfvorstehende aus Pantelhó sprachen im Anschluss an die Wahlen beim Innenministerium von Chiapas vor, um auf die Missstände aufmerksam zu machen. Simón Pedro soll diese Initiative mitorganisiert haben. Kurz darauf wurde er umgebracht.
Was weiss man über die Vorgänge in Pantelhó? Wie ist die Informationslage?
Am Anfang war alles sehr unübersichtlich. Ungefähr dreissig Stunden war die Region abgeriegelt, es gab weder Telefonkontakt noch konnten Polizei und Militär in das Gebiet vordringen. Wie viele Verletzte und Tote es gab, ist unbekannt. Klar ist nur, dass in diesen Stunden Menschen aus den Gemeinden kriminelle Gruppen bekämpften, die sich im Hauptort verschanzt hatten.
Für die Zeit danach ist dann alles mehr oder weniger gut dokumentiert, auch über Journalist:innen, die vor Ort waren: Die Guardia Civil und das Militär haben den Hauptort besetzt und sind dort bis heute präsent.
Unterstützt die Guardia Civil die Bewohner:innen im Kampf gegen die Organisierte Kriminalität?
Diese Hoffnung bestand, bislang ist allerdings nicht viel geschehen.
Nachdem kurz Ruhe eingekehrt war, sind erneut Kämpfe aufgeflammt. Wie kam es dazu?
Zu Beginn des Konfliktes sind bis zu 3 000 Anwohner:innen in die Berge oder in den Nachbarbundesstaat geflohen. Mit der Präsenz von Militär und Polizei konnten die Menschen dann teilweise wieder in ihre Dörfer zurückkehren. Weil unter den Rückkehrenden aber auch Leute aus der Organisierten Kriminalität waren, hat sich die Situation nochmal drastisch verschärft.
Wie das?
Die Bewohner:innen wollten sich den Wiedereinzug der Mafia nicht gefallen lassen und haben Häuser von Familien mit Verbindung zur Organisierten Kriminalität angezündet und den Präsidentenpalast als Sitz der lokalen Regierung eingenommen. An dieser Aktion waren etwa 20 % der Gesamtbevölkerung beteiligt. Das Militär und die Guardia Civil hatten sich zurückgezogen und dem Geschehen zugesehen.
Sind also Angehörige der Organisierten Kriminalität am Ende Opfer eines aufgebrachten Mobs geworden?
Die Menschen haben sich nur gewehrt. Sie haben zurückgeschlagen, weil die Paramilitärs und Narcos die Dörfer seit 20 Jahren terrorisieren und gezielt Menschen ermorden. Ich hab das mit lokalen Vertrauensleuten abgeklärt: Hinter dem Aufstand steht keine andere lokale Mafiagruppierung oder etwas Ähnliches. Die Aktion war Notwehr, damit zwar eine Form von Selbstjustiz, aber ganz klar Selbstjustiz mit Unterstützung der Gemeinden und Gemeindevollversammlungen. Vielleicht kann man sagen: eine legitime, von den Vollversammlungen getragene Selbstjustiz.
Und trotzdem hat sich die Eskalationsspirale kürzlich noch weiter gedreht. Anfang dieser Woche, also um den 10. August, wurde der Sonderstaatsanwalt Gregorio Peréz in San Cristóbal de las Casas ermordet. Verschiedene Medien, zum Beispiel der Spiegel, melden, dass sich El Machete zu dem Mord bekannt haben, wahrscheinlich, weil Peréz auch ihre Vergehen untersuchen sollte.
Das war sicher nicht El Machete. Es würde keinen Sinn machen. Hinter dem Mord am Staatsanwalt steckt die Organisierte Kriminalität und mit ihr die örtliche Caciques-Familie. Ihre Verbrechen wollte Gregorio Peréz untersuchen, woraufhin er auf typische Mafia-Art umgebracht wurde. Die Vorgehensweise der Täter war sogar ähnlich wie bei der Ermordung von Simón Pedro in Simojovel: Zwei Personen auf einem Motorrad näherten sich Gregorio Pérez Gómez und erschossen ihn auf einer belebten Strasse mitten im Stadtzentrum von San Cristóbal de las Casas.
Wie wird es jetzt weitergehen?
Es könnte für eine Prognose noch etwas zu früh sein. Aber es sieht schon danach aus, dass die Organisation der Gemeinden stark genug ist, um ein Zurück zu den vorherigen Zuständen zu verhindern. Anfang August fanden erste Verhandlungen der aufständischen Bevölkerung mit den mexikanischen Behörden statt, die nun versprachen, die zahlreichen Verbrechen der Organisierten Kriminalität zu verfolgen. Ausserdem verbot die Bevölkerung in ihrer Gemeinde Pantelhó den Konsum von Alkohol und Drogen. Am 9. August kam es zu einer Vollversammlung der 86 Dörfer und 18 Quartiere des Hauptorts Pantelhó, auf der ein unabhängiger Gemeinderat gewählt wurde. In diese Situation platzte am 10. August die erschütternde Nachricht, dass der indigene Staatsanwalt, der die Verbrechen der Lokalfürsten untersuchen sollte, auf offener Strasse ermordet wurde. Einmal mehr wird klar, wie gross der Handlungsspielraum der Mafia ist und wie schlecht der mexikanische Staat auf eine konsequente Strafverfolgung vorbereitet ist.
Welches politische System schwebt den Aufständischen vor?
Die Menschen wollen weg von der Herrschaft der Parteien und ihrer lokalen Autoritäten hin zu einer, wie es hier heisst, Herrschaft auf Grundlage der Gebräuche und Sitten. Dabei handelt es sich um eine Art indigene Autonomie, die zum Beispiel im Bundesstaat Oaxaca schon weitgehend durchgesetzt ist und vom mexikanischen Staat auch anerkannt wird; im Gegensatz zur zapatistischen Autonomie, die de facto existiert, aber keine Anerkennung besitzt.
Die Zapatistas genossen in den 90er-Jahren grosse Aufmerksamkeit bei der internationalen Linken. Ist es für die Aufständischen von Pantelhó gefährlich, dass sie nicht mehr über diese Aufmerksamkeit verfügen?
Die Öffentlichkeit damals war extrem wichtig. Nur deswegen hat sich das mexikanische Militär in den 90er-Jahren zurückgehalten und ist der Staat am Ende in Verhandlungen eingetreten. Das hat die mexikanische Zivilgesellschaft in Zusammenarbeit mit der internationalen Linken erreicht. Darum wäre es natürlich wichtig, dass die Welt auch heute wieder genau auf die Vorgänge in Chiapas schaut.
Wer sich heute also für die Zapatistas und die beginnende indigene Selbstverwaltung in Pantelhó engagieren will, sollte weltweit für Öffentlichkeit sorgen. Wie könnte man da vorgehen?
Das ist recht einfach. Besonders die Zapatistas stellen diese Öffentlichkeit auch selber her. Gerade ist zum Beispiel eine kleine Delegation mit dem Segelschiff La Montaña von Mexiko nach Europa gefahren. Zum 500. Jahrestag der Kolonisation Mexikos drehen sie den Spiess um und erobern mit ihrer symbolischen Überfahrt den „alten“ Kontinent. Zusammen mit einer weiteren Delegation, die noch folgen wird, bereisen die Zapatistas Europa, um mit Genoss:innen aus vergleichbaren politischen Bewegungen ins Gespräch zu kommen.
Vom 27. bis 29. August finden in Basel Aktionstage zur Rundreise der Zapatistas statt. Eine Ausrede gibt es also nicht: Wer sich solidarisieren will, kann das tun. Auch vor der eigenen Haustür.
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