„Wir heizen nicht, aber ein bisschen warm haben es unsere Erdbeeren trotzdem“, sagt Simon Räss vor den Folientunnels auf dem Wildbeerenhof im Zürcher Weinland. Die Richtlinien im biologischen Anbau schränken das Beheizen von Gewächshäusern und Tunnels stark ein. Gegen kalte Nächte und Frost sind die Erdbeeren auf dem Bio-Hof dennoch geschützt. „Mit der Folie des Tunnels gewinnen wir schon mal ein bis zwei Grad. Bedeckt ein Vlies die Erdbeeren, kommen nochmal ein bis zwei Grad dazu“, erklärt Räss. „Legen wir zusätzlich ein zweites Vlies über das erste, kann die Aussentemperatur bis zu ‑7 Grad betragen, ohne dass die Erdbeeren erfrieren.“
Auf 1.5 Hektaren werden auf dem Wildbeerenhof rund 18 Tonnen Erdbeeren produziert. Das klingt nach viel, entspricht verhältnismässig aber einer kleinen Menge. Den Erdbeeranbau zu vergrössern, ist laut Simon Räss aber keine Option.* Bei den tiefen Marktpreisen der Detailhändler*innen sei die Gefahr von Ausfällen bei den Bio-Erdbeeren einfach zu gross. „Wir produzieren für unseren Hofladen und für Bioläden in Winterthur und Schaffhausen“, sagt Räss. Die höchsten Umsätze macht der Hofladen während der Erdbeersaison. Die Leute kommen aus den umliegenden Dörfern und schätzen die Erdbeeren sehr, die nur während einer kurzen Zeit zu haben sind. Dieses Jahr beginnt die Erdbeer-Saison bei Räss in der letzten Aprilwoche und dauert bis in den Juli hinein.
Nachhaltigere Erdbeeren?
Blass liegen die Erdbeeren in einer durchsichtigen Schale. „Wasserschonend“, steht auf einem Kleber, daneben das Piktogramm einer Welle. Gleich darunter verspricht die Abbildung eines Handschlages sozialverträgliche Arbeitsbedingungen. Zuletzt soll der Umriss eines Schmetterlings um eine Blüte von den Bemühungen um Artenvielfalt erzählen. Beworben werden so aber nicht die Beeren von Simon Räss, sondern solche, die aus der südspanischen Region Huelva importiert und schon seit März in den Regalen einer grossen Schweizer Detailhandelskette verkauft werden.
Diese seien im Vergleich zu den Schweizer Erdbeeren nachhaltiger, schrieb der Tagesanzeiger im April. Was zuerst kontraintuitiv klingt, hat einen einfachen Grund: Die Hochsaison für Erdbeeren beginnt in Spanien zwei Monate früher als in der Schweiz, wo die Gewächshäuser beheizt werden müssen. Das wirkt sich negativ auf die Ökobilanz von Schweizer Erdbeeren aus konventionellem Anbau aus, denn das Beheizen der Gewächshäuser verursacht mehr CO2 als die Kühlung und der Transport der Erdbeeren aus Spanien.
Als weiteres Argument für die Nachhaltigkeit wird angeführt, dass die Erdbeeren aus Spanien mit flächendeckender Tropfschlauch-Bewässerung wassersparend produziert werden. Dabei wird eine genau bemessene Menge Wasser direkt zur Wurzel der Pflanze geführt. Das verringert zwar die Verdunstung, aber trotzdem wird dabei Wasser verwendet, das in der Region eigentlich zu knapp ist. Der effizientere Wasserverbrauch direkt an den Beeren führt eher dazu, dass die Anbauflächen stetig wachsen.
Grundsätzlich würden an weniger trockenen Orten in Spanien die durchschnittlichen Niederschläge für die Produktion ausreichen, so die Detailhandelskonzerne. In den Anbauregionen Spaniens regnet es insgesamt aber immer seltener und weniger. Insbesondere der Süden ist seit Langem von extremen Dürrephasen betroffen. Für eine Schale Erdbeeren braucht es eine volle Badewanne Wasser. Es ist Klimawandel und Andalusien nicht mehr der ideale Ort, um Erdbeeren anzubauen.
Hinzu kommen die sozialen Auswirkungen der Beerenproduktion: Nur 170 Kilometer von Huelva entfernt untersuchte das Tagesanzeiger-Magazin die Anbaubedingungen für Beeren in der portugiesischen Region Alentejo. Das Fazit: Die Beerenproduktion in Portugal schafft kaum Mehrwert für die lokale Bevölkerung und Infrastruktur, das Land vertrocknet und wertvolle Biotope verschwinden. Dieselben Probleme werden in Andalusien durch die wachsenden Anbauflächen verschärft. Systematischer Missbrauch migrantischer Arbeiter*innen und ihrer prekären Lebensumstände sowie massive Menschenrechtsverletzungen sind mittlerweile gut dokumentiert. Sind Erdbeeren also nachhaltig, solange die Ökobilanz stimmt?
Nachhaltigkeit muss vielseitiger sein
Das Zürcher Weinland ist bekannt für sein mildes Klima. Die Ausläufer des Juras halten den Regen um den Bio-Beerenhof ab. Das trockenere Klima tut den Beeren gut und verringert das Wachstum von Schadpilzen wie beispielsweise Botrytis, die für grosse Ausfälle im Beerenanbau sorgen.
Trotz des trockenen und warmen Mikroklimas im Weinland gibt es aber genügend Wasser für den Beeren-Anbau. Bei Schaffhausen wird der Rhein durch das Wasserkraftwerk zurückgestaut und so ist selbst während der Sommermonate genügend Wasser verfügbar. Mit relativ geringem technischem Aufwand gelangt das Wasser von dort zu den nahegelegenen Erdbeerfeldern des Wildbeerenhofs.
Auf dem Hof wachsen neben Erdbeeren auch Himbeeren, Brombeeren, Aronia, Cassis, Goji, Sanddorn, Felsenbirnen, Heidelbeeren, aber auch Äpfel, Birnen, Tafeltrauben und vieles mehr. Der Beerenanbau ist Teil eines lebendigen Ökosystems mit Nützlingen und Schädlingen. Viele Strukturelemente wie Ast- und Steinhaufen prägen die Flächen des Betriebes.
Während der Hochsaison beschäftigt der Wildbeerenhof fast 100 Personen. Rund die Hälfte der Arbeiter*innen kommt aus Polen und Rumänien und arbeitet nur für kurze Zeit auf dem Hof, viele Erntehelfer*innen kommen auch aus der Region. Der Mindestlohn für saisonale Arbeitskräfte liegt bei 3’300 Schweizer Franken – bei einem Stundenlohn von 14.55 Franken und einer täglichen Arbeitszeit von 9.5 Stunden.
Die Standards für arbeitnehmende Saisoniers sind zwar auch in der Schweiz tief angesetzt, aber im Gegensatz zu den schwer zugänglichen Plantagen in Spanien können die Arbeitsbereiche der Mitarbeiter*innen auf dem Räss-Wildbeerenhof von allen Interessierten besichtigt werden. Die Arbeitsverhältnisse werden regelmässig durch den Kanton und durch Bio Suisse überprüft.
Das Problem mit der Ökobilanz
Die Diskussion um die Erdbeeren aus Spanien wirft Fragen auf. Sollte der Handel nicht einfach stärker auf saisonale und regionale Waren setzen? Sind Erdbeeren aus Spanien wirklich nachhaltiger oder stimmt etwas mit der Nachhaltigkeitsanalyse nicht?
Ökobilanzen sind nur begrenzt aussagekräftig. Sie berechnen klassischerweise den CO2-Ausstoss, den ein Produkt von der Herstellung bis zur Entsorgung verursacht. Das greift zu kurz. Aus dem Umfeld des Forschungsinstituts für biologischen Landbau (FiBL) stammt ein Konzept zur erweiterten Nachhaltigkeitsanalyse. Das SMART-Farm-Tool untersucht zusätzlich zum CO2-Ausstoss weitere Indikatoren wie die ökologische Stabilität, das soziale Gefüge oder die betriebswirtschaftliche Nachhaltigkeit eines landwirtschaftlichen Unternehmens.
Ein Betrieb wie der Räss-Wildbeerenhof weist einige Indizien für ein breiter gefasstes Verständnis für Nachhaltigkeit auf. Dafür sind die Bio-Beeren teurer und während einer kürzeren Zeit zu haben.
Die glänzende Nachhaltigkeitsbilanz der spanischen Erdbeeren ist also vor allem eine Frage des Vergleichs. Sie basiert darauf, dass sich das Bedürfnis nach Erdbeeren unabhängig von der eigentlichen Saison etabliert hat. Der Detailhandel fordert von den Produzent*innen in der Schweiz trotz tiefer Temperaturen, dass möglichst bald nach den Erdbeeren aus Andalusien auch Erdbeeren aus der Schweiz zu haben sind. Denn den Konsument*innen scheint bei Erdbeeren aus der Schweiz doch etwas wohler zu sein, auch wenn ihre Sehnsucht nach den Früchten sprichwörtlich aus der Zeit fällt.
Spanische Erdbeeren, die ab März als nachhaltig verkauft werden, erhöhen indirekt den CO2-Ausstoss konventioneller Erdbeeren aus Schweizer Produktion und verschärfen die ökonomischen Rahmenbedingungen für den Erdbeeranbau. Der Detailhandel drückt mit der billigen Importware die Preise und überdehnt mit seinem Angebot die eigentliche Saison für Erdbeeren – auf Kosten der Umwelt.
*In einer früheren Fassung stand, dass es sich laut Simon Räss nicht lohne, für den Schweizer Grosshandel zu produzieren. Diese Aussage war zu allgemein gehalten, weil sie nicht auf alle Beeren des Wildbeerenhofs zutrifft.
Journalismus kostet
Die Produktion dieses Artikels nahm 30 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1820 einnehmen.
Als Leser*in von das Lamm konsumierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demokratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produktion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rechnung sieht so aus:
Wir haben einen Lohndeckel bei CHF 22. Die gewerkschaftliche Empfehlung wäre CHF 35 pro Stunde.
CHF 1050 → 35 CHF/h für Lohn der Schreibenden, Redigat, Korrektorat (Produktion)
CHF 510 → 17 CHF/h für Fixkosten (Raum- & Servermiete, Programme usw.)
CHF 260 pro Artikel → Backoffice, Kommunikation, IT, Bildredaktion, Marketing usw.
Weitere Informationen zu unseren Finanzen findest du hier.
Solidarisches Abo
Nur durch Abos erhalten wir finanzielle Sicherheit. Mit deinem Soli-Abo ab 60 CHF im Jahr oder 5 CHF im Monat unterstützt du uns nachhaltig und machst Journalismus demokratisch zugänglich. Wer kann, darf auch gerne einen höheren Beitrag zahlen.
Ihr unterstützt mit eurem Abo das, was ihr ohnehin von uns erhaltet: sorgfältig recherchierte Informationen, kritisch aufbereitet. So haltet ihr unser Magazin am Leben und stellt sicher, dass alle Menschen – unabhängig von ihren finanziellen Ressourcen – Zugang zu fundiertem Journalismus abseits von schnellen News und Clickbait erhalten.
In der kriselnden Medienwelt ist es ohnehin fast unmöglich, schwarze Zahlen zu schreiben. Da das Lamm unkommerziell ausgerichtet ist, keine Werbung schaltet und für alle frei zugänglich bleiben will, sind wir um so mehr auf eure solidarischen Abos angewiesen. Unser Lohn ist unmittelbar an eure Abos und Spenden geknüpft. Je weniger Abos, desto weniger Lohn haben wir – und somit weniger Ressourcen für das, was wir tun: Kritischen Journalismus für alle.
Einzelspende
Ihr wollt uns lieber einmalig unterstützen?