Das Lamm: Am Donnerstag, 27. Januar, wurde Xiomara Castro als erste Frau in Honduras zur Präsidentin vereidigt. Die Amtseinführung fand in einem gefüllten Fussballstadion statt, Sie waren als Umweltaktivist eine der eingeladenen Personen. Wie hat sich dieser Moment angefühlt?
Christopher Castillo: Es war ein einzigartiger und historischer Moment. Xiomara Castro tritt mit einem enormen Legitimitätsvorsprung an. Vor dem gefüllten Stadion wimmelte es von Menschen, die der neuen Präsidentin zujubelten. Die vorherigen rechten Präsidenten schafften es nicht einmal, das Stadion zu füllen. Es erfüllt mich mit einem Gefühl des politischen Sieges, das honduranische Volk so zu sehen, die Kunstschaffenden und die sozialen Bewegungen, die seit Jahren Widerstand gegen die Diktaturen leisteten.
Honduras wurde seit dem Putsch von 2009 von zwei rechten Präsidenten regiert. Stellt die neue Regierung ein Ende dieser Phase dar?
Ja, das Land wurde über Jahre hinweg vom Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat geleitet, welcher vom Präsidenten und dem Militär geführt wird. Unter dieser Leitung wurden zwei Gesetze verabschiedet, die meiner Meinung nach das Land offiziell zur Diktatur erklärten: ein weitreichendes Überwachungsgesetz und ein Gesetz zur Geheimhaltung staatlicher Dokumente.
Was hatte das für Auswirkungen?
Morde wurden zum Alltag in den Strassen von Honduras. Die Justiz war fast nicht mehr präsent, über 98 Prozent der eingereichten Klagen führten weder zu Ermittlungen noch Gerichtsverhandlungen. Es herrschte ein Klima der Straflosigkeit. 2017 war Honduras das gefährlichste Land der Welt für Umweltschützer:innen, die sich gegen kontaminierende Industrieprojekte wehrten.
Zudem wurde die Wirtschaft schwer geschädigt. Seit 2010 ist das Bruttoinlandsprodukt um 2.1 Prozent zurückgegangen.
Castillo ist Umweltaktivist und Teil der LGBTQ-Bewegung von Honduras. Er ist 26 Jahre alt und gründete im Jahr 2018 mit anderen Aktivist:innen die Umweltorganisation ARCAH – die Alternative zur Gemeinschaftlichen Förderung der Umwelt von Honduras.
Zur Amtseinführung Ende Januar ist unter anderem die US-Amerikanische Vizepräsidentin Kamala Harris eingeflogen. Was bedeutet die internationale Präsenz für Honduras?
Unter der Vorgängerregierung von Juan Orlando Hernández war Honduras auf internationaler Ebene komplett isoliert. Nicht nur Kamala Harris war am 27. Januar anwesend, sondern auch der spanische König, Vertreter:innen des Vatikans und eine grosse Menge an Persönlichkeiten der Linken Lateinamerikas, wie etwa die ehemaligen Präsidentinnen Dilma Rousseff und Christina Kirchner. Das zeigt: Honduras ist wieder zurück auf der internationalen Bildfläche und positioniert sich innerhalb der linken Regierungen des Kontinents.
Sämtliche Wahlen seit dem Putsch von 2009 wurden von Wahlfälschungen begleitet, die die Wiederwahl des rechten Lagers ermöglichten. Auch 2021 erwarteten Beobachter:innen ähnliche Vorkommnisse. Warum hat Xiomara Castro trotzdem die Wahl gewonnen?
Das hat vor allem drei Gründe: Zum Ersten ist der rechte Sektor und die honduranische Oligarchie gespalten und deren Partei, die Nationale Partei, implodiert. Der bisherige Präsident Juan Orlando Hernández ist nicht Teil der traditionellen Elite, die ihn stets argwöhnisch betrachtet hat. Seine Nähe zum organisierten Drogenhandel und seine neoliberale Politik richteten für die traditionelle Geschäftselite immense Schäden an. Deswegen wanderte ein Teil der Industriellen und Liberalen zur linken Castro ab.
Zweitens wurde die Partei von Xiomara Castro, LIBRE, in den nationalen Wahlrat integriert. Dies erhöhte die Kontrolle und verhinderte Fälschungen im grösseren Mass. Drittens war die Wahlbeteiligung so massiv, dass keine Fälschung standhalten konnte. Seit den 90er-Jahren war nicht mehr ein so grosser Teil der Bevölkerung an den Wahlen beteiligt. Castro ist die Präsidentin mit den meisten Stimmen in der Geschichte des Landes.
Wie beurteilen Sie die erste Woche der neuen Regierung?
Castro hat viel Aufsehen durch eine Menge an symbolischen Akten mit Schlagkraft erregt. Sie hat zum Beispiel eine Neuorientierung der wirtschaftlichen Beziehungen angekündigt. Erstmals werden direkte Beziehungen zu Kontinentalchina aufgenommen – bislang hat Honduras offizielle Beziehungen mit Taiwan – und Honduras wird fortan Öl aus Venezuela importieren. Wir entfernen uns also etwas von der Hegemonie der USA.
Am Samstag, den 29.1, wachten wir zudem mit günstigeren Energiepreisen auf. Castro senkte per Dekret die Preise für die Bevölkerung, garantierte den Ärmsten kostenlosen Strom und versprach, den grossen Unternehmen höhere Preise abzuverlangen. Das ist eine konkrete Politik der Umverteilung und eine Kampfansage an die Oligarchie. Es gab Unternehmen, die über Jahre ihre Stromrechnungen nicht zahlten und ihre Schulden mit einem Bruchteil des eigentlichen Werts tilgen konnten.
Ganz konkret geschieht eine Öffnung gegenüber der Bevölkerung: Die Zäune, die den Weg zum Parlament versperrten, sind verschwunden. Und bei der Vereidigung waren Indigene und soziale Bewegungen anwesend – ein Novum.
Castro war die Präsidentschaftskandidatin der 2011 von Manuel Zelaya gegründeten Partei LIBRE – Freiheit und Neugründung. Zelaya wurde 2009 vom honduranischen Militär geputscht. Für die Wahlen vom 28. November vereinte Castro grosse Teile der Opposition und gewann mit 51.12 Prozent der Stimmen. Im Parlament fehlt der Regierung mit 50 von 128 Abgeordneten eine Mehrheit.
Ein wichtiger Kampf des letzten Jahres war der Widerstand gegen die freien Städte (das Lamm berichtete). Wie sieht deren Zukunft aus?
Die neue Regierung wehrt sich stark gegen das Projekt der freien Städte. Sie hat angekündigt, das Gesetz zu widerrufen, das die freien Städte erlaubt. Die bisherigen Projekte – über 2’000 im ganzen Land – können aber gar nicht mehr per Gesetz aufgelöst werden. Die Unternehmen dahinter werden nicht einfach so aufgeben. Eine der wichtigsten, die ZEDE Próspera, hat angekündigt, den Staat wegen Vertragsbruchs zu über 150 Millionen Dollar zu verklagen.
Ist das realistisch?
Die Unternehmen hinter den freien Städten haben wichtige Verbündete. Der US-Amerikanische Abgeordnete Chip Roy warnte die neue Regierung vor der Schädigung US-Amerikanischer Geschäftsinteressen und ‑beteiligungen. Sofern die Unternehmen vor nationale Gerichte gehen, ist es gut möglich, dass sie gewinnen. Sowohl die Spitzen der Staatsanwaltschaft als auch der Gerichte wurden von der Vorgängerregierung eingesetzt und stehen politisch der Rechten nahe.
Zwölf Jahre lang hat die Rechte das nationale Geschehen dominiert. Was bedeutet es, einen solchen Staatsapparat zu übernehmen?
Die Regierung von Xiomara Castro muss zuerst die organisierte Drogenkriminalität aus dem Staatsapparat verbannen. Die alte Regierung war tief in den Drogenhandel verwickelt und hat wichtige Posten mit dessen Vertreter:innen besetzt. Danach muss die Verbindung zwischen Drogenhandel und Banken getrennt werden, denn über diese wurde das Geld gewaschen.
Und wenn das nicht gelingt?
Dann wird die Regierung Mühe haben, ihre Vorhaben umzusetzen. Castro ist als Präsidentin des Landes auch die Oberbefehlshaberin der Streitkräfte, doch diese wurden über Jahre hinweg zur politischen Verfolgung der Opposition genutzt. Ich bin leider davon überzeugt, dass die Rechte weiterhin versuchen wird, politische Gewalt anzuwenden. Weil sie aber keine Macht mehr über das Militär besitzt, wird sie paramilitärische Gruppierungen gründen und Auftragsmörder bezahlen. Das ist eine enorme Gefahr für die Regierung, weil dadurch ein Klima der Unregierbarkeit geschaffen wird.
Was kann die Bevölkerung angesichts dieser Gefahren überhaupt von der neuen Regierung erwarten?
Die Rechte wird versuchen, ein politisches Chaos zu schaffen, um eine Wiederwahl von LIBRE auf Dauer zu verhindern. Aufgrund dieser Gefahr wird Castro das politische Instrument der direkten Bevölkerungsbefragungen vermehrt einsetzen. Das erlaubt der Regierung, die Bevölkerung direkt über gewisse Gesetzesvorhaben abstimmen zu lassen und so das Parlament zu umgehen – denn dort fehlt der Regierung eine Mehrheit.
Als Zweites wird die Regierung eine verfassungsgebende Versammlung einberufen, um eine neue Verfassung zu schreiben. Das ist ein wichtiger Schritt, denn seit dem Putsch von 2009 verlangt ein grosser Teil der Bevölkerung eine Neugründung des Staates. Eine verfassungsgebende Versammlung wäre ein Gegenprojekt zur Macht der Banken und der Unternehmer:innen.
Sie selbst sind LGBTQ-Aktivist. Wird sich für queere Menschen etwas ändern?
Auf kultureller Ebene wird es deutlich langsamer vorangehen. Über die Regierungspartei LIBRE wurde unter anderem ein LGBTQ-Aktivist ins Parlament gewählt. Das wurde in der öffentlichen Debatte sehr kritisiert und zeigt, wie konservativ Honduras ist. Gerade Themen wie die Rechte von LGBTQ-Personen oder das Recht auf Abtreibung wird die Regierung vorsichtig angehen müssen.
Die Wahl einer Präsidentin zeigt: Wir haben bereits Fortschritte gemacht.
Die wichtigsten Kontrahenten in diesen Themen sind die evangelikalen Kirchen. Schon jetzt ist Castro mit dem Stigma belegt, dass Sozialismus mit Atheismus gleichgesetzt wird. Wenn sie nun auch noch dem gesellschaftlichen Ideal der konservativen Freikirchen etwas entgegensetzt, stärkt sie dessen Angst, Macht zu verlieren. Sie werden daher alles daran setzen, ihre Privilegien und konservativen Gesellschaftsvorstellungen zu verteidigen.
Honduras ist international aufgrund des Mordes an der indigenen Umweltaktivistin Berta Cáceres in die Medien gekommen. Wie positioniert sich die neue Regierung in Bezug auf den Schutz der Umwelt und die Rechte der Indigenen?
Die Tochter von Berta Cáceres, Berta Zúñiga, hat beim Amtsantritt in Vertretung der Indigenen Völker der neuen Regierung die Vara Alta Lenca übergeben – einen Stab, der die spirituellen Autoritäten der Indigenen symbolisiert und der neuen Regierung Legitimität gegenüber der indigenen Bevölkerung schafft. Er ist aber gleichzeitig auch ein Symbol, das die Regierung daran erinnert, ihre Versprechen gegenüber den Indigenen einzuhalten.
Castro ist überzeugt von einer Beziehung des Respekts und der Wiedergutmachung gegenüber der indigenen Bevölkerung. Das bedeutet zwingend den Rausschmiss von Minen- und Staudammunternehmen aus indigenen Gebieten – was auch ein wichtiger Schritt für mehr Umweltschutz darstellt. Allgemein hat die Regierung ein Ende der Kriminalisierung von Umweltschützer:innen versprochen.
Vertrauen Sie auf dieses Versprechen?
Ja. Unserer Umweltbewegung wurde sogar angeboten, Teil der neuen Regierung zu sein – ein Angebot, das wir abgelehnt haben. Wir vertreten als Organisation zum Teil anarchistische Ideale, die auf keinen Fall mit der Beteiligung an einer Regierung vereinbar sind. Die Einladung zeigt jedoch deutlich, was das Ziel der neuen Regierung ist: eine enge Beziehung und vor allem eine gute Zusammenarbeit mit der Bevölkerung.
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