Gegen Wind­mühlen

In Chile boomen erneu­er­bare Ener­gien, doch Umweltaktivist*innen kriti­sieren neoko­lo­niale Verhält­nisse. Der Traum vom schnellen Ener­gie­wandel könnte zum Albtraum werden. 
Cristian Osorio sieht die Umwelt um sein Dorf La Estrella gefährdet. (Foto: Malte Seiwerth)

Mit Wut im Bauch fährt Cristián Osorio über die kleinen Strassen seiner Gemeinde an der chile­ni­schen Küste. Er zeigt mit dem Finger in Rich­tung Meer, weisse Pfosten spriessen zwischen der Strasse und den steilen Felsen wie Pilze aus dem Boden. „Hier wird einer der Wind­parks gebaut“, sagt er und zeigt in die andere Rich­tung und meint, „hier soll auf mehr als 80 Hektar ein Solar­park entstehen“. Was für viele vor dem Hinter­grund des rapide voran­schrei­tenden Klima­wan­dels und der viel zu lang­samen Zuwen­dung zu erneu­er­baren Ener­gien hin eine posi­tive Nach­richt wäre, ist für den Imker Osorio eine Horror­vor­stel­lung. Er sieht dadurch sein Dorf bedroht.

Chile erlebt derzeit einen Boom der erneu­er­baren Ener­gien. In nur acht Jahren, von Januar 2015 bis Januar 2023, ist der Anteil erneu­er­barer, nicht konven­tio­neller Ener­gie­er­zeuger, vor allem Solar und Wind, am allge­meinen Strommix des Landes von knapp zehn auf fast 40 Prozent gestiegen. Wachs­tums­zahlen, von denen man in der Schweiz nur träumen kann. Während die Politik mit einem baldigen Ende von Gas- und Kohle­kraft­werken froh­lockt und den Export von Energie in Form von Wasser­stoff voran­treibt, fühlen sich die Anwohner*innen über­rum­pelt. Beson­ders linke Umwelt­or­ga­ni­sa­tionen wehren sich primär gegen eine vermeint­liche Ener­gie­wende, die vor allem den Konzernen und zukünf­tigen Exporteur*innen in Form von Profiten in die Hände spielt.

Vom Traum zum Albtraum

Osorio lebte einst in der Gross­stadt Sant­iago zog sich dann aber zurück in sein Heimat­dorf La Estrella, rund zwei­ein­halb Stunden von Sant­iago entfernt. Hier genoss er die Ruhe und arbei­tete in der lokalen Gemein­de­ver­wal­tung. Er besinnt sich in die Vergan­gen­heit und erzählt, wie vor sieben Jahren die ersten Unter­nehmen Solar- und Wind­kraft­an­lagen in der Gegend zu bauen begannen. La Estrella und Nach­bar­ge­meinde Litueche sind wie gemacht für die Ener­gie­träger, es liegt auf einem Hoch­pla­teau in der Nähe der windigen Küste, hat viele Sonnen­tage und gleich in der Nähe einen riesigen Stau­damm, der die nötige Infra­struktur für den Abtrans­port der Energie bereitstellt.

„Zu Beginn waren wir glück­lich“, meint der 36-Jährige, „wir dachten, die grüne Energie würde uns allen zugu­te­kommen“. Doch statt Arbeits­plätze in der Gegend zu gene­rieren, wurden die Arbeiter*innen von den Baukon­zernen aus anderen Gemeinden herge­fahren. Die Konzerne bezahlen zudem kaum Abgaben in der kleinen Gemeinde, ihre Steu­er­sitze liegen ausser­halb, in den wohl­ha­ben­deren Gemeinden von Sant­iago. Gerade während der Bauar­beiten bemerkten die lokalen Dorfbewohner*innen, wie Füchse und andere Klein­tiere auf der Flucht vor den Baggern, Bohr­ma­schinen und der Zerstö­rung ihres Habi­tats in ihrer Ortschaft Zuflucht suchten. Osorio erzählt: „Die älteren Solar­an­lagen erhitzen sich teil­weise und können dabei Brände auslösen.“ Das ist umso fataler, als dass die Gegend ohnehin schon als wald­brand­ge­fährdet gilt.

Abge­sperrte Anlagen ersetzen Stück für Stück die Land­schaft. (Foto: Malte Seiwerth)

Ein Para­dies für erneu­er­bare Energien

In der Umwelt­rech­nung der regie­renden Politiker*innen finden diese Bedenken und Probleme kaum Beach­tung: Grosse und kleine Ener­gie­un­ter­nehmen aus der ganzen Welt strömen auf den chile­ni­schen Markt und bauen Solar- und Wind­kraft­an­lagen. Unter ihnen das fran­zö­si­sche Ener­gie­un­ter­nehmen Engie, der deut­sche Ener­gie­riese RWE, aber auch Zulie­ferer wie der chine­si­sche Konzern Huawei und die deut­sche Firma Siemens sind am Boom beteiligt.

Der chile­nisch-fran­zö­si­sche Poli­tik­wis­sen­schaftler Antoine Maillet beob­achtet das Phänomen bereits seit mehreren Jahren. Er sitzt in einem Café in Sant­iago und trinkt einen Eistee, draussen sind es über 30 Celsius. Alles begann mit einer Strom­markt­re­form im Jahr 2015 erzählt Maillet, „das Ziel war es, den Markt weiter zu öffnen“. Dafür führte die Mitte-Links-Regie­rung unter Michelle Bachelet neue Markt­me­cha­nismen ein, die dafür sorgten, dass Unter­nehmen mit unre­gel­mäs­sigen Ener­gie­quellen wie Solar oder Wind, bessere Zulie­fer­ver­träge abschliessen konnten. Zuvor musste ein Zulie­ferer eine konstante Ener­gie­ver­sor­gung über 24 Stunden hinweg sicherstellen.

„Damals dachte aller­dings niemand, dass dadurch die erneu­er­baren Ener­gien einen so starken Boom ausge­löst würden“, meint Maillet, „zusammen mit dem Reform­paket wurden sogar Mindest­pro­zent­werte für erneu­er­bare Ener­gien einge­führt“. Teil­weise hohe Strafen wurden ange­setzt für Konzerne, die nicht genü­gend erneu­er­bare Ener­gien in ihrem Strommix hatten. Doch diese Werte wurden schnell über­troffen: Statt Strafen zu zahlen, bemerkten die Unter­nehmen, dass erneu­er­bare Ener­gien viel Profit abwerfen. Maillet führt das auf zwei Phäno­mene zurück: Ab 2010 sank der Preis für Solar­pa­nels und Wind­kraft­an­lagen rasant. Zudem kennt der chile­ni­sche Markt kaum Regu­lie­rungen, etwa wenn es um den Schutz der Land­schaft oder Abstände zu Häusern geht. Das Land wurde zu einem Eldo­rado für erneu­er­bare Energien.

Doch der Poli­tik­wis­sen­schaftler sieht darin keinen Grund zur Freude. Er gibt zu bedenken, dass in den vergan­genen Jahren der Anteil erneu­er­barer Ener­gien am Strommix zwar enorm gestiegen, doch gleich­zeitig auch der Bedarf an Strom so stark gewachsen ist, dass kaum fossile Ener­gie­träger vom Netz genommen werden konnten. „Ein wirk­li­cher Wandel ist ohne eine Reduk­tion des Ener­gie­be­darfs an sich nicht möglich“, ist sich Maillet sicher.

Doch derzeit geschieht genau das Gegen­teil. Denn Chile plant zu einem der welt­weit grössten Ener­gie­ex­por­teuren zu werden. Schon bald soll der Strom aus Gemeinden wie La Estrella in Form von Wasser­stoff nach Europa gelangen.

Der chile­ni­sche Ener­gie­mi­ni­ster Diego Pardow mit der euro­päi­schen Kommis­sio­närin für Energie Kadri Simons. (Foto: Bogdan Hoyaux/Europäische Union)

Chile als Ener­gie­lie­fe­rant für den globalen Norden

„Grüner Wasser­stoff ist Chiles Zukunft“, verkün­dete im März der chile­ni­sche Ener­gie­mi­ni­ster Diego Pardow auf seiner Euro­pa­reise. Er will mehr Investor*innen ins Land holen und schloss Verträge ab, die den zukünf­tigen Trans­portweg frei machen sollen. Über Hamburg und Rotterdam soll ab 2026 Ammo­niak und später auch Wasser­stoff als Ener­gie­träger von Chile nach Europa gebracht werden. In einer Kolumne der Wirt­schafts­woche hielt der Mini­ster fest: „Deutsch­land kann bei der Ener­gie­ver­sor­gung auf Chile zählen.“ Über den Rhein wäre auch die Schweiz zulie­ferbar, ein neues Terminal in Basel soll genau dafür einge­richtet werden.

Die chile­ni­sche Wasser­stoff­stra­tegie kommt aus der Feder des ehema­ligen rechten Präsi­denten Seba­stián Piñera: In einem Bericht hielt dieser im Jahr 2020 fest, chile­ni­scher Wasser­stoff sei aufgrund der geogra­fi­schen Lage des Landes der welt­weit günstigste, das Poten­zial gleich­zeitig enorm.

Seitdem wird gebaut und das vor allem mit privaten Mitteln. Der Staat unter­stützt die Vorhaben teil­weise mit Subven­tionen und der Schen­kung öffent­li­cher Ländereien.

Die dafür für den Boom verant­wort­li­chen Unter­nehmen verei­nigen sich unter der ACERA, der Wirt­schafts­kammer für Erzeuger und Verteiler von erneu­er­baren Ener­gien. Dessen Direk­torin Ana Lia Rojas trifft sich derweil mit Politiker*innen aus aller Welt. Im Januar 2023 kam sie mit Bundes­kanzler Olaf Scholz zusammen, just als dieser bei einem Chile­be­such über erneu­er­bare Ener­gien sprach und ein Pilot­pro­jekt von Porsche und Siemens für synthe­ti­sches Benzin, auch E‑Fuel genannt, ganz im Süden des Landes lobte.

Im Gespräch mit das Lamm listet Rojas gigan­ti­sche Wachs­tums­zahlen auf. Allein im Jahr 2022 wurden 155 neue Anlagen für erneu­er­bare Ener­gien an das natio­nale Strom­netz ange­schlossen. „Das entspricht 3’954 Mega­watt!“, unter­streicht die Direk­torin. Sofern die Anlagen durch­ge­hend in Betrieb wären, würde diese Ener­gie­menge ausrei­chen, um drei Städte von der Grösse Zürichs über ein gesamtes Jahr hinweg mit Strom zu versorgen. Das seien gute Zahlen, meint Rojas, denn sie ermög­lichten es Chile, umwelt­schäd­liche Gas- und Kohle­kraft­werke abzuschalten.

Doch auch ihr ist die Kritik am schnellen Wachstum bekannt. Ange­spro­chen auf die Proteste von Anwohner*innen meint Rojas: „Die Prin­zi­pien der ACERA sehen ein umwelt­freund­li­ches Wachstum vor“. Doch alle mensch­li­chen Akti­vi­täten hätten Auswir­kungen auf die Umwelt, gibt sie zu bedenken.

Rojas meint aber: „Die Menge an Fläche, die wir brau­chen, um allein in Chile die Energie aus Kohle zu ersetzen, ist monu­mental.“ Dafür seien 300’000 Hektar Land nötig, mehr als das Vier­fache der bisher verwen­deten Fläche. Um das Problem zu lösen, bräuchte es einen gesell­schaft­li­chen Konsens, wo Projekte für erneu­er­bare Ener­gien gebaut werden sollen und wo nicht. Und genau diese Regle­men­tie­rung vonseiten des Staates fehlt bislang gänz­lich. Im April 2023 begann die derzei­tige Regie­rung erste Treffen mit lokalen Gemein­schaften zu orga­ni­sieren, um eine „gemein­same Ener­gie­stra­tegie zu entwickeln“, wie es offi­ziell heisst.

Erst handeln, dann fragen

„Erst jetzt, nachdem schon hunderte Projekte am Laufen sind, soll die Bevöl­ke­rung einge­bunden und Stan­dards entwickelt werden“, kriti­siert Lucío Cuenca, eine Kory­phäe des chile­ni­schen Umwelt­schutzes, dieses Vorgehen. Cuenca sitzt im Büro der Umwelt­or­ga­ni­sa­tion OLCA, Latein­ame­ri­ka­ni­sches Obser­va­to­rium für Umwelt­kon­flikte, in Santiago.

Seit Jahren hätten sie beob­achten können, wie das chile­ni­sche Strom­netz und die erneu­er­baren Ener­gien ausge­baut wurden, sagt Cuenca. „Weit über die eigent­li­chen Bedürf­nisse hinaus“, fügt er an. „Das Ziel war stets der Export von Energie, zuerst per Leitung in die Nach­bar­länder und nun nach Europa.“

Der lang­jäh­rige Akti­vist sieht ein Grund­pro­blem in der chile­ni­schen Wirt­schaft: „Seit Jahr­zehnten wurde die Natur für den Export von Rohma­te­ria­lien ausge­beutet, dies hat dazu geführt, dass die lokalen Ökosy­steme extrem gestört sind.“ Auf Ortschaften wie La Estrella, die bereits heute unter einer Indu­strie leiden, kommen nun weitere Projekte zu. Und das sei erst der Anfang: Für den Export von Wasser­stoff ist derzeit der Bau neuer Hafen­an­lagen, Produk­ti­ons­stätten und Wasser­ent­sal­zungs­an­lagen über das ganze Land hinweg geplant. „Die ökolo­gi­schen Folgen davon werden kaum beachtet.“

„Wir bezahlen für den Ener­gie­wandel des globalen Nordens“, resü­miert Umwelt­schützer Cuenca. Man würde nicht über weniger Ener­gie­ver­brauch reden, sondern mit aller Kraft versu­chen, den Wohl­stand des Globalen Nordens aufrecht zu erhalten. Als Beweis nennt er den Pilot­ver­such für „grünen“ Treib­stoff von Siemens und Porsche. „Der Treib­stoff soll die Renn­wagen von Porsche antreiben“, sagt Cuenca, stoppt und macht einen Gesichts­aus­druck, der die Ironie der Geschichte aufzeigen soll.

Der Ruf ist zerstört

Osorio fährt mit seinem kleinen Suzuki zu seinem Haus, unweit davon stehen die Bienen­stöcke. Er erzählt: „Ich kenne die Gegend gut und weiss daher, welche Blüten meine Bienen ansteuern.“ Es seien vor allem wild wach­sende Pflanzen, denn in der Gegend gibt es kaum Ackerbau.

Osorio hat Angst um seine Bienen. In unmit­tel­barer Nähe seines Hauses soll eine neue Hoch­span­nungs­lei­tung gebaut werden. Mit wissen­schaft­li­chen Studien der chile­ni­schen Univer­sidad de Talca belegt Osario, dass die magne­ti­sche Span­nung der Leitungen zu Desori­en­tie­rung und Tod der Bienen führen kann. In La Estrella würde sich die Indu­strie ausbreiten, ohne auf die lokale Bevöl­ke­rung acht­zu­geben, sagt er.

Damit meint er nicht nur die Ener­gie­un­ter­nehmen. La Estrella ist eigent­lich für seine Schwei­ne­indu­strie bekannt. Der beis­sende Geruch dieser Indu­strie hängt wie ein dicker Teppich über dem Dorf. Es ist ein Problem, gegen das sich Osorio und seine Mitstreiter*innen seit Jahren wehren. Mehr als eine halbe Million Schweine werden in der Gemeinde in Ställen gehalten, erzählt eine Fern­seh­re­por­tage aus dem Jahr 2019.

So unter­schied­lich sie auf den ersten Blick auch zu sein scheinen, Dorf­be­wohner Osorio sieht Zusam­men­hänge zwischen Ener­gie­in­du­strie und Schwei­ne­zucht. „Die Betreiber binden die lokale Bevöl­ke­rung nicht ein, bezahlen kaum Steuern in der Gemeinde und beschäf­tigen mehr­heit­lich Arbeiter*innen von ausser­halb. Sie nutzen die günstige Lage einer verarmten Gemeinde in rela­tiver Nähe zur Gross­stadt Sant­iago schlichtweg aus.“

Leid­tra­gende sind Dörfer wie das von Osorio. Er meint, es wäre toll, die Entwick­lung in Einklang mit den Bedürf­nissen der Bevöl­ke­rung zu bringen. Es gäbe genü­gend andere Orte, wo erneu­er­bare Ener­gie­er­zeuger aufge­stellt werden könnte: „Warum in der Nähe von Häusern?“, fragt er sich. Dialog scheint jedoch kaum möglich. Denn wer sich wie Osorio gegen das Vorgehen der Konzerne wehrt, bekomme Repres­sion zu Spüren. „Wir haben uns mit anderen Personen aus der Gemeinde zusam­men­ge­schlossen. Kurz nachdem wir aktiv wurden, entliess die Gemein­de­ver­wal­tung mich und eine weitere Mitstrei­terin.“ Seitdem bekommt er keine Arbeit mehr, der dama­lige Bürger­mei­ster, sagt Osorio, habe sich persön­lich darum geküm­mert, seinen Ruf zu zerstören.

Die Repres­sion scheint zu wirken, die Kritik dagegen findet kaum Anklang: Im Februar 2023 kürte die Regie­rung La Estrella zum Zentrum der erneu­er­baren Ener­gien in Chile. Allein in der Gemeinde befinden sich sechs Projekte in unmit­tel­barer Planung oder bereits im Bau.


Jour­na­lismus kostet

Die Produk­tion dieses Arti­kels nahm 23 Stunden in Anspruch. Um alle Kosten zu decken, müssten wir mit diesem Artikel CHF 1456 einnehmen.

Als Leser*in von das Lamm konsu­mierst du unsere Texte, Bilder und Videos gratis. Und das wird auch immer so bleiben. Denn: mit Paywall keine Demo­kratie. Das bedeutet aber nicht, dass die Produk­tion unserer Inhalte gratis ist. Die trockene Rech­nung sieht so aus:

Löse direkt über den Twint-Button ein Soli-Abo für CHF 60 im Jahr!

Ähnliche Artikel