Träge wirft die 55-jährige Gabriela Garrido ein Netz ins Meer. Es ist ein kleines rundes Netz, dass an einem Eisenring aufgespannt ist, so gross wie ein Velorad. In der Mitte ist ein Fischkopf als Köder angebracht. Das Netz gleitet langsam an den Meeresboden. Ein einfaches Stück Styropor treibt auf der Wasseroberfläche und markiert die Einwurfstelle.
Gabriela Garrido jagt Krebse. Das Netz ist ihre Falle. Die Krebse nähern sich dem Fischkopf und beginnen dort zu essen. Nach einer Weile zieht Garrido das Netz wieder hoch, die Krebse werden mit nach oben gezogen. Heute sind es nur ein paar kleine Krebse, Garrido ist sichtbar enttäuscht. Sie schaut sich jedes einzelne Tier an. „Viel zu klein“, sagt sie erklärend und wirft sie wieder ins Meer. Sie fischt nur ausgewachsene Krebse, die mindestens doppelt so gross sind, doch es wird immer schwieriger, solche zu finden.
Noch vor wenigen Jahren hätte Garrido in ein paar Stunden ihr Boot mit ausgewachsenen Krebsen gefüllt. In den letzten Jahrzehnten ist der Bestand jedoch enorm zurückgegangen. Schuld daran sei der industrielle Fischfang und der fehlende Nachhaltigkeitsgedanke vieler Männer, sagen die fischenden Frauen.
Sie wollen das ändern, die Arbeit der Frauen anerkennen lassen und ihren Beruf vor dem Aussterben retten.

Fischfang – die regulierte Männerdomäne
Gabriela Garrido ist am Meer aufgewachsen. In Coliumo, einer kleinen Ortschaft rund eine Stunde entfernt von der Küstenstadt Concepción. Ihr Vater nahm sie schon als zwölfjähriges Mädchen mit aufs Meer, ebenfalls in einem kleinen Boot. Schon damals wurde sie misstrauisch beäugt. Noch heute sagen viele Fischer, dass die Präsenz von Frauen auf einem Boot Unglück bringt. Doch das Unglück ist längst Realität: Langsam und stetig gehen seit den 70er- und 80er-Jahren die Meerestierbestände zurück. Ein Phänomen, das ganz Chile aufgrund der Überfischung heimsucht.
Die chilenische Anthropologin Catalina Alvárez erzählt gegenüber das Lamm, dass Chile bis in die 80er-Jahre kaum gesetzliche Regulierungen für den Fischfang hatte. Mit der Abnahme der Bestände beschloss die damalige Militärdiktatur, dies zu ändern. Es ging um Fangquoten und um alles, was auf dem Meer geschieht. Alvárez meint: „Die damaligen Gesetzesmacher dachten an die Ressourcen und vergassen, Lebenstradition und Arbeit rund um den Fischfang komplett.“ Vor allem aber die Rolle der Frauen.
Denn die meisten Frauen beschäftigten sich mit dem Verarbeiten des Fangs, dem Reparieren der Netze und mit der Ernte von Algen, die entweder im flachen Ufer oder an Steinkliffen wachsen. Alles Arbeiten, die von der Gesetzgebung von damals kaum beachtet wurden. Obwohl man für das Sammeln von Algen eine Bewilligung braucht, haben Frauen bis heute häufig keine.
Es galt lange Zeit die Meinung, Frauen seien von der Bewilligung ihrer Männer miterfasst. Als Folge werden die Frauen von Weiterbildungen ausgeschlossen, über ihre Ehemänner bezahlt und haben keinen gesetzlich geregelten Schutz. Alvárez sagt dazu: „Die Behörden dachten zu Beginn, es gäbe nur männliche Fischer und kümmerten sich nicht um die Frauen.“ So blieb es lange Zeit.
Im Jahr 2012 beschloss das damalige rechtsdominierte Parlament ein neues Fischereigesetz. Es sollte die Fischerei weiter regulieren und die Bestände schützen. In der Tat verschenkte es jedoch weite Teile der Konzessionen an sieben reiche Familien und deren Unternehmen. Im Jahr 2018 wurde öffentlich, dass die Parlamentarier:innen für das Projekt Schmiergelder angenommen hatten. Die kleinen Fischer, wie der Vater von Garrido, gehen bis heute leer aus, denn seitdem dürfen sogenannte pescadores artesanales, solche die von Hand fischen, nur noch die küstennahen Gewässer bis zu fünf Seemeilen aufs Meer befischen.

„Den Männern geht es um Quoten, uns um die Natur“
Trotz unzähliger Versuche, das korrupte Gesetz abzuschaffen, gelang es den Fischer:innen bis heute nicht, das Machtgefüge zu verändern. Gleichzeitig, fast unbemerkt von der Öffentlichkeit, nimmt am 27. Mai 2021 der Senat ein Repräsentationsgesetz für die Fischerei an. Es stellt eine Mindestquote für Frauen in staatlichen Fischereibehörden auf und anerkennt eine Reihe von Arbeiten, ohne die die Fischerei nicht möglich wäre, als gleichwertige Tätigkeit.
Es ist ein kleines Gesetz, doch für Sara Garrido, die Schwägerin von Gabriela Garrido, ist es eine Revolution. Es geht um die Anerkennung ihrer Arbeit, ihrer politischen Tätigkeit und, wie sie hofft, den beginnenden Wandel in der Fischereikultur.
Und es ist ein Wandel im Konflikt um die Fischerei. Während über Jahre über Fangquoten und Fischereigebiete gestritten wurde, geht es Sara Garrido um einem Wandel im Kern der Fischerei. Sie will die komplette Fischerei verändern und sagt: „Den Männern geht es um Quoten, uns um die Lebenskultur und Natur.“ Die 46-Jährige ist die Präsidentin der landesweiten Organisation von Fischerinnen. Sie sitzt am Strand von Coliumo und erzählt von ihren Erfahrungen.
Vom kleinen Fischerdorf ging vor zwanzig Jahren eine landesweite Bewegung von Frauen aus der Fischerei aus, bei der Sara und Gabriela Garrido mit dabei waren. Genauso unbemerkt wie das Gesetz verwandelten sie sich in eine landesweite Kraft mit Mitgliedern im ganzen Land. Es sind tausende von Frauen, die sich im Kampf um Anerkennung ihrer Arbeit repräsentiert sehen.
Sara Garrido betont dabei, für die Rechte der Frauen und Gleichberechtigung zu kämpfen, aber keine Feministin zu sein. Eine politische Strategie, die es ihr ermöglicht, einen direkten Draht zu Parlamentarier:innen aller wichtigen Parteien zu haben und ungeachtet anderer politischer Positionen Lobbyarbeit zu leisten. Sehr erfolgreich, wie das angenommene Gesetz zeigt, das ohne Gegenstimmen durchs Parlament gebracht wurde.
Sara Garrido ist wie Gabriela Garrido Fischerin, sie sammelte vor allem Algen. Vor zehn Jahren verletzte sie sich bei einem Unfall am Rücken. Mehrere Wirbel sind bis heute verschoben, weshalb die Frau keine körperliche Arbeit mehr stemmen kann. Stattdessen ist Garrido Aktivistin geworden und vertritt Frauen wie Gabriela Garrido, die meist nur bis zur sechsten Klasse die Schule besucht haben, bis ins hohe Alter arbeiten und lange Zeit von ihren Männern aus der öffentlichen Wahrnehmung gedrängt wurden.

Handarbeit
Die beiden Frauen arbeiteten lange Zeit gemeinsam. Mit der Gründung einer eigenen Familie widmeten sich die beiden der typischen Frauenarbeit – dem Ernten von Algen, natürlich ohne gesetzlich vorgeschriebene Bewilligung. Die Frauen kennen Dutzende von verschiedenen Algenarten und deren indigene Namen, Cochayuyo und Luche sind die bekanntesten. Sie sind wichtiger Bestandteil der indigenen Küche und heute vor allem für den Export bestimmt.
Es ist eine harte Arbeit. Die Frauen gehen bekleidet ins eiskalte Pazifikwasser, klettern mit kiloschweren Rucksäcken auf die Klippen oder gehen mit einem Rechen durch die seichten Gewässer, um Algen zu ernten. Gabriela Garrido erzählt fast beiläufig, dass sie bei der Arbeit eine Fehlgeburt im siebten Monat hatte. „Man sagte, die zweite Schwangerschaft sei weniger riskant, deshalb arbeitete ich weiter, solange ich konnte.“
Das Meer, ohne das Gabriela Garrido nach eigener Aussage nicht leben könnte, ist auch ein Henker. Während der Suche nach Krebsen zeigt sie auf eine Klippe wenige Hundert Meter entfernt: „Dort ist mein Onkel gestorben. Zum Glück haben sie seinen Körper gefunden.“ Er ist nicht der einzige tote Verwandte. Auf Nachfrage zählt Gabriela Garrido zwei weitere auf, die während der Arbeit umgekommen sind. Schuld daran sind Unwetter, der Wellengang an den Klippen, Schäden am Boot oder Unfälle. Auch ein plötzlicher Infarkt bedeutet auf dem Meer den sicheren Tod.
Die Fischer:innen sind stolz auf ihre Arbeit, doch gerecht entlohnt wird sie nicht. Ein Kilo reines Krebsfleisch können sie für gerade einmal 16 Franken verkaufen, dahinter aber stecken mehrere Stunden Arbeit, deren Erfolg von Zufällen wie Wetter oder Jagdglück abhängt.
Der Tod eines meist männlichen Angehörigen bedeutet daher den sicheren Absturz in die Armut. Obwohl Fischer:innen für ihre Arbeitsgenehmigung eine Lebensversicherung brauchen, hilft diese kaum. Die Anthropologin Alvárez meint: „In Chile bietet allein die staatliche Bank eine Versicherung an und diese kommt ironischerweise kaum für Unfälle auf dem Meer auf.“ Die Witwe von Gabriela Garridos’ Onkel, bekam von der Versicherung eine Einmalzahlung von 180 Franken – in etwa ein halber Monatslohn.

Algenkrieg
Bei der Algenernte begann der Aktivismus der Frauen. Um die Jahrtausendwende war der wirtschaftliche Druck so hoch, dass manche Fischer aus den Nachbardörfern anfingen, in den Gebieten der Frauen von Coliumo Algen zu ernten. Sie ernteten deutlich intensiver, gingen mit Tauchanzügen und Luftschläuchen bis auf den Meeresboden und schnitten alles kahl – das verunmöglichte das Nachwachsen der Algen.
Es war der Beginn eines gnadenlosen Konflikts. Die Frauen schoben Wache, organisierten sich und griffen mit Booten die Taucher an. Teilweise schnitten sie die Luftschläuche durch und zwangen die Männer zum Auftauchen. Diese versuchten daraufhin, die Frauen von den Klippen und Booten zu werfen. Das Problem: Da die Frauen ihre Arbeit nie formalisiert hatten, obwohl sie schon immer dort arbeiteten, konnten sie von den Behörden keine Hilfe erwarten. Es galt das Recht der Stärkeren.
„Der Konflikt hat uns Frauen Kraft gegeben“, sagt Sara Garrido. Nach der erfolgreichen Vertreibung der Taucher begannen sie, sich um andere Probleme zu kümmern. Sie brauchen unbedingt die Anerkennung durch den Staat, dafür wollen sie Teil der offiziellen Fischerorganisationen werden und Kontakt mit den Behörden aufnehmen. Was sich jedoch als fast unmöglich erweist. Die Frauen werden aus den Sitzungen ausgeschlossen. Sara Garrido wartet teilweise tagelang vor den Büros der Behörden, deren Funktionäre das Haus über den Hintereingang verlassen. Sie erzählt: „Wir wurden als Frauen nicht ernst genommen.“
Deshalb gründeten sie eine Organisation nur aus Frauen, zuerst in Coliumo, später auch in anderen Ortschaften. Gabriela Garridos’ Ehemann Alejandro Aedo unterstützt sie dabei, auch heute fährt er das kleine Boot mit den Paddeln und ist sichtlich Stolz. Doch nicht alle haben das gleiche Glück. Gabriela Garrido erzählt: „Wir mussten zu Beginn die Sitzungen am Sonntag durchführen, damit die Frauen ihre Männer anlügen und sagen konnten, sie würden zum Gottesdienst gehen.“

„Es braucht einen Kulturwandel“
Mit der Zeit beginnt sich alles zu wandeln. Mittlerweile ist die Organisation der Fischerinnen in allen Landesteilen vertreten und in Coliumo sitzt der lokalen Hafenverwaltung seit ein paar Jahren eine Frau vor. Für Sara Garrido eine logische Folge: „Wir Frauen sind besser organisiert, mit Fischerinnen ist es möglich zu arbeiten.“ Die Männer seien weniger kontinuierlich in der Arbeit und sehr chaotisch organisiert.
Camila Rojas, eine linke Parlamentarierin, bestätigt gegenüber das Lamm diese Haltung und meint, dass auf der besseren Organisation auch der politische Erfolg der Frauen beruht. Bei der Erarbeitung des Gesetzestextes „haben die Frauen beispielhaft gearbeitet, sehr klar und deutlich ihre Forderungen vorgestellt“, so Rojas. Es geht um eine kontinuierliche Arbeit, die klar und deutlich Druck aufgebaut und Allianzen geschmiedet hat.
Doch auf nationaler Ebene besteht noch viel Nachholbedarf. Auf ihren Reisen begegnet Sara Garrido immer wieder Situationen, in denen Frauen einzig den Tee an Sitzungen servieren, immer noch nicht aufs hohe Meer dürfen oder bei Sitzungen mit Behörden vor den wichtigen Tagesordnungspunkten von den Fischerkollegen rausgeworfen werden. „Und die Funktionäre lassen das einfach so zu“, meint sie erzürnt.
Es brauche einen grundsätzlichen Kulturwandel in der Fischerei, weg von der wirtschaftlichen Sicht, hin zu einer Anerkennung und Förderung der Lebenskultur der Fischerei. „Wir sind indigene Mapuche-Lafkenche und fischen hier seit Jahrhunderten. Wir sind die letzten Jäger:innen und Sammler:innen“, erklärt Garrido. „Anthropolog:innen und Soziolog:innen sollen in den Behörden sitzen, nicht nur Wirtschaftswissenschaftler. Die haben in den letzten 30 Jahren genügend Schaden angerichtet.“
Das Erfolgsmodell für Sara Garrido wäre eine Fischerei, die auf dem Meer gänzlich von traditionellen Fangmethoden geprägt ist, welche es erlauben, die richtigen Arten auszuwählen und Jungtiere wieder zurück ins Meer zu lassen, so wie es Gabriela Garrido mit ihren Krebsen macht.
Doch dafür braucht es politische Entscheidungen und den Willen, die Kleinfischerei zu stärken. Die Quoten müssen neu verteilt werden, es braucht Programme zur Arbeitssicherheit, finanzielle Unterstützung bei Katastrophen und höhere Preise für Fischereiprodukte. Kurzum: Die Arbeit auf und neben dem Meer braucht mehr Anerkennung, besonders jene der Frauen.
Die Reportage ist in Zusammenarbeit mit der deutschen Wochenzeitung der Freitag entstanden.
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